Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Stefanie Diekmann

Prekäre Evidenzen

Peter Geimer (Hrsg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie. Mit Texten von Irene Albers, Michel Frizot, Lorraine Daston / Peter Galison, Georges Didi-Huberman, Peter Geimer, Tal Golan, Michael Hagner, Christoph Hoffmann, Alex Soojung-Kim Pang, Jutta Schickore, Joel Snyder und Wolfgang Ullrich. Übersetzungen aus dem Amerikanischen von Annette Köster, Nadine Scheu und Daniel Tyradellis, aus dem Französischen von Peter Geimer und Christoph Hollender, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002 (stw 1538), 10,2 : 17,5 cm, 443 S., 47 S/W-Abb., Broschiert, – 15

Erschiene in: Fotogeschichte, Heft 92, 2004

Die schlechte Nachricht zuerst. Wer in der von Peter Geimer herausgegebenen Anthologie Ordnungen der Sichtbarkeit sucht, was der Untertitel Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie in Aussicht zu stellen scheint – ein etwa gleich großes Interesse an allen drei Kontexten und eine entsprechende Auswahl der Beiträge "  wird enttäuscht werden. Vieles über Wissenschaft, wenig über Kunst und manches über Technologie, sofern sie als Technologie der Darstellung zu fassen ist, lässt sich aus der Anthologie erfahren, in der sieben von zwölf Aufsätzen auf konkrete wissenschaftshistorische Szenarien bezogen bleiben. Drei weitere (Irene Albers über foto-positivistische Diskurse zur Zeit Émile Zolas, Michel Frizot über die physikalischen Ursprünge der Fotografie und deren terminologische Spuren, Geimer selbst über die irritierende Eigenaktivtät des fotografischen Materials) sind stark wissenschaftshistorisch geprägt, und auch die verbleibenden zwei üben weder eine strikt kunsthistorische Betrachtung, noch behandeln sie jene Sorte von Fotografien, deren Aufnahme in den kunstgeschichtlichen Kanon ohne Widerstreben erfolgt ist.

Der Akzent liegt also auf Wissenschaft, jedenfalls auf den ersten Blick, während der zweite klar macht, dass es Geimer um eine kategoriale Unterscheidung zwischen Qualitäten – z.B. "künstlerisch" vs. "wissenschaftlich" – oder Bestimmungen – z.B. "dekorativ" vs. "illustrativ" oder "dokumentarisch" – ohnehin nicht zu tun ist. Vielmehr unterstreicht seine Einleitung, dass die Register des Künstlerischen, Wissenschaftlichen und Technologischen gerade im Fall der Fotografie nur im Modus der Überschneidung zu denken sind und Grenzen und Genzüberschreitungen "sehr viel weniger offensichtlich" verlaufen, als die scheinbar selbstverständliche Aufteilung der Bereiche vermuten lässt. Anstelle einer wenig produktiven Klassifizierung also verstärkte Aufmerksamkeit für die ästhetischen, artifiziellen, konstruktivistischen Anteile der wissenschaftlichen Fotografie – die allerdings im Mittelpunkt des Interesses steht, Einsatzpunkt der meisten Studien ist und auch in den Untersuchungen über Evidenzdiskurse (Albers) oder die Konjunkturen negativer Bildlichkeit (Frizot) als Bezugsgröße figuriert.

Warum Geimer die Ausrichtung seiner Anthologie nur bedingt kommentiert und in der Einleitung eher bestrebt scheint, den Eindruck zu erwecken, als würden "Astronomie und Kunst, [...] Physik, Medizin, Okkultismus, Recht und Literatur" gleich umfassend behandelt, ist nicht ganz verständlich. Ähnlich wie im Fall des ebenfalls 2002 erschienenen ersten Bandes von Herta Wolfs Paradigma Fotografie irritiert hier, dass eine Tendenz (genauer: eine thematische und methodische Präferenz), die sich spätestens beim ersten Blick ins Inhaltsverzeichnis zeigt, in der Stellungnahme des Herausgebers nicht offensiver markiert, i.e. explizit gemacht, wird. Bezeichnenderweise stimmen diese komplementären Publikationen – Wolfs in erster Linie an neuerer Kunstwissenschaft orientierter Band, Geimers wissenschaftshistorische Studie – eben darin überein, dass sie einer bestimmten Fiktion der "Ausgewogenheit" verpflichtet bleiben, die durch die Beiträge nicht eingelöst wird, und, was viel wichtiger ist, auch keineswegs über die Qualität eines fototheoretischen (oder irgend eines anderen) Sammelbandes entscheidet.

