Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Anton Holzer

Populäre Bildpostkarten und Avantgarde

Frankierte Fantastereien. Das Spielerische der Fotografie im Medium der Postkarte. Aus den Postkartensammlungen von Gérard Lévy und Peter Weiss, hg. von Clément Chéroux und Ute Eskildsen, mit einem Text von Clément Chéroux – Göttingen: Steidl, 2007 – Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Fotomuseum Winterthur (27. Oktober 2007 bis 10. Februar 2008), in der Galerie Jeu de Paume/Hotel du Sully, Paris (3. März bis 18. Mai 2008) und im Museum Folkwang, Essen (18. Juni bis 21. September 2008) – 30 x 30 cm, 216 S., zahlreiche Abb. in S/W und Farbe, gebunden mit Schutzumschlag – 40 Euro.

Erschienen in: Fotogeschichte 109, 2008

Als der russische Filmemacher und -theoretiker Sergej Eisenstein 1930 auf einer Fahrt durch Frankreich nach Toulon kam, stieß er ihm in der Nähe der Kirchen auf fotografische Heiligenbildchen: "Reizende Mädchen", berichtet er in seiner Autobiografie Yo. Ich selbst, "stehen dafür Modell – bald in Gewändern der heiligen Thérèse von Lisieux, mit Rosen in den Händen, bald als königliche und gütige Madonna." Daran wäre noch nichts Bemerkenswertes, wenn nicht Eisenstein ein paar Schritte weiter, am Hafen, auf ganz ähnliche Bilder gestoßen wäre. "In Toulon verkauft man den Matrosen ebenfalls Postkarten mit Mädchen darauf. Allerdings, so Eisenstein, "sind die Sujets hier frivoler ["]" Er bemerkt, dass die Protagonistinnen in beiden Fällen dieselben sind, die "Liebespriesterinnen" der einen Serie werden im Handumdrehen zu "Liebesdienerinnen". Die Karten wurden nämlich von derselben Firma hergestellt. "Da die Firma natürlich geschäftstüchtig ist, verwendet sie ihre Mädchen für beide Arten von Sujets. Und es rührt einen direkt, wenn man auf zwei Postkarten nebeneinander dasselbe Frätzchen sieht, einmal in der Umarmung eines Matrosen und ziemlich leicht bekleidet, das andere Mal im faltenschweren Gewand der Heiligen."

Die Geschäftsidee dieser seltsamen Travestie, die davon lebte, Heiliges und Profanes bedenkenlos zu mischen und die Schauspielerinnen in möglichst vielen Genres einzusetzen, ging davon aus, dass sich die Kundenkreise beider Sorten von Karten nicht überschnitten. Das scheint tatsächlich nicht der Fall gewesen zu sein. "Denn, so Eisenstein weiter, "wer käme auch auf die Idee, dass ein komischer Kauz in den Tabakläden Toulons Postkarten mit Motiven der Matrosenfolklore und in der Umgebung von "Notre-Dame de Lorette" – mit der gleichen Sorgfalt – Fotografien mit Bildnissen von Heiligen sammeln könnte."

Eisenstein hat sich, wie eine Reihe andere Avantgardisten auch, schon sehr früh für populäre Bildmedien interessiert. Die fotografischen Kippbilder, die er in seiner Autobiografie augenzwinkernd beschreibt, finden sich zwar nicht im Ausstellungsprojekt "Frankierte Fantastereien" und im begleitenden Katalog. Und dennoch bildet die kleine Geschichte aus Toulon einen Schlüssel zur Rekonstruktion der Faszination am Medium Postkarte. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg jagte nicht nur Eisenstein, sondern auch eine Reihe anderer Avantgardisten den oft banalen, oft ungewöhnlichen Bildpostkartenmotiven hinterher. Besonders die sog. Fantasiepostkarten, deren – meist anonyme – Hersteller auf der Bildseite ein Spiel mit Anspielung und Witz, Verkleidung und Maskerade, Vergrößerung, Verkleinerung, Schnitt und Montage, mit Kolorierung und Retusche mit Spiegelung und Vervielfältigung trieben, erregten die Aufmerksamkeit der Künstler.

Der Fotohistoriker Clément Cheroux, der die Bildauswahl der Ausstellung zusammengestellt hat, beschreibt in seinem lesenswerten Beitrag die Strategien dieser Aneignung. Die Karten wurden nicht nur gesammelt, sondern in Teilen oder als Ganze in eigene Arbeiten integriert. Sie dienten, wie etwa bei Hannah Höch, Paul Eluard, Gustav Klucis, Erwin Blumenfeld, Raoul Hausmann, Sophie Taeuber-Arp und vielen anderen als anonymes Reservoir von Zeichen, Bildern und Schriften, aus dem man nach Belieben schöpfen konnte. Ausstellung und Katalog beleuchten anhand schöner Bildbeispiele diese Wechselwirkung zwischen populären Vorlagen und künstlerischen Verarbeitungen.

