Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Ulrike Matzer

Das Porträt neu interpretieren

Cora Pongracz. Das fotografische Werk. Hg. von Marie Röbl und Peter Coeln / Fotosammlung OstLicht. Wien: Schlebrügge Editor, 2016. 22,4 x 29,6 cm, 200 S., broschiert, 348 Abbildungen in S/W, 32 Euro.

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 143, 2017

„Wer ist interessanter, die Photos oder die Photographin“ – diese leicht provokante, selbstbewusste Frage hatte Cora Pongracz auf einem Zettel notiert, als ihre erste Monografie sich in der Konzeptionsphase befand. Abgedruckt wurden ihre Zeilen in dem Buch,[1] an dessen Produktion ich damals beteiligt war, letztlich nicht, doch steht dieser Satz symptomatisch sowohl für die Haltung der Fotokünstlerin wie für ein grundlegendes Problem der Rezeption ihres Werks. Denn die 2003 verstorbene Pongracz war nicht nur eine Porträtistin der Wiener Avantgarde der 1970er-Jahre; parallel dazu arbeitete sie in konzeptuellen Serien konsequent an der Dekonstruktion fotografischer Repräsentation. Ihre Autorschaft gegenüber den Fotografierten behauptend vermied sie seit je, die Personen in Titeln zu nennen, ja, vermied sie es überhaupt, ihren Bildern Titel zu geben, und sie bestand auch bei der letzten Publikation zu ihren Lebzeiten noch mit Vehemenz darauf. Obwohl durch eine psychische Erkrankung stark eingeschränkt, wusste sie bis zuletzt sehr genau, was sie wollte, und erinnerte sich präzise an jedes aufgenommene Bild. Kurz nach der großen Werkpräsentation in der Innsbrucker Galerie im Taxispalais, zu der besagtes Buch als Katalog erschien, wurde Pongracz auch der österreichische Würdigungspreis für künstlerische Fotografie verliehen. Was ihr einigen Auftrieb gab und das öffentliche Interesse an ihrem Werk neu erweckte, nachdem es in den 1980er- und 90er-Jahren relativ still um sie geworden war.

Umso lautere Töne waren dafür von mehreren Seiten zu hören, als im Herbst 2015 in der Wiener Galerie für Fotografie OstLicht die Retrospektive Cora Pongracz. Österreichische Avantgarde der 1970er zu sehen war. Nicht nur die Tatsache, dass die Schau ausschließlich aus eigens dafür angefertigten Prints bestand, sorgte für heftige Kritik. Auch für die Auflage einer Edition ausgewählter Motive musste der Leiter Peter Coeln sich den Vorwurf der Geschäftemacherei gefallen lassen. Wobei eigentlich bekannt sein sollte, dass die von ihm aufgebaute Fotosammlung im Grunde ein reines Liebhaberprojekt ist, das sich über seinen Handel mit historischen Kameras finanziert. Aus diesen Mitteln wurde auch der Nachlass von Pongracz im selben Jahr erworben – für eine enorme Summe offenbar. Dieses Konvolut ist deswegen von Wert, weil es den kompletten Negativbestand – rund 42.000 Stück – umfasst, neben 1.100 Abzügen. Sein Ankauf für eine professionell geführte, öffentlich zugängliche Einrichtung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden – wurde das fotografische Erbe von Pongracz dadurch vor einer Zerschlagung bewahrt.

Dazu muss man wissen, dass die Fotografin selbst seit den 1980er-Jahren nicht mehr in der Lage war, sich um ihr Archiv zu kümmern. Auf Initiative von Silvia Eiblmayr nahm sich der Fotohof Salzburg Mitte der 1990er-Jahre dessen an und betreute die ungeordneten Materialien nach Maßgabe seiner Möglichkeiten. Für mehrere Ausstellungen in den folgenden Jahren, vor allem die eingangs erwähnte Überblicksschau, fand eine tranchenweise Aufbereitung statt. Eine systematische Katalogisierung und Recherche gestatteten die dortigen Mittel jedoch nicht. Zu dem Zeitpunkt, als Pongracz wieder verstärkte Beachtung zugekommen war, verstarb sie überraschend. Drei Jahre danach zog zudem ihr Sohn als legitimer Erbe den Nachlass unverhofft ab. Dass das Konvolut ein knappes Jahrzehnt später über zwei Zwischenhändler letztlich komplett und unbeschadet Eingang in eine nach musealen Kriterien geführte Fotosammlung gefunden hat, ist so gesehen als Glücksfall zu betrachten – ebenso wie die darauf sofort in Angriff genommene wissenschaftliche Auseinandersetzung damit.

