Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Stephanie Marchal

Gustave Courbet in seinen Selbstdarstellungen

Dissertation am Institut für Europäische Kunstgeschichte der Universität Heidelberg, Referenten: Prof. Dr. Dietrich Schubert (Universität Heidelberg), Prof. Dr. Beate Söntgen (Ruhr-Universität Bochum/seit WS 2011/12 Leuphana Universität Lüneburg), Abschluss: Dezember 2010, Veröffentlichung: 2012, Wilhelm Fink Verlag, München, Kontaktadresse: smarchal@dt-forum.org

Erschienen in: Fotogeschichte 125, 2012

Das selbstdarstellerische Schaffen Gustave Courbets (1819–1877) wurde bislang wenig untersucht. In der vorliegenden Forschungsarbeit wird die Modernität und Zeittypik der über 40 ungewöhnlichen Selbstdarstellungen in detaillierten Werkanalysen erfasst und die Bildnisse werden porträttheoretisch, aber auch geistes- und ideengeschichtlich in den Entstehungskontext und das Œuvre des Malers eingeordnet. Großformatig angelegt und appellativ komponiert, dabei häufig irritierend genrehaft und szenenartig-situativ, ziehen sie den Betrachter in ihren Bann, wobei sie dem seinerzeit modernen Bildungsroman semantisch, motivisch und strukturell, nämlich in der Abfolge der thematisierten Bildungsetappen, näher stehen als der zeitgleichen Malerei. Die Romane scheinen Courbet Topoi und Bilder für die Schilderung kognitiver und emotionaler Entwicklung bereit gestellt zu haben; gleich ihnen bediente er sich in seinen Selbstporträts einerPsychisches in äquivalente physische Beschreibungen transformierenden Zeichensprache (Haareraufen, Abgrund, Wunde, Walzertanzen, initiatorische Begegnungen u.a.). Seinen Autoporträts ist somit ein gewisser „Kollektivitätsgrad“ eigen, wie ihn Georg Simmel 1916 porträttheoretisch u.a. bezogen auf Tizian beschrieben hat. Dieses kollektive Moment führt dazu, dass die dargestellten Gemütszustände und Erlebnisse nicht immer wie die dem Maler eigenen anmuten und die Bildnisse bisweilen irritierend „äußerlich“ scheinen. Erst mit dem Selbstbildnis L’homme à la pipe (um 1849, Musée Fabre/Montpellier) ändert sich dies; die Bewegung ist hier der Figur immanent, Courbet stellt nicht länger isolierte Aspekte seiner selbst, sondern sich seiner selbst bewusst dar. Er war folglich, wie die Forschungsarbeit an diversen Stellen belegt, belesen – seine legendäre Negation kultureller Kompetenz ist lediglich vorgeblich und gehörte zu seinem sich Mitte der 1850er Jahre entwickelnden Arbeiterimage, welches Courbet vornehmlich über Lichtbildnisse seiner Person kolportierte. Ihnen und ihrem Verhältnis zu den gemalten Selbstdarstellungen widmet die Arbeit ein größeres Kapitel: Mitte der 1850er Jahre verlagert sich das Sich-einen-Platz-Verschaffen in der Pariser Kunstwelt nämlich von einem Courbets frühe Selbstbildnisse prägenden physischen Nach-Vorne-Drängen bzw. von einer den inneren Bildraum aufsprengenden, appellativen Direktheit auf großem Format hin zu einer energischen (Ein-/Auf-)Dringlichkeit qua Medium: Courbets in stürmischer Jugendlichkeit vor sich und der Welt über die unmittelbare Körperlichkeit beglaubigte Präsenz, Ausdruck von Subjektpositionierung in den dem Künstler neuerdings zur Verfügung stehenden gesellschaftlichen Räumen, macht einer allgegenwärtigen, vermeintlich dokumentarisch verbürgten Medienpräsenz Platz.

Die zahlreichen fotografischen Porträts Courbets, bei deren Herstellung wir u.a. aufgrund einer Belichtungszeit von noch ungefähr drei Sekunden vom Mitwirken des Malers als Porträtregisseur ausgehen und daher von Selbstdarstellungen sprechen können, setzen zeitlich analog zum Abebben seiner Selbstbildnismalerei ein und lösen diese schließlich ab. Ein möglicher Grund für den Rückgang der konkreten gemalten Selbstbildnisse ab 1855 ist darin zu finden, dass Courbet seinen Selbstfindungsprozess zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen und sein fortan gültiges Image in so berühmten Gemälden wie La Rencontre (1854, Musée Fabre) oder L’Atelier du peintre (1855, Musée d’Orsay) gefunden zu haben scheint. Dieses Image galt es in Folge nur noch zu perpetuieren, allseits wieder erkennbar zu fixieren und medial aufzubereiten. Die Darstellungen seiner selbst hatten also nach 1855 eine neue Funktion, der mit den Mitteln der noch jungen Reproduktionstechnik leichter nachzukommen war. Courbet ließ seine Porträtfotos nicht nur über Fotografen vertreiben, sondern trug auch selbst zu deren Zirkulation und Verbreitung bei; zumeist abgezogen im beliebten Visitenkartenformat, bisweilen rückseitig mit einer Widmung versehen, verteilte er sie eigenhändig. Ablichten ließ er sich mit „naturalisierten“ Posen, Posen, die vor dem Hintergrund zeitgenössischer Glaubwürdigkeitscodes für authentisch gehalten und nicht in ihrer Strategie erkannt wurden. Diese standen in wohl bedachter Korrelation zur kräftigen peinture sowie zur gattungstechnisch niedrig rangierenden Motivik seiner Malerei; gemeinsam konstituier(t)en sie – insbesondere auf den den Maler bei der Arbeit zeigenden Porträtphotographien – Courbets kohärentes Arbeiterkünstler-Image, sein für ehrlich befundenes Künstlertemperament, wie unter Berufung auf zeitgenössische Urteile und Bewertungsmaßstäbe in der Dissertation dargelegt wird.In die Betrachtung einbezogen werden darüber hinaus die das lancierte Selbstbild reflektierenden Porträtkarikaturen, denen vielfach ein fotografisches Porträt Courbets zugrunde lag, was sich durch die seinerzeit häufige Personalunion von Karikaturist und Fotograf erklären lässt. Auch auf diesem Wege setzte sich ein bestimmtes Image Courbets durch. Seine Fotografen suchte er gezielt aus; Courbet erachtete sie, wie er in einem Brief an den von ihm präferierten Étienne Carjat schreibt, als seine „Biographen“. Erst nach seiner vermeintlichen Beteiligung am Sturz der Vendôme-Säule und der sich daran anschließenden politischen Verfolgung entglitt dem Maler die Macht über sein Image.

