Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Edith Wildmann

Der Abschied vom Kontaktabzug

DVD: Kontaktabzüge. Große Fotografen und ihre Werke. Nach einer Idee von William Klein – Box mit drei DVDs (auch einzeln erhältlich): 1. Die große Tradition der Fotoreportage, 2. Der Aufbruch der zeitgenössischen Fotografie, 3. Konzeptionelle Fotografie, 1988–2004 – Frankreich: Arte Edition/absolut Medien, 2008 – Sprachoptionen: deutsch, englisch, französisch, Laufzeit: 429 Minuten – 49,90 Euro; Bestellung: www.absolutmedien.de

 

Erschienen in: Fotogeschichte 113, 2009

 

Zwischen 19. Oktober und 14. Dezember 2002 zeigte der Fernsehsender ARTE jeden Samstag um 20.15 eine Serie von kleinen Filmen, die nun, einige Jahre später, auf DVD vorliegen. Der Titel: „Kontaktabzüge“. Die Idee zu dieser Reihe stammt von William Klein, dessen Ziel es war, ausgehend von der Reflexion über Kontaktabzüge in die Arbeit einer Reihe ausgesuchter Fotografen und Fotografinnen einzuführen. Entstanden sind Filme von jeweils etwa 13 Minuten Länge, die über einen Zeitraum von 13 Jahren, von 1989 bis 2002, hindurch gedreht wurden.

Diese Filme sind keine herkömmlichen Fotografenporträts, vielmehr öffnen sie den Protagonisten kleine Räume der Selbstdarstellung und zeigen die Eigenart der vorgestellten Fotografen. Der oft betuliche Charakter von Porträts geht diesen Filmen ab. Manchmal scheint es, als würden die Fotografen selbst die Regie führen, jedenfalls entsteht der Eindruck, als hätten sie den Film gemeinsam mit den Regisseuren entwickelt. In einigen Fällen übernahmen die Fotografen dann auch selbst die Regie, wie Sarah Moon, William Klein oder Raymond Depardon (gemeinsam mit Roger Ikhlef).

Und tatsächlich ist, wie wir wissen, die Arbeit von Regisseuren und Fotografen miteinander verwandt. Im Kontaktabzug kommt diese Nähe besonders deutlich zum Ausdruck: Die unbeschnittenen Bildstreifen ähneln dem Film. Sie haben, anders als Einzelfotos, die ein Vorher und ein Nachher weitgehend abgestreift haben, eine erzählerische Dimension. Manche Szenen, die in dichter Zeitfolge fotografiert wurden, entwickeln in den Kontaktabzügen eine geradezu filmische Umsetzung. Einige der Fotografen machen sich in den Filmen diesen Aspekt zunutze und greifen in ihren Beschreibungen Bildreihen auf, stellen die Bilder in Bezug zu vorherigen und folgenden Aufnahmen. Kontaktabzüge werden, ähnlich wie Filme, mit schweifendem Blick gelesen. (Hier bewegen sich die Augen über die Bilder, da wird der Film bewegt).

Einige der Fotografen und Fotografinnen plaudern munter darauf los. Andere warten ab, zeigen zuerst die Bilder, lassen sie wirken und sprechen dann über ihre Arbeit. Einer, Josef Koudelka, verweigert schließlich das Sprechen ganz: „Reden kann ich nicht und es interessiert mich nicht“, so Koudelka. Kaum gesagt, lässt er einen anderen über seine Arbeit sprechen – Robert Delpire, sicherlich berufen, als Regisseur dieses Films und renommierter Galerist, Fotobuchverleger und Kurator. In diesem ganz eigentümlichen Film werden Reihen von Kontaktabzügen durch eindringliche Musik begleitet, die abbricht, wenn das Foto, wenn der richtige Moment auftaucht.

Die erste DVD widmet sich der „großen Tradition der Fotoreportage“ und tatsächlich sind es die Großen (damals) noch lebenden, die hier versammelt sind: Henri Cartier-Bresson, William Klein, Raymond Depardon, Josef Koudelka, Robert Doisneau, Edouard Boubat, Elliott Erwitt, Marc Riboud, Leonard Freed, Mario Giacomelli, Helmut Newton, Don McCullin.

Unter dem Titel „Der Aufbruch der zeitgenössischen Fotografie“ versammelt die zweite DVD   Positionen von Sophie Calle, Nan Goldin, Duane Michals, Sarah Moon, Nobuyoshi Araki, Andreas Gursky, Jean-Marc Bustamante, Hiroshi Sugimoto, Lewis Baltz, Jeff Wall und Thomas Ruff.

DVD Nummer drei zeigt „Konzeptionelle Fotografie“ und Filme zu den Arbeiten von John Baldessari, Bernd und Hilla Becher, Christian Boltanski, Alain Fleischer, John Hilliard, Roni Horn, Martin Parr, Georges Rousse, Thomas Struth und Wolfgang Tillmans.