Tatsächlich nämlich – und das ist die gute Nachricht – kann Ordnungen der Sichtbarkeit allen Lesern empfohlen werden, die ein Interesse an jenen Gebrauchsweisen und Diskursivierungen der Fotografie haben, die den Kontext "Kunstgeschichte" (auch derjenigen neuerer Prägung) überschreiten. Die Beiträge sind durchweg absolut lesenswert, informiert, im besten Sinne gegenstandsverliebt und einzig darin zu kritisieren, dass sie bisweilen, wie etwa im Fall des Textes über Zolas Selbstverständnis als "Photograph der Erscheinungen" oder Tal Golans Untersuchungen über die Karriere der Fotografie als Zeugnis vor Gericht, etwas zu ausführlich geraten sind. Wenn der Beweis noch angetreten werden muss, dass Wissenschaftsgeschichte ebenso wenig "langweilig" ist wie die Wissenschaft selbst, könnte man ohne weiteres auf diesen Sammelband verweisen, dessen Autoren ihre Geschichten der Fotografie nicht nur differenziert zu erzählen verstehen, sondern auch spannend und immer wieder ziemlich amüsant.

Durchaus kurzweilig etwa ist der von Alex Soojung-Kim Pang kommentierte Briefwechsel zwischen den Astronomen des Lick-Observatoriums in Kalifornien und Druckereien in New York und Chicago. Über einen Zeitraum von fast vierzig Jahren (die Korrespondenz reicht von 1875 bis 1911) tauschten sich hier Wissenschaftler und Spezialisten der Bildreproduktion darüber aus, wie die der fotografische Output des Observatoriums für verschiedene  Publikationen (Jahrbücher, Atlanten) aufzubereiten wären, welche gestaltenden Interventionen dabei unumgänglich und welche auf keinen Fall zulässig sein könnten, und nach welchen Kriterien man über die Auswahl eines Bildes zu entscheiden hätte. Deutlich genug wird in diesen Aushandlungen, dass die Maßstäbe der Beurteilung nicht unbedingt dieselben waren, häufig sogar konkurrierten, wenn z.B. die Drucker kontrastreicheren Vorlagen den Vorzug gaben (und Kontraste ebenso wie Konturen von Zeit zu Zeit eigenmächtig verstärkten), während die Astronomen um die Erhaltung von Details besorgt waren, nicht zuletzt nachdem einige davon den Eingriffen der Drucker zum Opfer gefallen waren. Und sicher gab es Eingriffe, von beiden Seiten, teils stillschweigend, teils völlig offen, als Teil eines Herstellungsprozesses, der sich in jedem Fall aufwändig und umständlich gestaltete und in keiner seiner Phasen ganz ohne Korrekturen verlief, die von Hand vorgenommen wurden und die Idee einer rein mechanischen Bildproduktion (und -reproduktion) unterliefen. Um das fotografische Bild für den Druck tauglich zu machen, bedurfte es der nicht-apparativen Intervention: In dieser Überzeugung wussten sich die Wissenschaftler und ihre Auftragnehmer einig, und Auseinandersetzungen, so sie stattfanden, betrafen lediglich Maß und Modus der Veränderungen.