Literatur: Stephanie Marchal: Gustave Courbet in seinen Selbstdarstellungen, München 2012 (Wilhelm Fink Verlag).

Letzte Ausgaben

 

Hefte ab 150 | Siehe auch: Themen- und Stichwortsuche | Hefte und Einzelbeiträge aus dem Archiv auch als PDF bestellbar.

171

Verletzte Bilder

Anton Holzer, Elmar Mauch (Hg.)

Heft 171 | Jg. 44 | Frühjahr 2024

 
170

Mehr als ein Raum

Das fotografische Atelier: Kunst, Geschäft, Industrie

Anne Vitten (Hg.)

Heft 170 | Jg. 43 | Winter 2023

 
169

Vom Lichtbild zum Foto

Zur westdeutschen Fotoszene der 1950er Jahre

Clara Bolin (Hg.)

Heft 169 | Jg. 43 | Herbst 2023 

 
168

Kritik der Autorschaft

Fotografie als kollektives Unternehmen

Paul Mellenthin (Hg.)

Heft 168 | Jg. 43 | Sommer 2023 

 
167

Artist Meets Archive

Künstlerische Interventionen im fotografischen Archiv

Stefanie Diekmann, Esther Ruelfs (Hg.)

Heft 167 | Jg. 43 | Frühjahr 2023 

 
166

Schreiben über Fotografie II

Steffen Siegel, Bernd Stiegler (Hg.)

Heft 166 | Jg. 42 | Winter 202

 
165

Erinnerung, Erzählung, Erkundung

Fotoalben im 20. und 21. Jahrhundert

Bernd Stiegler, Kathrin Yacavone (Hg.)

Heft 165 | Jg. 42 | Herbst 2022

 
164

Zirkulierende Bilder

Fotografien in Zeitschriften

Joachim Sieber (Hg.)

Heft 164 | Jg. 42 | Sommer 2022

 
163

Black Box Colour

Kommerzielle Farbfotografie vor 1914

Jens Jäger (Hg.)

Heft 163 | Jg. 42 | Frühjahr 2022

 
162

Den Blick erwidern

Fotografie und Kolonialismus

Sophie Junge (Hg.)

Heft 162 | Jg. 41 | Winter 2021

 
161

Norm und Form

Fotoalben im 19. Jahrhundert

Bernd Stiegler, Kathrin Yacavone

Heft 161 | Jg. 41 | Herbst 2021

 
160

Keepsake / Souvenir

Reisen, Wanderungen, Fotografien 1841 bis 1870

Herta Wolf, Clara Bolin (Hg.)

Heft 160 | Jg. 41 | Sommer 2021

 
159

Weiterblättern!

Neue Perspektiven der Fotobuchforschung

Anja Schürmann, Steffen Siegel (Hg.)

Heft 159 | Jg. 41 | Frühjahr 2021

 
158

Die Zukunft der Fotografie

Anton Holzer (Hg.)

Heft 158 | Jg. 40 | Winter 2020 

 
157

Fotogeschichte schreiben. 40 Jahre Zeitschrift Fotogeschichte

Anton Holzer (Hg.)

Heft 157 | Jg. 40 | Herbst 2020 

 
156

Aquatische Bilder. Die Fotografie und das Meer

Franziska Brons (Hg.)

Heft 156 | Jg. 40 | Sommer 2020 

 
155

Wozu Gender? Geschlechtertheoretische Ansätze in der Fotografie

Katharina Steidl (Hg.)

Heft 155 | Jg. 40 | Frühjahr 2020

 
154

Protestfotografie

Susanne Regener, Dorna Safaian, Simon Teune (Hg.

Heft 154 | Jg. 39 | Winter 2019

 
153

Fotografie und Text um 1900

Philipp Ramer, Christine Weder (Hg.)

Heft 153 | Jg. 39 | Herbst 2019

 
152

Fotografie und Design

Linus Rapp,  Steffen Siegel (Hg.)

Heft 152 | Jg. 39 | Sommer 2019

 
151

Nomadic Camera

Fotografie, Exil und Migration

Burcu Dogramaci, Helene Roth (Hg.)

Heft 151 | Jg. 39 | Frühjahr 2019

 
150

Polytechnisches Wissen

Fotografische Handbücher 1939 bis 1918

Herta Wolf (Hg.)

Heft 150 | Jg. 38 | Winter 2018