DVD eins ist am konsequentesten der Idee der Kontaktabzüge verpflichtet. (Allerdings ist hier nicht ganz zu verstehen, was ein Fotograf wie Helmut Newton in der Reihe der Fotoreporter sucht). „Das ist ein Foto“ – diesen Satz sagt William Klein immer wieder, die Unterschiede zwischen einem guten Foto und einem weniger guten Foto sind oft minimal – und sie sind subjektiv: „Für mich ist das ein Foto, für andere nicht.“ Und: „Kontaktabzüge sind das Tagebuch des Fotografen. Was war vorher, was nachher?“ Henri Cartier-Bresson, Meister des entscheidenen Augenblicks, spricht darüber, dass Kontaktabzüge eine ähnliche Funktion wie die Couch des Psychoanalytikers haben. Alles würde in ihnen registriert, alles wird aufgezeichnet. Und der Fotograf dürfe nicht denken, sondern solle seinem Gefühl nachgehen und fotografieren (so wie der Analysand auf der Couch). Diese Momente der Reflexion sind eindrucksvoll, denn sie zeigen nicht nur wie Fotografen ihre Arbeit verstehen, sondern geben auch Einblick in die unglaubliche Bandbreite des Fotografischen. Wo einer seiner Intuition gehorcht und festhalten möchte was war, organisiert ein anderer jedes kleinste Detail und stellt die Objektivität der Fotografie in Frage (das wird vor allem in den folgenden DVDs gezeigt).

In DVD zwei beginnen die Kontaktabzüge weniger zu werden. Es werden mehr herkömmliche (fertige) Fotos gezeigt, der Prozess des Dazwischen, des Findens „guter“ Fotos tritt zurück. Der entscheidende Moment, das eine Foto scheint an Bedeutung zu verlieren. Diese DVD zeigt die wenigen Filme zu Fotografinnen: Sophie Calle, Nan Goldin und Sarah Moon, deren Filme ihre sehr persönlichen Zugangsweisen zeigen. Sehr spannend und witzig sind etwa Sophie Calles Schilderungen zu ihren fotografischen Verfolgungen Fremder in der ihr fremd gewordenen Stadt Paris. Sarah Moons Film, in dem sie selbst Regie führte, ist ein poetischer Beitrag zu ihrer Arbeit. Der Film zu Nobuyoshi Araki – bekannt durch seine Bondage-Fotos – ist beeindruckend persönlich gehalten. Darin spricht er u.a. vom Leben und Sterben seiner Frau. Wir sehen Bilder ihrer Hochzeitsreise und den letzten Händedruck des Paares. Dazu Arakis Kommentar. An solchen Stellen werden die Vorzüge des Filmischen deutlich: Sprache und Bild in einem Medium.

Der Film zu John Baldessari in DVD drei ist ein stiller Film in dem er über seinen Bezug zur Malerei spricht und wie diese – und auch das Medium Schrift – in seiner Arbeit eine wesentliche Rolle spielt. Sein Bemühen kreist immer wieder um die Themen Objektivität und Dokumentation. Martin Parrs Bilder scheinen auf eine Bloßstellung der britischen Gesellschaft aus zu sein, wenn er aber über diese Arbeiten spricht, stellt sich heraus, dass es ihm darum ging (etwa bei den Bildern aus den Jahren der Regierung Thatcher) den Zustand der britischen Gesellschaft zu porträtieren.

Die Einteilung der DVDs in zeitgenössische und konzeptionelle Fotografie scheint etwas willkürlich gewählt. So zum Beispiel leuchtet nicht ganz ein, warum sich etwa Jeff Wall oder Hiroshi Sugimoto nicht auf DVD drei zur konzeptionellen Fotografie finden  oder Wolfgang Tillmans nicht auf DVD zwei zum Aufbruch der zeitgenössischen Fotografie.

William Kleins Idee, den Kontaktabzug zum leitenden Prinzip zu machen, wird zwar im Verlauf der Reihe zusehends undeutlicher, doch stört das nicht wirklich. Wir werden, entlang dieser Zeugen eines fundamentalen historischen Prozesses, der mit der digitalen Wende einhergeht: Der Kontaktabzug verschwindet. 1989, als die ersten Filme gedreht wurden, war das Zwischenstadium des Kontaktabzugs gängige Praxis. Heute gibt es praktisch keine Kontaktabzüge mehr. Das Auswählen von Fotos funktioniert in der Epoche der digitalen Archivierung und der Onlinedatenbanken ganz anders als noch vor zehn Jahren. Auch darüber erzählt diese Reihe, wenn auch nur indirekt. Sie zeichnet nicht nur die Wege der Fotografen zum Bild nach, sondern – und das ist das Spannende – sie vermittelt diesen Weg auch in filmischer und akustischer Weise.

 

 

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