Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Anton Holzer

Sieben und Schöpfen: Enzyklopädien der Fotografie

Hans-Michael Koetzle: Fotografen A-Z, Köln: Taschen Verlag, 2011, 32,5 x 25,5 cm, 444 S., zahlreiche Abb. in Farbe und S/W, gebunden, 51,40 Euro

Rückblende. Die Fotosammlung der Neuen Galerie Graz, hg. von Christa Steinle, Peter Peer und Karin Buol-Wischenau, Wien: Folio Verlag, 2011, 28,5 x 22 cm, 608 S., Abb. in Farbe und S/W, gebunden, 49,90 Euro

Erschienen in: Fotogeschichte 121, 2011

„Wo über Fotografie gesprochen wird, braucht es solide Daten und Fakten – nicht zuletzt zu den dahinter stehenden Künstlern.“ So schreibt Hans-Michael Koetzle im Vorwort zu seinem Band Fotografen von A-Z, das jüngst im Taschen Verlag erschienen ist. Der Münchner Autor, Journalist, Fotopublizist und Kurator hat sich – neben seinen monografischen Publikationen, etwa zu René Burri oder zur Zeitschrift Twen – seit Jahren der enzyklopädischen Darstellung der Fotogeschichte, vor allem des 20. Jahrhunderts, gewidmet. Im deutschen Sprachraum gehört sein 2002 bei Knaur erschienenes Lexikon der Fotografen 1900 bis heute – neben Reinhold Mißelbecks Prestel-Lexikon der Fotografen. Von den Anfängen 1839 bis zur Gegenwart – zum Standardwerk.  Zu den wichtigsten (gedruckten) Lexika, die für den deutschsprachigen Raum relevant sind, gehören daneben: Timm Starls 2005 erschienenes Lexikon zur Fotografin in Österreich 1839 bis 1945 und das 2010 im European House of Photography in Bratislava erschienene zweibändige englischsprachige Überblickswerk The History of European Photography 1900-1938, das ebenfalls umfassende biografische Einträge sowie eine Literaturübersicht u.a. zu den deutschsprachigen Ländern enthält. Die Folgebände dieses Werkes für die Jahre 1939 bis 2000 sollen in den kommenden Jahren folgen.

Diese Enzyklopädien sind als Quellensammlungen, Recherchemittel und Nachschlagewerke unverzichtbar. Und dennoch: Für die praktische Fotoforschung reichen sie nicht aus. Sie müssen um historische Nachschlagewerke, fremdsprachige Lexika, Sammlungsverzeichnisse, Sammlungen im Internet[1] und natürlich eigene Forschungen in gedruckten und ungedruckten Quellen ergänzt werden. Warum hält sich die Zahl der fotohistorischen Enzyklopädien – zumindest im deutschsprachigen Raum[2] – in derart engen Grenzen? Vermutlich aus mehreren Gründen: Weil die Sammel- und Recherchearbeit, auf denen sie fußen, eine extrem aufwändige, anstrengende, zeitraubende und teure Angelegenheit ist. Immer schwieriger ist es für eine einzelne Person, die historische und aktuelle Entwicklungen, Ausstellungen, Forschungen und Publikationen im ausgedehnten Feld der Fotografie zu überblicken. Zudem sind die mit einer Enzyklopädie verbundenen Entscheidungen (begründete Auswahl, fundierte Einordnung und Gewichtung, die letztlich auch zur Kanonisierung führen) angreifbar. Und schließlich ist die Produktion solcher Werke, vor allem wenn sie aufwändig bebildert sind, sehr teuer.

 Im folgenden sollen zwei Publikationen vorgestellt werden, die einen enzyklopädischen Zugang zur Fotografie(geschichte) wählen und die in ihrer Konzeption, Reichweite und Machart ganz unterschiedliche Wege gehen: Hans-Michael Koetzles Lexikon Fotografen von A-Z im Kölner Taschen Verlagund den Bestandskatalog Rückblende. Die Fotosammlung der Neuen Galerie Graz, der von Christa Steinle, Peter Peer und Karin Buol-Wischenau im Wiener Folio Verlag herausgegeben wurde. Verschiedenartiger könnten zwei Bücher nicht sein. Hier ein Lexikon mit globalem Anspruch, das beansprucht, die weltweit wichtigsten Fotografen zu präsentieren und das zugleich auf Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch erscheint. Dort ein Band über eine einzelne Fotosammlung in einer mittelgroßen österreichischen Stadt. Die beiden Bücher markieren in gewisser Weise die beiden Eckpunkte enzyklopädischen Arbeitens. Die Abgrenzung und Eingrenzung von wichtigen Fotografen im globalen Maßstab auf der einen Seite und die detaillierte Erfassung möglichst aller Fotografen und Werke in einer einzigen Sammlung auf der anderen. Die oppositionellen Schlüsselbegriffe lauten: Auswahl vs. Aufzählung, sieben vs. schöpfen. Beide Formen der Recherche und der Darstellung sind wichtig, Überblick ebenso wie Tiefenbohrung.

