Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Denise Wiedner

Berlin im Blick des Pressefotografen

Enno Kaufhold (Hg.): Berlin in den Weltstadtjahren. Fotografien von Willy Römer 1919–1933. Berlin: Edition Braus, 2012, 24 x 30 cm, 200 Seiten, 207 Abb. in SW, geb. mit Schutzumschlag, 39,95 Euro.

Erschienen in: Fotogeschichte 126, 2012

Sämtliche Fotografien des Bandes stammen ausnahmslos aus dem rund 50.000 Glasnegative umfassenden Nachlass des Berliner Pressefotografen Willy Römer. Nach dessen Tod befand sich das Archiv zunächst im Besitz von Witwe und Tochter und wurde anschließend von Diethart Kerbs erworben und in Teilen auch bereits publiziert.[1] 2009 wurde die Sammlung von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz erworben. Die Aufarbeitung des Archivmaterials übernahm Stefanie Ketzscher, die bereits vor dem Ankauf die Archivarbeit betreut hat. Verwaltet werden die Nutzungsrechte an den Fotografien Willy Römers sowie deren Erschließung und Digitalisierung von der Agentur der Stiftung, bpk-Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte. Bis dato sind etwa 3.000 Motive online abrufbar.

Vorliegender Band versammelt – wie am Titel unschwer erkennbar – ausschließlich Bilder mit Berlinbezug, die während der Weimarer Republik entstanden sind. Den Zeitraum 1919 bis 1930 gliedert der Herausgeber Enno Kaufhold in fünf Abschnitte, die anhand Römers Fotografien und der Begleittexte schlüssig den Wandel der alten Kaiserstadt bis hin zur Weltstadt der zwanziger Jahre rekonstruieren.

Willy Römer wurde 1887 als viertes Kind des Schneidermeisters Jacob Willy Römer in Berlin geboren. Nach seiner 1903 begonnenen Lehre bei der Fotoagentur “Berliner Illustrations-Gesellschaft” begab er sich auf Wanderschaft. 1908 bis 1910 hielt sich der Fotograf in Paris auf. Während seiner Wanderjahre war er für seinen ehemaligen Lehrherrn Karl Delius tätig, der sich inzwischen Charles nannte. Zusammen mit Walter Bernstein gründete er 1920 die Fotoagentur “Photothek Willy Römer & Bernstein”, die Römer zuvor von dem Pressefotografen Robert Sennecke übernommen und einige Jahre allein geführt hatte.

Schon sehr früh kristallisierte sich das fotografische Interesse Römers heraus. Während des Ersten Weltkriegs war Römer als Infanterist in Russland, Polen und Flandern stationiert, wo er ebenso wie später in Berlin das Leben der einfachen Leute mit einer Plattenkamera festhielt. Schon in seinen frühen Jahren zeichnet sich das breite Themenspektrum seines Œuvres ab. Neben den vom politischen Tagesgeschehen vorgegebenen Themen galt sein Interesse immer auch Motiven des persönlichen Beobachtens. Römer fotografierte prominente Figuren des öffentlichen Lebens, wie etwa Charlie Chaplin, ebenso wie eine alte Bettlerin. Das „unvoreingenommene Interesse am Leben der einfachen Bevölkerungsschicht“ (S. 10) offenbart sich zudem in Aufnahmen von Händlern, Straßenarbeitern, mobilen Kaffeehausbetreibern, Schuhputzern oder Fremdenführerinnen. Die Mehrheit seiner Fotografien zeigt das Berliner Leben auf der Straße. An Motive des glamourösen großstädtischen Lebens und der Prominenz der damals aufblühenden Filmindustrie schien Willy Römer weitestgehend uninteressiert, wenngleich sich vereinzelt Aufnahmen der abendlichen Unterhaltungsbranche, etwa jene der ersten und einzigen Damen-Jazz-Band »Hilda Wards Band« finden.