Das Vorhaben, den Dialog zwischen Avantgarde und populärer Bildkultur am Beispiel der Bildpostkarten zu untersuchen ist freilich nicht ganz neu. Schon 1986 hatte der italienische Postkartensammler Enrico Sturani einen Band mit dem Titel Cartoline surrealiste. Testi di Paul Eluard e Salvador Dalí herausgegeben. 1998 hat sich Clément Cheroux in einem Aufsatz der französischen Zeitschrift Études photographiques erstmals mit dem Thema beschäftigt.[1] Und 2003 beschäftigte sich der Fotohistoriker Herbert Molderings in einem (mittlerweile veröffentlichten) Vortrag mit den Wechselwirkungen zwischen populärer Unterhaltungsfotografie der Amateure und der fotografischen Avantgarde (insbesondere mit Moholy-Nagy).[2] Auffallend ist, dass das Medium Bildpostkarte, das vom Museumsbetrieb der Hochkultur lange Zeit lächelnd und von oben herab betrachtet wurde, nun offenbar verstärkt Eingang in den etablierten Museumsbetrieb findet. 2004 etwa wurde in der National Portrait Gallery in London, also in einem etablierten Kunstmuseum, unter dem Titel "We are the people" eine Ausstellung gezeigt, die ausschließlich mit Postkarten bestückt war. Ebenfalls seit einigen Jahren stellt der britische Fotograf Martin Parr aus seinen Sammlungen von Postkarten ironisch-witzige Ausstellungen und Bildbände zusammen. Diesen Trend diagnostiziert auch Clément Chéroux. Er schreibt in seinem Beitrag: "Seit etwa zwanzig Jahren bemüht sich die Kunstgeschichte verstärkt darum, die Beziehungen der Künstler des 20. Jahrhunderts zur Populärkultur besser zu verstehen. Wie verschiedene Untersuchungen gezeigt haben – beginnend mit der berühmten Ausstellung High & Low im Museum of Modern Art in New York, über die Sondernummer der Zeitschrift October 1991, bis hin zu Publikationen von Jeffrey Weiss oder Thomas Crow ", wird dieses Verhältnis hauptsächlich unter dem Begriff appropriation (Aneignung) verhandelt."

Genau darin liegt in meinen Augen aber auch das Dilemma, dem auch der vorliegende Katalog nicht recht entkommt. So faszinierend die Bildbeispiele sind, die er präsentiert, die Wege des Einflusses sind eindeutig vorgezeichnet: Sie nehmen ihren Anfang in der anonymen, ausufernden Welt der Postkarten und führen in die – natürlich nicht anonyme – Welt der Kunst. Im Zentrum steht die Frage, wie die Populärkultur in Form der massenhaften Bildpostkarten Eingang fand in die Kunst der Avantgarde. Die Postkarte wird als künstlerisches Rohmaterial und damit als Ausgangspunkt einer weiteren "Veredelung" präsentiert. Wenn man die Perspektive – zumindest teilweise – umgedreht hätte und die populäre Bildpostkarte stärker als eigenständiges Massenmedium betrachtet hätte, das seinerseits populäre Stimmungen, (verbotene) Wünsche und Fantasien aufnimmt, verarbeitet und öffentlich macht, wäre man der Vielschichtigkeit dieser populären Bilder näher gekommen. Denn nicht nur Künstler kauften, verschickten und sammelten die Karten, sondern natürlich auch und vor allem biedere Bürger und Kleinbürger, die von der Ironie, dem Augenzwinkern und den ästhetischen Überschreitungen der Motive wohl ebenso fasziniert waren wie die Avantgardisten. Wenn man diese umgekehrte Perspektive gewagt hätte, hätte man den Blick nicht nur in die Ateliers der Künstler richten müssen. Man hätte auch den alltäglichen Gebrauch der Karten deutlicher beleuchten müssen, über den wir immer noch nicht viel wissen.

Dennoch: Ausstellung und Katalog geben die Richtung vor, in der künftig über Fotografie gearbeitet und geforscht werden sollte. Dem gedruckten Medium Fotografie wird in Zukunft wohl weit größere Aufmerksamkeit gelten als dies bisher der Fall war. Denn die Formen der Veröffentlichung, Handhabung, Sammlung und Verbreitung populärer Medien haben die Stellung der Fotografie zumindest im 20. Jahrhundert weit stärker beeinflusst als dies eine Kunstgeschichte glauben macht, die sich immer noch vorzugsweise mit der Geschichte der "Originale", etwa der "Vintage Prints" und der Spur, die diese edlen und teuren Ausstellungsstücke im Kunstmuseum hinterlassen haben, zufrieden gibt. Von nun an gilt es, das vervielfältigte anonyme Massenbild aus dem Abseits zu holen. Wenn man dieses Vorhaben mit einem neuen Blick auf die Geschichte der fotografischen Bildpostkarte beginnt, ist das ein sinnvoller Anfang.


[1] Clément Cheroux: Les récréations photographiques. Un répertoire de formes pour les avant-gardes, in: Études photographiques, Nr. 5, November 1998, S. 73 ff.

 

[2]Herbert Molderings; Die Geburt der modernen Fotografie, in: Die moderne Fotografie, Hamburg 2008, S. 15-43, hier S. 26 ff.

 

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