Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Lucia Bühler

Verstörendes Schwarz-Weiss

Robert Frank: Die Amerikaner. Aus dem Englischen von Hand Wolf. Mit einer Einführung von Jack Kerouac – Göttingen: Steidl, 2008 – 21 x 18,4 cm, 83 Tafeln in Tritone, gebunden mit Schutzumschlag – 30 Euro

Erschienen in: Fotogeschichte 110, 2008

Zuerst kritisierten sie das Fotobuch, später verliehen sie ihm Kultstatus. Die Amerikaner von Robert Frank ist ein ambivalentes Stück Fotogeschichte, indem der Fotograf dem Betrachter ein ganz anderes Bild des "American Way of Life" zeigt. Das Fotobuch darf als Lebenswerk von Robert Frank bezeichnet werden; Berechtigung hat diese Bezeichnung nicht nur, weil es sich dabei um seine bekannteste und erfolgreichste Arbeit handelt. Wie sein Leben stets von nomadischem Umherreisen in der ganzen Welt geprägt war, so entstanden auch die Bilder für den Fotoband, als Frank durch die USA reiste. Und wie der Fotograf sein Handwerk auf den Reisen stets erweiterte, so machte auch Die Amerikaner eine Entwicklung durch, deren vorläufigen Abschluss die Neuedition des Steidl Verlags aus Anlass der Erstveröffentlichung vor fünfzig Jahren darstellt.

Die Freude am Reisen, die Robert Frank schon nach seiner Ausbildung in der Schweiz entdeckt hatte, schien sich zu einem Bedürfnis entwickelt zu haben, das seine berufliche Karriere mitbestimmte. 1941 absolvierte er bei Hermann Segesser in seiner Geburtsstadt Zürich ein Volontariat. Der Fotograf unterrichtete ihn im darauf folgenden ersten Lehrjahr nicht nur in grundlegenden Kenntnissen des Fotografiefachs, sondern brachte seinen Lehrling auch in Kontakt mit moderner Kunst. Franks Einsicht bestärkte sich darin, dass kreative Künstler Regeln brachen, Risiken auf sich nahmen und, "dass Kunst einem erlaubte, völlig frei zu sein". Seine Ausbildung konnte Frank von 1942 bis 1944 im Studio von Michael Wolgensinger fortsetzen. Nach einer Assistentenstelle bei Victor Bouverat in Genf und der Anstellung im Grafischen Atelier von H., R. und W. Eidenbenz in Basel, reiste Robert Frank mit seinem Vater 1946 zum ersten Mal nach Mailand. Danach besuchte er Paris und Antwerpen.

Seine Europareise beendete Robert Frank nicht, um wieder zurück in die Schweiz zu fahren. Vielmehr entschloss er sich 1947 dazu, seine Weiterbildung in New York fortzusetzen. Nicht unbedeutend mochte bei dieser Entscheidung die Einstellung gegenüber seiner bisherigen Heimat gewesen sein: "Der Krieg war vorbei, und ich wollte aus der Schweiz heraus. Ich wollte meine Zukunft nicht dort aufbauen. Das Land war zu verschlossen, zu klein für mich." Dass er persönliche als auch berufliche Freiheit in den USA vermutete – symbolisierten die USA doch für viele Schweizer seiner Generation die Idee des "neuen, freien Landes" – und er sich deshalb für diesen Einschnitt in seinem Leben entschied, ist außerdem nicht auszuschließen. Faszinierte ihn also der Mythos Amerika, den er später fotografisch so schonungslos der Realität aussetzen würde" Ganz begeistert schrieb er nach der Ankunft jedenfalls seinen Eltern in der Schweiz: "Dieses Land ist wirklich ein freies Land. Man kann tun, was man will. Niemand fragt einen nach den Ausweispapieren."

In kurzer Zeit fand Frank in New York eine Anstellung beim renommierten Magazin Harper"s Bazaar. Franks Bewerbungsmappe mit der Serie "40 Fotos" und weiteren Probeaufnahmen mussten Art Director Alexey Brodovitch überzeugt haben; er stellte den jungen Schweizer als Assistenzfotografen für Harper"s und Junior Bazaar ein. Bald begann Frank jedoch, die Geschäftspraktiken der amerikanischen Geschäftswelt zu hinterfragen: "Jegliche Tiefe fehlte, das einzige, was zählte, war, mehr Geld zu machen." So hielt es ihn nicht lange in den USA. Wieder ließ er eine sichere Existenz hinter sich, um Peru, Bolivien, Kuba, Panama, Brasilien, Spanien, London und Wales zu entdecken – auch fotografisch.

Seinem Leben schien Robert Frank schließlich im März 1953 eine neue Richtung geben zu wollen. Mit seiner Ehefrau, der Künstlerin Mary Lockspeiser und Sohn Pablo – ein Jahr später kam das zweite Kind Andrea zur Welt – fuhr er vom englischen Southampton nach New York. Nach Engagements für Life, Mc Call"s, Look, Charm, Vogue und Ladie"s Home Journal und Reisen zwischen Amerika und Europa setzte sich Frank schließlich zum Ziel, seine neue Heimat kennen und verstehen zu lernen, indem er sie fotografierte. In seinem Bewerbungsschreiben für das Stipendium der Simon Guggenheim Memorial Foundation erklärte er seine Intention: "Was ich also vorhabe, ist das Beobachten und Aufzeichnen dessen, was ich als ein "neuer" Amerikaner sehen werde. Eine Zivilisation, born & made in the USA. Eine Kultur, welche sich anderswo ausbreitet."