Koetzles neuer Überblick über die Fotografen des 20. Jahrhunderts folgt, vom Konzept her, seinem Vorgängerwerk: klare alphabetische Ordnung, Lebensdaten, knappe fotohistorische Einordnung, ein griffiges Zitat (dieses fehlte im Knaur-Band), ein Überblick über wichtige Ausstellungen und eine Bibliografie (mit hauptsächlich Monografien und leider sehr wenigen Zeitschriftenaufsätzen). Und im Anhang ein Register. Der Knaur-Band aus dem Jahr 2002 hatte 549 Einträge, über 1000 Abbildungen und kostete rund 100 Euro. Der vorliegende Band hat etwa 400 Einträge und etwa ebenso viele Bilder und kostet (aufgrund der weit höheren Auflage) nur halb soviel. Obwohl merkwürdigerweise weder Autor noch Verlag auf die Vorgängeredition hinweisen, wird schnell klar, dass das neue Lexikon zu einem großen Teil auf den Texten des alten beruht. Diese wurden oft eins zu eins übernommen und lediglich aktualisiert. Der internationalen Zielgruppe des Werkes entsprechend wurde die Auswahl der vorgestellten Protagonisten modifiziert: die Anzahl der deutschsprachigen Fotografen wurde etwas zurechtgestutzt und der Schwerpunkt noch stärker auf den angelsächsischen, französischen, spanischen und italienischen Raum gelegt. Auch Japan wurde stärker berücksichtigt, ein paar wenige Fotografen aus Lateinamerika und Afrika finden Eingang in das Konvolut, die osteuropäische Fotografie wurde bis auf ein paar wenige Figuren leider nur ganz am Rande berücksichtigt. Aufgenommen wurden Fotografen, die, so der Autor, „international rezipiert, präsentiert und diskutiert“ werden und wurden.

Ähnlich wie das Vorgängerbuch ist das neue Lexikon keine trockene Sammlung von Textinformationen, sondern es ist, noch weitaus stärker als dieses, eine Art Bildlesebuch geworden. Besonders hervorzuheben ist das überaus gelungene grafische Konzept des Bandes (es stammt von Andy Disl), das auch die Illustrationen umfasst. Diese sind nicht, wie bei Lexika oft üblich, eingefügt, um die Textmasse zu gliedern und für das Auge bewältigbar zu machen. Die Bilder stammen aus Fotobänden, Zeitschriften und Magazinen (die meisten davon aus der Sammlung des Autors, viele sind begehrte Sammlerstücke und schwer zugänglich, alle sind von Hans Döring ausgezeichnet fotografiert) und erzählen eine ganz eigene Geschichte der Fotografie, Koetzle nennt sie eine „Geschichte der Buchkunst in Fotografie, Typo und Design“. Damit umschiffen Autor und Verlag elegant die urheberrechtliche Zwickmühle und es gelingt ihnen zugleich, die Begrenzung auf den Vintage Print als alleiniges Anschauungsmaterial für Fotografie zu durchbrechen. Das Buch von Hans-Michael Koetzle ist also nicht nur ein übersichtliches und sehr brauchbares Lexikon, sondern auch ein spannender, hervorragend gedruckter und gestalteter Bildband über gedruckte Fotografie im 20. Jahrhundert, der zu vielen neuen Entdeckungen einlädt.

Ganz anders aufgemacht ist der neue Sammlungskatalog der Neuen Galerie Graz. Diese ist kein typisches Fotomuseum. Sie entstand 1941 durch Teilung der 1811 gegründeten Landesbildergalerie des Joanneums. Während die Alte Galerie die Zeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts abdeckte, sollte die Neue Galerie für das 19. Und 20. Jahrhundert zuständig sein. Erst ab Anfang der 1990er Jahre wurde (unter der Leitung von Werner Fenz, Peter Weibel und Christa Steinle) aus der bislang recht verschlafenen Institution nach und nach ein rühriges zeitgenössisches Museum. Die Fotosammlung erst in den letzten drei Jahrzehnten aufgebaut, sie entstand (anfangs recht unsystematisch) durch Eingliederungen und Übernahmen aus anderen Sammlungen und in den letzten Jahren, v.a. ab 1993, auch durch systematische Ankäufe. Die historischen Bestände stammen zu einem Gutteil aus dem Kupferstichkabinett des Landesmuseums Joanneum, schwerpunktmäßig umfassen sie in Graz tätige Lichtbildner (etwa Leopold Bude oder Wilhelm Helfer). Allerdings decken sie bei weitem nicht alle wichtigen Grazer Fotografen des 19. Und frühen 20. Jahrhunderts ab. Durch Ankäufe ab 1993 und durch Schenkungen kamen vermehrt auch Beispiele internationaler bekannter Fotografen (von Rodtschenko über Umbo bis Jochen Gerz, um nur einige wenige zu nennen) und österreichische Arbeiten, etwa des Wiener Aktionismus (Schwarzkogler, Muehl, Nitsch, Brus), ans Haus. Einen besonderen Schwerpunkt bildet daneben die moderne österreichische/Grazer Fotografie der 1920er und 30er Jahre und der Nachkriegszeit (etwa mit Arbeiten von Franz Senkinc, Alexander Stern, von dem das Umschlagmotiv stammt und dem die Neue Galerie mit monografischen Ausstellungen zur Wiederentdeckung verholfen hat, Erich Kees oder Eckart Schuster). Gut vertreten ist auch die österreichische Gegenwartsfotografie.