Was sich aus Pangs Aufsatz ebenso wie aus einer Reihe anderer Beiträge lernen lässt, ist dass die Fotografie zwar als Modell einer mechanistischen, gänzlich interpretationsfreien Wiedergabe der Wirklichkeit adressiert wurde, die Realität des Umgangs mit den neuen technischen Bildern  jedoch anders aussah. Wenn Lorraine Daston und Peter Galison in ihren Ausführungen über das Bild der Objektivität konstatieren, die Fotografie sei, innerhalb und außerhalb der Wissenschaften "zum Wahrzeichen für alle Aspekte der nichtintervenierenden Objektivität" geworden, so beschreibt dies vor allem ein oft wiederholtes Postulat, nicht aber den Gebrauch, den man in der Wissenschaft von diesem Medium machte, und wohl auch nicht das Verhältnis, das die Protagonisten der Forschung zu ihrem fotografischen Material ausbildeten. Entsprechend sind die (sehr zahlreichen) Bezugnahmen der anderen Autoren auf Daston / Galison relativierend: Als Beschreibung eines spezifischen Diskurses über Fotografie und interventionsfreie Objektivität behält der Text seine Gültigkeit; zur Beschreibung der konkreten historischen Szenarien von Bildproduktion, -bearbeitung, -verwendung, und -betrachtung erweist er sich als unzureichend.

Überhaupt, die Szenarien. Zum einen sind es solche der Sichtung, Begutachtung, Edition von fotografischen Bildern, zum anderen solche, aus denen Fotos allererst hervorgehen, um in der Folge sehr unterschiedliche Karrieren zu durchlaufen. Vor allem Christoph Hoffmann plädiert in seinem Text Die Dauer eines Moments dafür, das Interesse weniger ausschließlich auf die Bilder als Restbestände eines wissenschaftlichen Projekts zu richten (das Projekt hier: die ballistisch-fotografischen Versuche von Ernst Mach und Peter Salcher), sondern auch auf die  "settings", i.e. die experimentellen Anordnungen, Operationen und Zielsetzungen, denen sie ihre Entstehung verdanken. Was sich dem Bild einträgt, so könnte man Hoffmanns These resümieren, ist nicht die Spur eines selbstaufzeichnenden Objekts; es sind die Konstellationen, die über Ein- und Ausrichtung einer Aufzeichnungsapparatur bestimmen, bzw. die Relationen, die mit ihrer Hilfe erkundet werden sollen.

Aber auch dort, wo sich Anordnungen weniger komplex darstellen als im Fall der Mach/Salcher-Fotografien, hat es den Anschein, als sei die Frage "Was bildet sich ab"" bzw. "Was zeigt die Abbildung"" mit Gebrauch der Fotografie nicht unbedingt einfacher geworden, die Handhabung (und Einordnung) des Bildes bisweilen anspruchsvoller anstatt simpler. Die Unschlüssigkeit des Forschers Mach, der sich nicht recht im Klaren war, wie herum er die von Salcher zugesandten Fotos denn eigentlich zu halten hätte, die Rückfragen der Drucker, die in den Fotos des Lick-Observatoriums eine Anzahl undefinierbarer Pünktchen und damit ebenso viele Quasi-Referenten entdeckten, die von Daston / Galison referierten Debatten um die Beschriftung oder Nicht-Beschriftung fotografischer Tafeln und nicht zuletzt Geimers eigene Studie zur (konstitutiven) "Störung" der Referentialität: All dies weist darauf hin, dass die Evidenz, die die Fotografie zu versprechen schien, im besten Fall eine prekäre war und der Einsatz des neuen Mediums auch eine neue Form von Medienkompetenz erforderte. Der kundige Betrachter, der Experte in Sachen Bildinterpretation, ist eine Gestalt, die durch viele der hier versammelten Texte geistert, exemplarisch verkörpert in jenem von Tal Golan in Maschinen als Augenzeugen vorgestellten neuen Typus von Sachverständigen, der die Jury eines Zivilprozesses bei der Deutung von Röntgenaufnahmen zu unterstützen hatte. Das Zeitalter der Uneindeutigkeit wurde durch die Fotografie keineswegs beendet, und mehr als ein Aufsatz (Michael Hagners Mikro-Anthropologie und Fotografie, Jutta Schickores Fixierung mikroskopischer Beobachtungen) berichtet über konkurriende Technologien der Veranschaulichung, die sich neben dem apparativen Medium im Feld der wissenschaftlichen Darstellung behaupteten.

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