Und so setzte er seine Reise im April 1955 fort. In einem alten Gebrauchtwagen durchquerte Frank Amerika. Dabei entstanden über 20'000 Fotografien zwischen Texas, Montana, Detroit, St. Helena und New York. Robert Frank fotografierte wiederkehrende Motive, wie die Juke Box, die Diners oder die amerikanische Flagge und Menschen, die er in ihrem Alltag erspähte, gekennzeichnet von Routine, Vereinzelung und Rassismus. Den "American Way of Life" zeigte Frank von seiner Schattenseite. Er entmystifizierte ihn, indem er eine Alternative zum Bild bot, das sich viele Amerikaner, vor allem aber Nicht-Amerikaner von Übersee, von dieser Nation machten.

In vielerlei Hinsicht beschritt Robert Frank mit diesem Monumentalprojekt neue Wege in seinem Metier – nur um letzteres bald nach der Veröffentlichung von Die Amerikaner vorläufig vollends zu verlassen und sich statt der Fotografie der Filmkunst zu widmen. Er gab bisherige bewährte fotografische Prämissen auf, sowie er die Freiheit auf Reisen auch stets den beengenden, aber sicheren und bekannten Lebensumständen vorgezogen hatte. Frank brach mit Konventionen, die ein technisch perfektes Bild ermöglichten, und ersetzte sie durch eine neue Bildsprache. Die Fotografien sind gekennzeichnet durch unterschiedliche Perspektiven, ungewöhnliche Bildausschnitte und schiefe, verschobene Ebenen; Frank arbeitete mit dem vorhandenen Licht, sodass einzelne Aufnahmen unterbelichtet oder unscharf sind, körnig oder verschwommen wirken. Mit diesem Vorgehen schuf er eine Direktheit, die den Betrachter nur irritieren und verstören konnte: "Noch nie habe ich eine so überwältigende Darstellung des Menschen gesehen, der zur Masse geworden ist, wenig unterscheidbar einer vom andern, sie alle ziellos wie in luftleerem Raum, eine sture Menge voll heimtückischer Aggressivität... Ich kenne Amerika nicht, doch erschrecken mich Deine Aufnahmen... Wie wenig ist da von dem, was uns vertraut war und was wir an Deinen Bildern liebten"; so Gotthard Schuhs erste Reaktion auf einige Bilder, die Frank seinem Schweizer Mentor nach der Reise geschickt hatte.

Das Werk selbst entwickelte nach seiner Veröffentlichung eine gewisse Eigendynamik; es schrieb seine eigene Geschichte. Les Américains wurde erstmals am 15. Mai 1958 in Paris von Robert Delpire publiziert; der Fotoband enthielt in dieser Ausgabe neben den 83 ausgewählten Bildern Texte über die politische und soziale Geschichte der USA. Diese wurden in der 1959 bei der amerikanischen Grove Press veröffentlichten Ausgabe The Americans durch eine Einleitung von Jack Kerouac ersetzt, einem wichtigen Vertreter der Beat Generation. Der neu erschienene Fotoband, der Frank zwar innerhalb kurzer Zeit berühmt, aber nicht unbedingt beliebt machte, sorgte für Diskussionen und Kontroversen. Die Fachpresse konnte sich von Die Amerikaner keine übereinstimmende Meinung bilden, von einigen Journalisten wurde Franks Arbeit gelobt; von anderen verrissen. Kritiker zweifelten an Franks Professionalität, an der Qualität seiner Bilder und lehnten es ab, "die" Amerikaner und damit "alle" Amerikaner in dieser Weise dargestellt und definiert zu sehen. Denn ihrer Meinung nach bildeten Franks Fotografien nur einen Teil der Gesellschaft ab; damit störten sie sich daran, dass die französische Auflage Teil der Serie Encyclopédie essentielle bildete, die dem Publikum fremde Länder vorstellen sollte.

Auch das Publikum war gespalten, von manchen Leuten wurde das Fotobuch als "antiamerikanisch" verachtet; andere fühlten sich in ihrem Unbehagen gegenüber den kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Werten in den USA verstanden. Einige Zeit war vergangen, als die Fotoserie, vor allem ab Mitte der Sechziger, für viele Maler, Autoren, Filmemacher und Fotografen zur Inspirationsquelle und zum Kultobjekt wurde. Und in den Siebziger Jahren gelangte der Fotoband zu neuer Aufmerksamkeit, als einzelne von Kuratoren ausgewählte Bilder fortan das gesamte Werk repräsentierten.

Seit der erstmaligen Veröffentlichung sind 50 Jahre vergangen, Die Amerikaner gilt heute als Klassiker der Fotografiegeschichte, Robert Frank als einer der wichtigsten Fotografen der Nachkriegszeit und der Moderne. Nachdem das Buch in zahlreichen Formaten und Sprachen veröffentlicht worden war, entschloss sich der Steidl Verlag vor kurzem zu einer Neuedition. Unter der Leitung von Robert Frank wurde die Typographie überarbeitet, die 83 Bilder wurden neu gescannt, unautorisierte Bildbeschnitte früherer Ausgaben angepasst. Außerdem wählte der Fotograf von zwei Motiven (Metropolitan Life Insurance Building, New York City und Assembly Line, Detroit) je ein anderes Negativ aus, das eine leicht veränderte Perspektive zeigt. Frank war nicht nur an der Gestaltung beteiligt, sondern auch an der Produktion und schließlich an der Vollendung eines neuen Kapitels der Geschichte seines Fotobandes.

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