Die Ergebnisse dieser umfassenden, ja beispielhaften Aufarbeitung finden sich in der vorliegenden Publikation versammelt. Die Leiterin der Sammlung, Marie Röbl, der dies oblag, ist zugleich Mitherausgeberin und Hauptautorin dieses Buchs, in dem ein Œuvre von beeindruckender Qualität und Fülle ausgebreitet wird. Die vorangegangene Schau im Haus hatte sich wohl als hilfreich erwiesen, um weitere Kontakte zu Personen aus Poncracz’ Umfeld knüpfen. Zur Kontextualisierung des Werks ist deren Auskunft unabdingbar, denn Textdokumente enthält das Archiv so gut wie keine, und ein von der Künstlerin geführtes Verzeichnis der Werke existiert ebenso wenig wie eine detaillierte Bio- oder Bibliografie. Das Buch, in dem einige berührende und scharfsinnige Texte von Pongracz’ WeggefährtInnen abgedruckt sind, ist in drei chronologische Teile gegliedert. Neben der Werkphase der 1970er-Jahre, der sich einprägsame Bilddokumente der Wiener Kunst- und Literaturszene verdanken, kommen hier erstmals auch ihre Anfänge in den Blick. Schon in den frühesten Arbeiten finden sich die Charakteristika ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema Porträt; die Vorliebe für kommunikative Situationen mit dem Vis-à-vis ist ebenso sichtbar wie ein unkonventionelles Ablichten der Personen in beiläufigen Momenten, etwa dem Sprechen. 1943 als Kind emigrierter Eltern in Buenos Aires geboren absolvierte Pongracz im Nachkriegsdeutschland ihre Lehre. An diese schließt der Besuch der privaten Fotoschule Martha Hoepffners im Taunus an, die die Ideen der Subjektiven Fotografie vermittelt. Die fotokünstlerische Orientierung wird auch danach an der Bayrischen Staatslehranstalt für Photographie forciert, deren Direktorin Hanna Seewald zugleich im Porträtfach unterrichtet. Diese Fokussierung auf das Prominentenbildnis und die Hinwendung zu autorenfotografischen Prinzipien werden für die junge, bald mit Preisen bedachte Pongracz prägend. Früh sammelt sie Erfahrungen in „angewandter Fotografie“, ist bildjournalistisch für die renommierte deutsche Presse ebenso tätig wie für Reiseführer, was zahlreiche Auslandsaufenthalte mit sich bringt. Schon hier kristallisiert sich ihr Sinn für soziale Felder, zeigen sich Zweifel an etablierten Auffassungen von Fotografie. Von ihrer Lust am Experimentieren zeugt eines der frühesten Selbstporträts (zugleich das Cover des Buchs), für das sie sich mit ihrer Rolleiflex in einem komplex gespiegelten Setting inszenierte.

Um diese seit je vorhandene selbst- und medienreflexive Haltung zu wissen, ist wichtig, wenn man die bekannten Porträts der vorwiegend männlichen Künstler des Wien der 1970er-Jahre betrachtet. Keineswegs war sie nur als anonyme Dokumentaristin von Aktionen Otto Muehls oder der performativen Selbstdarstellungen eines Friedensreich Hundertwasser, Arnulf Rainer oder Franz West am Werk. Auf ihrem eigenen künstlerischen Anspruch beharrte sie dabei seit je; damit einhergehende Verschiebungen im AutorInnen- und Werkbegriff wurden in diesen Jahren generell virulent. Noch viel deutlicher zeigt sich ihre Eigenständigkeit in den drei Fotobüchern, die in diesen Jahren entstanden – und die in ihrem Versuch, dem gültigen Einzelbild entgegenzuwirken, auch heute noch maßgeblich sind. Die Fotogeschichte Martha Jungwirth – Franz Ringel (1972) besticht durch ein interessantes Konzept: In zwei gegengleich gebundenen Teilen werden in narrativen Sequenzen das soziale und private Umfeld der zwei Malenden porträtiert. Eine Ausdehnung dieses seriellen Konzepts unternimmt Pongracz 1974 in ihrer vermutlich bekanntesten Arbeit erweiterte portraits – frauen in wien, wo auf je zwei Bildnisse von Frauen fünf Motive folgen, die diese selbst ausgesucht hatten. Das teilweise Delegieren im Finden der Sujets, die fortgesetzte Auseinandersetzung mit Fragen der Identität und das Austesten des Potenzials, das die Dreiecksbeziehung Fotografin / Modell / Apparat in sich birgt, zeugt von einem reflektierten Vorgehen, das damals so aktuell war wie es dies heute noch ist.

Eben das herauszustellen, ist das Verdienst dieses Buchs, dessen Texte analytisch klug, teils literarisch, immer jedoch in anregendem Duktus verfasst den Eigensinn von Pongracz’ Person mit ihrer Eigenständigkeit als künstlerische Fotografin verquicken. So werden hier auch die Serien ihrer letzten beiden in psychiatrischen Pflegeheimen verbrachten Lebensjahrzehnte in der Konsequenz ihres Tuns vor Augen geführt. Das leicht Verschobene, Unscharfe, Verschleierte in den Bildern der Serie Besondere Portraits (1981) führt bewusst in „Zonen der Verstörung“. Früh mit den Ideen der Anti-Psychiatrie-Bewegung vertraut, war Pongracz’ eigenes Leben seit je eines „zwischen Inspiration und Irrsinn“, wie Felix de Mendelssohn es in seinem Nachruf im Buch formuliert. Zunehmend von Psychosen gebeutelt überschritt sie mit ihren Porträts der Menschen um sie (so ein weiterer Serientitel) bewusst die Grenzen zwischen den Sphären. Eine Grenze, die nicht zuletzt mit fotografischen Aufzeichnungsverfahren im 19. Jahrhundert überhaupt erst etabliert worden war. Die Verwerfungen des (post)modernen Ichs, die Cora Pongracz wohl intensiver als andere erlebte, hat sie bis zuletzt in Form schräger Blicke und Brüche in ihrem bildlichen Schaffen inszeniert.

 

 

 


[1]Cora Pongracz,Fotografie, hg. von Silvia Eiblmayr / Galerie im Taxispalais, Innsbruck sowie Rainer Iglar und Michael Mauracher / Fotohof Salzburg. Salzburg 2001.

 

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