Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Karin Berkemann

Wenn Architekten reisen

Friedhelm Grundmann auf Motivsuche in der europäischen Moderne

 

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 160, 2021

 

Friedhelm Grundmann (1925–2015) war, mit Verlaub, kein guter Fotograf. Aber er war ein guter Zeichner und ein noch besserer Architekt. Damit entwickelte er ein untrügliches Auge für Orte und Menschen. Über Jahrzehnte griff er auf Reisen gerne zur Kamera. Seine zu tausenden überlieferten Dias erlauben heute einen wertvollen Blick auf die Frage: Wo holte sich ein Architekt der Nachkriegsmoderne unterwegs seine Ideen? In den 1960er Jahren reüssierte Grundmann mit Kirchen und U-Bahnstationen. Obwohl er seine Entwürfe zumeist im Raum Hamburg verwirklichen konnte, ließ er sich dafür schon früh in halb Europa inspirieren: vom futuristischen Pavillon auf der Weltausstellung in Brüssel 1958 über eine Systemtankstelle bei Mailand 1956 bis zum perfekten Treppenschwung in Aarhus 1962.

Das Spektakel von Brüssel

Eine erste Spur legte Grundmann selbst in einem seiner letzten Interviews.[1] Für den Hamburger Bus- und U-Bahnhof „Barmbek“ hatte er mit Horst Sandtmann 1959 einen mutig freischwingenden Ausgang zum Wiesendamm hin gestaltet. Auf die Idee der Verfasserin, er hätte dabei maritime Bilder im Kopf gehabt, reagierte er 2014 mit einem Augenzwinkern. Dies sei bei seinen Kirchen häufig vorgekommen – allzu freudig entdeckten Gemeindeglieder darin christliche Symbolformen wie Zelt oder Schiff. „Ich habe dann nur geantwortet: ‚Es könnte auch ein Fisch sein. Vielleicht eine Flunder?'“ Die Idee zum Barmbeker Flugdach stamme ganz profan von der Weltausstellung in Brüssel 1958 mit ihren luftigen Pavillons.

Tatsächlich finden sich in Hamburg, wo der Grundmann-Nachlass verwahrt wird, die passenden Aufnahmen.[2] Ein Holzkoffer mit der Aufschrift „Architekturreisen“ umfasst mal selbst aufgenommene, mal vor Ort gekaufte Kleinbilddias der Zeit zwischen 1956 und 1962. Es sind jene Jahre, in denen der junge Architekt – nach einem vom Krieg unterbrochenen Studium in Breslau und später in München – die Mitarbeit bei Werner Kallmorgen aufkündigt und in Hamburg erste Schritte zur beruflichen Selbständigkeit wagt. Von 1956 bis 1963 sollte er eine Büropartnerschaft mit dem fast gleichaltrigen Kollegen Horst Sandtmann (1923–1994) eingehen, um anschließend sein eigenes baukünstlerisches Profil zu schärfen.

Mehrere Reisedias bezeugen einen Besuch der Interbau 57 und der Weltausstellung 1958. In beiden Fällen ist der Einfluss des Übervaters Le Corbusier unübersehbar, auf den sich Grundmann oft berufen wird: Da prangt das Modulor-Relief an der Wohnmaschine in Berlin, da wölbt sich die mehrfach verkrümmte Betonschale des Philips-Pavillons (Abb. 1) in Brüssel. In Letzterem zeigt man eine Diashow mit Motiven zwischen Städtebau und Atomkrieg – zu den Klängen des „Elektronischen Gedichts“ von Edgar Varèse.[3] Dieser spektakulären Inszenierung verleiht Grundmann mit einer ungekünstelten Perspektive und den ermüdeten, durchs Bild laufenden Messebesucher*innen lieber einen beiläufigen Charakter. Denn um 1960 holt er sich seine Inspiration bei den Großen der europäischen Moderne, um sie dann gekonnt auf die hanseatische Witterung und Gestimmtheit hin anzugleichen. Neben der gelungenen Bauform reizt ihn vor allem die Frage, wie er die Bedürfnisse vieler Nutzer*innen auf begrenztem Raum organisieren kann.

