Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Nora Mathys

Fotografische Spurensicherung

Institut de police scientifique de l’Université de Lausanne und Musée de l’Élysée, Lausanne (Hg.): Le Théâtre du crime. Rodolphe A. Reiss 1875-1929, mit Essays von Christophe Champod, Daniel Giradin, Luce Lebart, Pierre Margot, Jacques Mathyer, Nicolas Quinche und Éric Sapin, Lausanne : Presses polytechniques et universitaires romandes, 2009, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Musée de l’Élysée in Lausanne, 319 Seiten, 260 Abb. in S/W, gebunden mit Schutzumschlag, 69.- CHF (Bestellung : ppur(at)epfl.ch)

Erschienen in: Fotogeschichte 115, 2010

Crime sells, das haben zahlreiche von Kunstmuseen kuratierte Ausstellungen zu Polizeiaufnahmen gezeigt.[1] Die Aufnahmen wurden meist kommentarlos und stark vergrößert präsentiert, denn die Ausstellungsmacher verließen sich ganz auf den ästhetischen und neugierig machenden Effekt der Bilder. In dieser Manier waren die Aufnahmen des Kriminalisten Rodolphe A. Reiss aus den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts im Musée de l’Elysée zu sehen. Diese Präsentationswahl baut auf die technische und ästhetische Qualität der Aufnahmen – es wird sichtbar und fassbar mit welcher Perfektion und mit welchem Können diese Fotografien entstanden sind. Bei dieser ungebrochenen Bildergewalt gerät jedoch die Funktion der Bilder in den Hintergrund.

Der ästhetisierende Umgang wird im Begleitkatalog weitergeführt: Der Bildteil ist durch die schwarze Farbgebung derjenigen Seiten, die Aufnahmen von Leichen und blutigen Tatorten zeigen, dreigeteilt. Dieser Bildteil wird zudem dadurch hervorgehoben, dass die besonders direkten Aufnahmen von Toten und blutigen Schauplätze nicht direkt sichtbar, sondern in Klappseiten verborgen sind, die zuerst geöffnet werden müssen. Diese Gestaltung ist einerseits pietätvoll, da diese teils schwer erträglichen Aufnahmen dem Betrachter nicht direkt zugemutet werden, sondern ihm Zeit lassen, sich auf das Gewaltvolle vorzubereiten. Anderseits wirkt das Verbergen der Bilder zusätzlich spektakulär, da es die Neugier steigert und den Spannungsbogen intensiviert. Vernachlässigt wurden die Bildlegenden, so zieren kurze Zitate aus diversen Publikationen von Reiss die Aufnahmen, doch über Aufnahmedatum, Entstehungsort und -kontext ist nichts zu erfahren. Umso erhellender wirkt die Lektüre der Texte, die mittels eines kleinen Bildbandes am oberen Rand der Seite mit den Fotografien verbunden sind. Der Katalog ist sehr gelungen, aber grafisch eigenwillig umgesetzt – so sind lose Zitate optisch unterscheidbar in den Text gesetzt worden, aber ohne dass sie mit dem Fliesstext direkt verbunden wären. Eine Umgangsweise, die bisher den rein illustrativen Bildern vorbehalten war, die aber für Texte nicht weniger problematisch ist als für Bilder.

Der Historiker Nicolas Quinche rekonstruiert den Werdegang von Reiss an und ergänzt diesen mit einem weiteren Artikel zu dessen umstrittenem Engagement während des Ersten Weltkrieges auf der Seite Serbiens, als der Kriminologe die an den Serben verübten Gräueltaten aufdeckte und anprangerte. Er zeichnet dabei das Bild eines umtriebigen, arbeitsamen Tüftlers, der seine Anstellung als Fotograf der Universität nutze, um im Dienste der verschiedenen Institute sein Können in der medizinischen und wissenschaftlichen Fotografie zu perfektionieren. Für Reiss’ Arbeiten zur polizeilichen und kriminalistischen Fotografie hebt Quinche dessen Praktikum bei Alphonse Bertillon in Paris hervor, denn dort erlernte Reiss die signaletische Fotografie und das „portrait parlé“. In Lausanne gelang es Reiss, die wissenschaftliche und juristische Fotografie als Fach zu etablieren und damit ein international anerkanntes Zentrum der modernen Kriminalistik zu gründen. Quinche zeigt überzeugend auf, wie die Kriminalistik durch die Erkenntnisse der experimentellen Psychologie zur begrenzten Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses erschüttert wurde und nach einem neuen Weg der Objektivität suchte. Sie fand ihn im Lesen der Spuren und im Studium der sozialen Milieus. In Reiss’ Handbuch der wissenschaftlichen Polizei von 1911 sieht Quinche eine Zusammenfassung der Reisschen Methode und seines Zugangs; dementsprechend ist das Werk dicht mit Aufnahmen zur Spurensicherung und sozialer Milieus bebildert. Quinche beschreibt Reiss als jemanden, der im Dienste der „Wahrheit“ und der Gerechtigkeit das Abenteuer suchte (S. 311f.) und verbindet so dessen Engagement während des Ersten Weltkrieges nicht nur auf der beruflichen Ebene, sondern ebenso auf der ethischen mit dessen Tätigkeit am Lausanner Institut.

