Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Jörn Glasenapp

Eine fotografierende Flaneurin entdeckt

Vivian Maier: Street Photographer. Hg. von John Maloof mit einem Text von Geoff Dyer, München: Schirmer/Mosel 2011, 28,5 x 25,7 cm 136 Seiten, 110 Duotonetafeln, gebunden mit Schutzumschlag, 39,80 Euro

Erschienen in: Fotogeschichte 127, 2013

Bei der so genannten street photography, jener Fotografie also, die sich im Sinne Siegfried Kracauers auf die Straße als einem Ort der Kontingenz einlässt, "an dem das Zufällige übers Planmäßige siegt und unerwartete Zwischenfälle fast die Regel sind", handelt es sich um ein Genre, dessen meisten, vor allem aber berühmtesten Repräsentanten – man denke an Weegee, William Klein, Robert Frank oder Garry Winogrand – männlichen Geschlechts sind. Dies mag, nein, dies wird sich zu guten Teilen einer voreingenommenen Kanonisierungspraxis verdanken, ist darüber hinaus aber auch der Tatsache geschuldet, dass die Straße lange Zeit (und in mancherlei Hinsicht natürlich nach wie vor) eine der Frau nur in beschränktem Maße zugängliche Sphäre darstellte, in der insbesondere die weibliche Übernahme der Rolle des – am besten noch fotografiebewehrten – Blicksubjekts strengen Reglementierungen unterlag. Es galt, was Winogrands 1975 erschienener street photography-Buchklassiker Women Are Beautiful so unmissverständlich (und einigermaßen misogyn) konstatiert: nämlich, dass auch und vor allem auf der Straße der Träger des Blicks männlich, das Objekt desselben aber weiblich ist.

Das Gesagte in Rechnung gestellt, mag man sich somit besonders über den kürzlich gemachten, nicht anders als spektakulär zu nennenden Fund freuen, der dem hier zur Diskussion stehenden Buch zugrunde liegt. Dieses nämlich stellt einen Ausschnitt eines gewaltigen, über 100.000 Aufnahmen umfassenden Bildkorpus dar, das der Kamera einer Fotografin entstammt, die als solche (und auch sonst) noch überhaupt nicht wahrgenommen wurde. Vivian Maier (1926–2009), Tochter französischer und österreichischer Einwanderer, arbeitete in den USA als Kindermädchen und lebte bis zu ihrem Tod weitgehend zurückgezogen, hat jedoch zwischen 1950 und 1990 auf den Straßen New Yorks, vor allem aber Chicagos mit einer zweiäugigen Rolleiflex ein fotografisches Werk geschaffen, das sie posthum als eine durchaus bedeutende Repräsentantin der US-amerikanischen street photography ausweist.

Finden sich in der präsentierten Auswahl auch einige Selbstporträts (auf denen sich die Künstlerin mithilfe von Spiegeln prominent und durchaus selbstbewusst als Fotografin in Szene setzt) und urbane Stillleben, so gilt Maiers Blick fast ausschließlich dem Menschen in der öffentlichen Sphäre, genauer: seinem vielgestaltigen Alltagstun mit seinen flüchtigen Gesten. Dem wiederum widmet sich die Fotografin mit einem in ihren Aufnahmen mehr oder weniger offensiv zum Ausdruck kommenden Willen zur Komposition. Das heißt, das Raue, Direkte, Spontane und bewusst Unperfekte, das die Aufnahmen etwa eines Klein oder Winogrand kennzeichnet, bleibt bei ihr außen vor. Stattdessen dominieren in formaler Hinsicht mitunter ausgesprochen strenge Bildfindungen, die sich dem Chaos der Großstadt geradezu entgegenstellen bzw. es gleichsam in eine visuelle Ordnung zu überführen suchen. Die Kamera erhält somit – wie wir es auch und vor allem bei Henri Cartier-Bresson, aber auch bei W. Eugene Smith beobachten können – den Charakter eines 'Zähmungsinstruments'. Dass hierbei das 'Wesen' der Straße im Kracauerschen Sinne einigermaßen aus dem Blick gerät und man durchaus die (auch mit Blick auf Cartier-Bressons und Smiths Bilder relevante) Frage anschließen könnte, ob es sich überhaupt noch um genuine street photography handelt, versteht sich von selbst.