Der Gegenwind von London

Unter den „Architekturreisen“ finden sich auch innerdeutsche Motive, dazu zählen einige Berliner Apotheken-Schaufenster (Abb. 2) des Jahres 1961. Zeitgleich befasste sich das Büro Grundmann-Sandtmann mit Hamburger U-Bahnstationen. An den prominenteren Haltestellen wie „Hauptbahnhof Süd“ mussten dabei (Zwischen-)Ebenen mit Ladengeschäften eingerichtet werden. Entsprechend interessierte sich Grundmann in London 1961, neben touristischen Pflichtfotos von Melonenträger bis Doppeldeckerbus, für die kunstvolle Auslage des Herrenausstatters John Michael Ingram (Abb. 3). Obendrein besuchte er Highlights wie Alton Estate in Roenhampton.[4] Die Vorzeigesiedlung des sozialen Bauens entstand in den 1950er und frühen 1960er Jahren nach Entwürfen des LCC Architects‘ Department. Dabei zeigte das innovative Team in Alton East eher skandinavische Einflüsse (so war z. B. die Britin Rosemary Stjernstedt mit einem Schweden verheiratet), während in Alton West später Le Corbusier mit seiner Wohnmaschine zum Leitbild geriet. Wo sich die Londoner Hochhäuser auf dem Grundmann-Dia (Abb. 4) locker den grünen Hang emporstaffeln, kämpfen junge Familien mit ihren Kinderwagen bergauf mit dem Wind. Mit der Kamera unterzieht Grundmann diese gebauten Utopien in London einem Realitätstest.

Auch in seiner Wahlheimat konnte er mit der internationalen Fachwelt in Kontakt bleiben. In Hamburg besuchte er z. B. im Juni 1961 den Kirchbautag, die maßgebliche evangelische Konferenz für Architekten und Theologen. Unter dem Motto „Ökumene“[5] präsentierten verschiedene Referenten die protestantische Kirchenlandschaft von den USA bis ins Heilige Land. Auf Exkursionen bestaunte man gemeinsam die neuesten liturgischen Räume zwischen Hamburg und Lübeck. Kurz darauf wurden Grundmanns kirchliche Projekte (teils mit Sandtmann) in dieser Region sichtbar und bekannt. Ab 1967 gehörte er dann selbst zum Arbeitsausschuss des Kirchbautags, tat sich in der Folgezeit mit Publikationen und Lehraufträgen zum Thema hervor.

In seinen Reisefotografien um 1960 zeigte Grundmann noch kein überproportionales Interesse an Kirchen. Es waren zumeist die profanen Räume und Begegnungen am Wegesrand, die ihm bildwürdig erscheinen. 1956 dokumentierte er während einer Mailand-Tour z. B. eine der Agip-Systemtankstellen (Abb. 5). Mit den standardisierten Entwürfen des Architekten Mario Bacciocchi[6] brachte der Konzern zeichenhaft die Moderne selbst in entlegene Regionen. Auf dem Grundmann-Dia steht die Servicestation etwas verloren zwischen historischen Restbauten und viel Freifläche. Gerade werden zwei Automobile und ein Motorrad abgefertigt. Neben einem italienischen Fiat 1100 steht ein deutscher Exportkäfer, der vom Fotografen selbst stammen könnte. Kurz ausgestiegen, richtet er seine Kamera auf das Kommen und Gehen: Ein Tankwart verweilt in der offenen Tür, eine Leiter ist an der Seite angelegt. Es entbehrt nicht einer gewissen Modernekritik, dass die stromlinienförmige Tankstelle ungewohnt tiefenscharf ausfällt, während die Vorbeikommenden im Vordergrund wie im Geschwindigkeitsrausch verwischen.

Der Schwung von Aarhus

In den späteren Dias aus dem Koffer „Architekturreisen“ führt Grundmann die Kamera sicherer und wagt auch ambitionierte Perspektiven. Für das ikonische Rathaus im dänischen Aarhus, gestaltet 1942 von Arne Jacobsen und Erik Møller, wählt er 1962 gleich zweifach die bauhauswürdige Draufsicht: einmal aus dem Fenster auf die davor parkenden Autos (Abb. 6), einmal über das Geländer auf die im Treppenauge stehenden Menschen (Abb. 7).[7] Auch in den folgenden Jahrzehnten begleitet er seine Touren akribisch mit der Kamera. Was ihm beruflich nützlich erscheint, was sich als Gedächtnisspeicher und Inspirationsquelle, als Illustration für Vorträge, Lehrveranstaltungen und Publikationen verwenden lässt, bewahrt er auf – sortiert nach Ort und Zeit. Seine Bildfolge ergibt keine private Urlaubserzählung von der Anreise über das Hotel bis zum Abflug. Er zerlegt das Gesehene vielmehr in einzelne Motive, die er je nach Anlass neu kombinieren kann. Schon in seinen frühen Berufsjahren erweist sich Friedhelm Grundmann damit als wohlinformierter Architekt und reflektierter Beobachter mit einer Vorliebe für Le Corbusier und den skandinavischen Stil. Statt die Inkunabeln und Ideale der Moderne zu überhöhen, nimmt er das alltägliche Zusammenspiel von (Städte-)Bau und Mensch in den Blick. Weitere Details seines Schaffens werden aktuell in einem Kooperationsprojekt[viii] von moderneREGIONAL und der Universität Hamburg – gemeinsam mit Greifswalder und Hamburger Studierenden – herausgearbeitet.