Die beiden Kriminalisten Pierre Margot und Christophe Champod zeigen zusammen mit dem Fotografen Éric Sapin die Bedeutung der Fotografie und der Reisschen Verfahrenstechniken für die Kriminalistik auf. So sind zahlreiche von Reiss entwickelte Verfahren heute noch in Gebrauch oder aber sie bildeten die Grundlagen für neuere computerbasierte Verfahren. Die Autoren beschreiben und erläutern Beispiele der verschiedenen Fototypen in einer Weise, dass die Bilder lesbar, die dahinter stehende Idee gut nachvollziehbar und die herausragende Bedeutung von Reiss’ Werks für die moderne Kriminologie erfassbar werden. Zentral für Reiss’ Werk waren die verschiedenen Aufnahmenverfahren von Tatorten und Spuren. Reiss entwickelte eine Systematik für die Dokumentation des Tatortes, so wie er aufgefunden wurde, da die Bilder einen erneuten Besuch der nicht mehr existenten Szene ermöglichen sollten. Reiss’ Arbeiten zu den anspruchsvollen Aufnahmetechniken von Fingerabdrücken und Fälschungen bezeichnen die Autoren als besonders bemerkenswert, da Reiss diese mit seiner Findigkeit hinsichtlich Aufnahmematerial, Filtereinsatz und Lichtführung zur Perfektion betrieb und bis heute gültige Verfahren entwickelte (S. 258). Insbesondere dieser Beitrag der Kriminalisten macht deutlich, wie das Kontextwissen das Verständnis der Bilder vertieft; er ist der eigentliche Kommentar und die wesentliche Lesehilfe zu den gezeigten Aufnahmen.

Die Fotohistorikerin Luce Lebart situiert Reiss auf dem Hintergrund seiner privaten fotografischen Tätigkeit und Engagements im Schweizerischen Photographen Verein die von Reiss 1904 losgetretene Polemik über die künstlerische Fotografie und ihre Bearbeitung durch Piktorialisten. Reiss ging es dabei um den Wahrheitsgehalt der Fotografie, so propagierte er eine möglichst genaue und realistische Fotografie und prangerte die Schönfärberei der Piktorialisten an. Aufgrund dieser Debatte ordnet Lebart Reiss in die Nähe der Vertreter der Neuen Fotografie ein, zeigt Reiss’ Verständnis der Fotografie als wichtiges soziales Dokument auf und verbindet dieses mit einem weiteren Anliegen Reiss’: Zusammen mit Emile Dôle hatte er sich lebhaft an den Diskussionen um eine Dokumentationsstelle der Fotografie beteiligt, wobei er betonte, dass die Dokumentation die Aufnahmen nicht von den schriftlichen Dokumenten trennen dürfe, da sie sonst nicht mehr verständlich seien (S. 275).

Der Kunsthistoriker Daniel Girardin schließlich lenkt das Augenmerk auf die der kriminalistischen Fotografie eigene Ästhetik und Wirkung, indem er auf das ambivalente Verhältnis der Tatortaufnahmen zwischen dem kühlen rationalen Blick des kriminalistischen Fotografen und dem emotionsgeladenen Bildinhalt hinweist. Ohne den Kontext lösen die Bilder beim Betrachter nur noch Emotionen aus – vom entsetzten Grauen und Ablehnung bis hin zur Faszination. Dies komme daher, dass der gewaltsame Tod ungeschminkt und ohne jegliche Tabus gezeigt werde; so stehen die kriminalistischen Aufnahmen außerhalb jeglicher Ethik, Moral oder jeglichem Recht (284). Girardin weist auf den Tabubruch hin, der sich seit den 1990er Jahren in der modernen Kunstfotografie vollzieht, die sich für ihre Inszenierungen an der Polizeifotografie orientiert.

Die verschiedenen Abschnitte des Katalogs führen Reiss Innovationsgeist und Bedeutung für die moderne Kriminalistik deutlich vor Augen, indem sie den Menschen und sein Umfeld beleuchten, seine Aufnahmen in den Kontext der damaligen Kriminalistik und der Fotografiegeschichte sowie die wenigen privaten Aufnahmen und seine nicht spezifisch kriminalistischen Schriften zur Fotografie in den Kontext der damaligen Debatten stellen. So entsteht ein komplexes Bild dieser außergewöhnlichen Figur der fotografischen Kriminalistik und ihrem Schaffen.


[1] Vgl. etwa die erfolgreichen Ausstellungen und Publikationen von Arnold Odermatts Fotos von Verkehrsunfällen; weiteres folgende Ausstellungen: Tat(orte) in der Galerie NRW-Forum Kultur und Wirtschaft 1.6.-6.8.2006, The Art of the Archive. Fotos aus dem Archiv des Los Angeles Police Department, 15.07.–18.09.05 im Zürcher Kunstmuseum und Ende 2009 waren einzelne Polizeiaufnahmen in der Ausstellung Dark Side II im Fotomuseum Winterthur zu sehen.

 

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