Insgesamt wartet der vorliegende Band mit gut hundert Aufnahmen auf. Diese werden durchweg in hervorragender Druckqualität präsentiert und geben Maier als eine auch in fototechnischer Hinsicht ausgesprochen kompetente Bildkünstlerin zu erkennen. Leider treten die Fotos dem Betrachter – klammert man das einseitige Vorwort John Maloofs, des 'Entdeckers' Maiers, sowie die mit zwei Seiten ebenfalls nicht eben lange und noch dazu einigermaßen uninformative Einführung Geoff Dyers aus – komplett (kon)textfrei gegenüber. Das heißt, es wurde auf Beschreibungen dessen, was wir auf den Fotos sehen, und Informationen, wo diese aufgenommen wurden, aber auch und vor allem auf Datierungen bzw. Datierungsversuche verzichtet, was die Auseinandersetzung mit dem Bildmaterial selbstredend erheblich erschwert. Nicht zuletzt die – in der Einführung zumindest implizit aufgeworfene und für die fotohistorische Konsekrierung der Maierschen Aufnahmen durchaus relevante – Frage hinsichtlich der Originalität derselben ist unter diesen Voraussetzungen kaum seriös zu beantworten. Es bleibt zu hoffen, dass die von Maloof bereits angekündigten Nachfolgepublikationen zu Maiers Werk in (kon)textueller Hinsicht erheblich mehr zu bieten haben.

Letzte Ausgaben

 

Hefte ab 150 | Siehe auch: Themen- und Stichwortsuche | Hefte und Einzelbeiträge aus dem Archiv auch als PDF bestellbar.

171

Verletzte Bilder

Anton Holzer, Elmar Mauch (Hg.)

Heft 171 | Jg. 44 | Frühjahr 2024

 
170

Mehr als ein Raum

Das fotografische Atelier: Kunst, Geschäft, Industrie

Anne Vitten (Hg.)

Heft 170 | Jg. 43 | Winter 2023

 
169

Vom Lichtbild zum Foto

Zur westdeutschen Fotoszene der 1950er Jahre

Clara Bolin (Hg.)

Heft 169 | Jg. 43 | Herbst 2023 

 
168

Kritik der Autorschaft

Fotografie als kollektives Unternehmen

Paul Mellenthin (Hg.)

Heft 168 | Jg. 43 | Sommer 2023 

 
167

Artist Meets Archive

Künstlerische Interventionen im fotografischen Archiv

Stefanie Diekmann, Esther Ruelfs (Hg.)

Heft 167 | Jg. 43 | Frühjahr 2023 

 
166

Schreiben über Fotografie II

Steffen Siegel, Bernd Stiegler (Hg.)

Heft 166 | Jg. 42 | Winter 202

 
165

Erinnerung, Erzählung, Erkundung

Fotoalben im 20. und 21. Jahrhundert

Bernd Stiegler, Kathrin Yacavone (Hg.)

Heft 165 | Jg. 42 | Herbst 2022

 
164

Zirkulierende Bilder

Fotografien in Zeitschriften

Joachim Sieber (Hg.)

Heft 164 | Jg. 42 | Sommer 2022

 
163

Black Box Colour

Kommerzielle Farbfotografie vor 1914

Jens Jäger (Hg.)

Heft 163 | Jg. 42 | Frühjahr 2022

 
162

Den Blick erwidern

Fotografie und Kolonialismus

Sophie Junge (Hg.)

Heft 162 | Jg. 41 | Winter 2021

 
161

Norm und Form

Fotoalben im 19. Jahrhundert

Bernd Stiegler, Kathrin Yacavone

Heft 161 | Jg. 41 | Herbst 2021

 
160

Keepsake / Souvenir

Reisen, Wanderungen, Fotografien 1841 bis 1870

Herta Wolf, Clara Bolin (Hg.)

Heft 160 | Jg. 41 | Sommer 2021

 
159

Weiterblättern!

Neue Perspektiven der Fotobuchforschung

Anja Schürmann, Steffen Siegel (Hg.)

Heft 159 | Jg. 41 | Frühjahr 2021

 
158

Die Zukunft der Fotografie

Anton Holzer (Hg.)

Heft 158 | Jg. 40 | Winter 2020 

 
157

Fotogeschichte schreiben. 40 Jahre Zeitschrift Fotogeschichte

Anton Holzer (Hg.)

Heft 157 | Jg. 40 | Herbst 2020 

 
156

Aquatische Bilder. Die Fotografie und das Meer

Franziska Brons (Hg.)

Heft 156 | Jg. 40 | Sommer 2020 

 
155

Wozu Gender? Geschlechtertheoretische Ansätze in der Fotografie

Katharina Steidl (Hg.)

Heft 155 | Jg. 40 | Frühjahr 2020

 
154

Protestfotografie

Susanne Regener, Dorna Safaian, Simon Teune (Hg.

Heft 154 | Jg. 39 | Winter 2019

 
153

Fotografie und Text um 1900

Philipp Ramer, Christine Weder (Hg.)

Heft 153 | Jg. 39 | Herbst 2019

 
152

Fotografie und Design

Linus Rapp,  Steffen Siegel (Hg.)

Heft 152 | Jg. 39 | Sommer 2019

 
151

Nomadic Camera

Fotografie, Exil und Migration

Burcu Dogramaci, Helene Roth (Hg.)

Heft 151 | Jg. 39 | Frühjahr 2019

 
150

Polytechnisches Wissen

Fotografische Handbücher 1939 bis 1918

Herta Wolf (Hg.)

Heft 150 | Jg. 38 | Winter 2018