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[1] Vgl. Karin Berkemann (Bearb.): Grundmann: „Dieses Chaos von Treppen“. Mit der U-Bahn zu Friedhelm Grundmann, in: moderneREGIONAL, Heft 3, 2014: www.moderne-regional.de/mit-der-u-bahn-zu-friedhelm-grundmann (Zugriff: 30.12.2020).

[2] Das Hamburgische Architekturarchiv verwahrt verschiedene Büronachlässe sowie Teile des privaten Nachlasses zu Friedhelm Grundmann: Hierin sind die Diabestände noch nicht mit einer Signatur erfasst. Diese Farbkleinbild-Dias sind zumeist mit dem Jahr (teils mit Monat/Datum) und dem Ort bezeichnet. Weitere hier genannte Daten konnten anhand der abgebildeten Details erschlossen werden. Zu Friedhelm Grundmann vgl. u. a. Der Architekt Friedhelm Grundmann. Projekte seit 1956. Ausstellung des Fachbereichs Architektur, 23. März bis 3. April 1998, Fachhochschule Hamburg, Hamburg 1998 [Begleitheft zur Ausstellung, broschiert]; Grundmann + Hein Architekten. Gewerbe. Wohnen. Verkehr. Kirchen. Umbau. Denkmalpflege, Hamburg o. J. [wohl Ende 2000er Jahre, Projektdokumentation, broschiert]; Matthias Ludwig/Christine Johannsen (Bearb.): Interview mit Friedhelm Grundmann. „… für mich ein richtiger Durchbruch …“, in: Matthias Ludwig: „… viele kleine Kirchen“. Das Kapellenbauprogramm der 1960er Jahre in Schleswig-Holstein (Beiträge zur Denkmalpflege in Schleswig-Holstein 2), S. 118–128. Zu Grundmanns Reisefotografien der 1980er Jahre vgl. Karin Berkemann: Das gelobte Land der Moderne. Deutsche Reisefotografien zwischen Aleppo und Alexandria, Berlin 2020, S. 13, 104, 111, 131–132, 144–145, 181–182, 184, 206, 222, 225–227.

[3] Gestaltung u. a. mit der Mitarbeit von Hoyte Duyster und Iannis Xenakis. Vgl. u. a. Peter Gössel (Bearb.): Le Corbusier. Jean-Louis Cohen. 1887–1965. The Lyricism of Architecture in the Machine Age, Köln u. a. 2004, S. 84–85; Malcolm Millais: Le Corbusier, the Dishonest Architect, Newcastle upon Tyne u. a. 2017, S. 191; Virtuell Electronic Poem project. A virtual reality reconstruction of the Poème électronique, o. J.: www.cirma.unito.it/vep/index.html (Zugriff: 30.12.2020).

[4] Vgl. u. a. Ian Colquhoun: Book of British Housing. 1900 to the Present Day, Burlington 2008, 2. Auflage, S. 147–149. Ein herzlicher Dank geht an die Mitglieder der Brutalism Appreciation Society für Hinweise zur Lage des Objekts: www.facebook.com/groups/2256189436 (Zugriff: 31.12.2020).

[5] Vgl. Gerhard Langmaack (Bearb.): Kirchenbau und Ökumene. Bericht über die Elfte Tagung für evangelischen Kirchenbau vom 8. bis 12. Juni 1961, hg. vom Arbeitsausschuß des Evangelischen Kirchbautages, Hamburg 1962, hier Friedhelm Grundmann in der Teilnehmerliste S. 216. Nach ersten kleineren Kirchen-Umgestaltungen (teils Grundmann eigenständig) sind für jene Jahre für das Büro Grundmann-Sandtmann exemplarisch zu nennen: 1960–1963, Hamburg-Langenfelde, Zum Guten Hirten; 1961–1963, Hamburg-Sasel, Vicelinkirche; ab 1962, Wiederaufbau des Lübecker Doms.

[6] Vgl. u. a. Dorothea Deschermeier (Bearb.): Agip. Die Tankstelle des Wirtschaftswunders, hg. vom Deutschen Architekturmuseum, Frankfurt am Main 2010; Massimiliano Savorra: Un professionista al servizio dell’Eni. L’opera di Mario Bacciocchi (1902–1974), auf: engramma, Heft 169, November 2019: www.engramma.it/eOS/index.php (Zugriff: 25.12.2020).

[7] Vgl. u. a. Felix Solaguren-Beascoa: Arne Jacobsen, 3 Bde, Bd. 1, Approach to his Complete Works. 1926–1949, Kopenhagen 2002, S. 126.

[8] Zum Kurator*innenteam gehören Daniel Bartetzko, Karin Berkemann und Frank Schmitz. Eine Ausstellung und eine Publikation, gefördert von der Sutor-Stiftung, sind für Herbst 2022 in Vorbereitung.

 

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