Der Sammlungskatalog der Neuen Galerie Graz unterscheidet sich auf der ersten Blick vom Konzept her nicht sonderlich von anderen Sammlungskatalogen, die in den letzten Jahren erschienen (etwa des Katalogs der Fotografischen Sammlung im Folkwang Museum Essen oder jenem über Sammlung Agfa im Musum Ludwig Köln). In allen diesen Fällen geht es, zumindest vom Anspruch her, darum, eine Sammlung in ihrer gesamten Breite sichtbar zu machen und zugleich um den Versuch, anhand der eigenen Bestände eine übergreifende Fotogeschichte zu erzählen. Beide Ansprüche löst der Grazer Katalog mit einer klugen thematischen Gliederung und mehreren übergreifenden Texten ein. Peter Peer schreibt über die Geschichte der Fotosammlung, Peter Weibel steuert einen erstmals 1981veröffnetlichten Beitrag über die Geschichte der Künstlerfotografie bei, der stellenweise deutlich in die Jahre gekommen ist und Werner Fenz beschreibt in einem (ebenfalls recyclten, aber immer noch sehr informativen Text, 1996/2010) die jüngere Foto- und Mediengeschichte der Steiermark. Soweit, so gut.

Wirklich spannend wird das Buch im letzten Viertel, ab Seite 452. Das eigentliche Herzstück des Katalogs ist ein über 50seitiges, sehr sorgfältig zusammengestelltes Werkverzeichnis, das mit ausführlichen biografischen Hinweisen und Literaturangaben angereichert ist. Es wurde in dreijähriger Arbeit erstellt und stammt aus der Feder von Angela Fink (biografische Angaben) und Peter Peer (Werkverzeichnis). Dieser Anhang geht weit über das in vielen Bestandskatalogen Übliche hinaus. Es ist ein beeindruckendes Minilexikon, das dichte Informationen über die gesammelten Werke, die Fotografen und ihre Rezeption bietet. Sogar Hinweise über die Herkunft und Erwerbsgeschichte der Bilder, ein meist sorgsam gehütetes Geheimnis, finden sich hier. Einige österreichische Fotografen, die kaum anderswo dokumentiert sind, finden hier zum ersten Mal einen breiteren Niederschlag. Der Grazer Katalog bietet also einen mehrfach gestaffelten Mehrwert: es ist ein schön aufgemachtes- Bildlesebuch über die Geschichte der internationalen, der österreichischen und der steirischen Fotografie, ein Buch über die Geschichte einer einzelnen Sammlung und nicht zuletzt auch ein dichtes Lexikon, das auf überzeugende Weise das biografische und geschichtliche Gerüst hinter den Bildern zum Vorschein bringt. Schade ist nur, dass bei all dieser vorbildlichen Recherche und Anordnung am Ende die Kraft für ein umfassendes Register gefehlt hat. Es hätte den Lesern ein Suchinstrument geliefert, das für den Gebrauch als Handbuch und Lexikon unverzichtbar ist.

[1] Um nur zwei zu nennen: für Österreich: Timm Starls „Biobliobliografie zur Fotografie in Österreich 1839 bis 1945“ (online unter www.albertina.at); für die Schweiz: Markus Schürpfs Onlinedatenbank zur Fotogeschichte der Schweiz „FotoCh“ (http://www.foto-ch.ch/?a=home&lang=de)

[2] Auf Englisch erschienen zuletzt die teilweise sehr unzuverlässige ( vgl. Fotogeschichte, Heft 107, 2008) Encycoledia of Nineteenth-Century Photography (in zwei Bänden) von John Hannavy bei Routledge (2008) und The Oxford Companion to the Photograph von Robin Lenman bei Oxford University Press (2005). Vgl. dazu Fotogeschichte, Heft 100, 2006).

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