Als „Chronist Berlins“ (S. 17) dokumentierte Willy Römer die rasante Entwicklung der Stadt in der Zwischenkriegszeit. Wie begeistert die amerikanischen Einflüsse aufgenommen wurden, zeigt er etwa in seinen Aufnahmen von der Eröffnung des Billigkaufhauses Woolworth, des ersten Photomaton, eines Geschäfts mit Fotoautomaten, der größten Autowaschanlage der Welt oder eines Automatenrestaurants nach amerikanischem Vorbild. Auch die vorzugsweise in der neuen Technik des Stahlskelettbaus errichteten Gebäude weckten Willy Römers Aufmerksamkeit. Wenngleich er nicht zu den Fachleuten der Architekturfotografie zählte, so zeugen seine Aufnahmen der Bauten von namhaften Architekten, wie Walter Gropius oder Erich Mendelsohn, doch von einem „durchgehend guten Gespür für die ästhetischen Merkmale der Bauwerke“(S. 120).

Auf der anderen Seite finden sich in dem komplexen Band eine Vielzahl an Fotografien, welche die Folgeerscheinungen des Krieges, die Konsequenzen der Wirtschaftskrise oder die Zeiten der Inflation symbolträchtig festhalten, indem sie beispielsweise den Andrang der Arbeitslosen vor dem scheinbar viel zu kleinen Arbeitsamt in der Sonnenallee oder den Umgang mit den wertlos gewordenen Banknoten festhalten.

Willy Römers Arbeit verdanken wir »Nachblicke« auf historische Großereignisse, wie den Trauerzug zur Beisetzung von Rosa Luxemburg 1919, aber auch Bilder, die weniger überfüllte Straßenszenen zeigen. Eine 1925 entstandene Fotografie der Grenadierstraße im Scheunenviertel dokumentiert das jüdische Zentren Berlins, das kurz nach Machterlangung der Nationalsozialisten im März 1933 durch Deportationen „traurige Bekanntheit“ (S. 85) erlangte. Zugleich machen Römers Aufnahmen das Spannungsfeld einer Metropole sichtbar, die zwischen Fort- und Rückschritt changiert und die sich während der 1920er und 30er Jahre in ständigem Umbruch befindet. Römers Aufnahmen folgen dem Puls der Stadt, indem er mit seinem Apparat und mit seiner uneingeschränkten Aufmerksamkeit namhaften wie namenlosen Akteuren der Großstadt ein Gesicht gibt.

Doch nicht nur die Stadt, sondern auch das Berufsbild des Pressefotografen unterlag in der Zwischenkriegszeit einem fundamentalen Wandel. Die Pressefotografie stand in direktem Konkurrenzverhältnis zu den noch jungen Kinowochenschauen und der expandierenden Filmwirtschaft. Das Medien-Nebeneinander bewirkte, auch das zeigt der vorliegende Band, „deutliche Leistungssteigerungen“ (S. 84). Die  rasanten Veränderungen in der Bilderwelt, etwa vom Stumm- zum Tonfilm, trieb die Etablierung des fotografischen Bildes als Kernelement einer illustrierten Zeitschrift deutlich voran, so dass „eine Zeit noch nie so gut über sich Bescheid gewusst [sic] hat, wenn Bescheid wissen heißt: ein Bild von den Dingen haben, das ihnen im Sinne von Fotografie ähnlich ist“[2].

Die umfangreiche Publikation verbindet auf gelungene Weise die Biografie eines Pressefotografen der frühen Generation mit der Geschichte einer Stadt. Die Auswahl der größtenteils ganzseitigen Abbildungen vermittelt einen guten Überblick über Römers Schaffen. Dessen eigener Akribie verdanken wir neben den Fotografien selbst zahlreiche Informationen zu Kontext und Datierung. Diese Angaben wurden vom Herausgeber teilweise ergänzt. So erfahren wir auch einige private Details aus dem Alltag des Fotografen, wie etwa dass ein eisgekühlter Kakao bei großer Hitze nicht zu verachten sei. Uns Nachgeborenen gibt der Band erstaunliche Einblicke in den Facettenreichtum einer fotografischen Weltanschauung, die thematisch weit gefächert ist: von der Mode über Architektur, Infrastruktur, politisches Geschehen oder Vergnügungsmöglichkeiten. Und die dennoch auf die Bilderwelt einer einzigen Stadt komprimiert ist.


[1] Diethart Kerbs (Hg.): Auf den Straßen von Berlin. Der Fotograf Willy Römer 1887–1979, Ausstellungskatalog Deutsches Historisches Museum Berlin, Berlin 2004.

[2] Siegfried Kracauer: Die Fotografie (1927), in: Hubertus v. Amelunxen, Wolfgang Kemp, Theorie der Fotografie, Bd. II, 1912–1945, München 2006, S. 101-112, hier S. 108.

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