Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Flip Bool

Arbeiterfotografie als Bürgerjournalistik avant la lettre

Wolfgang Hesse (Hg.): Die Eroberung der beobachtenden Maschinen. Zur Arbeiterfotografie der Weimarer Republik, Leipzig: Universitätsverlag, 2012 (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 37), 23,5 x 16,5 cm, 492 S., zahlreiche Abb. in S/W, gebunden, 54 Euro

Erschienen in: Fotogeschichte 127, 2013

In den 1970er- und 80er-Jahren wurde die Arbeiterfotografenbewegung der Periode zwischen den beiden Weltkriegen wiederentdeckt – nicht nur als ein bedeutender Gegenstand fotohistorischer Forschung, sondern auch als anregendes Beispiel für die Dokumentation gesellschaftlicher Verhältnisse. Zu dieser Zeit die Geschichte der Neuen Fotografie und der Neuen Typografie in den Niederlanden studierend, kam mir die linke Orientierung von deren Pionieren mehr und mehr zu Bewusstsein. Ihre Arbeit für die Industrie war von der Hoffnung auf eine neue Gesellschaft im Geiste der Sowjetunion inspiriert. Einen offensichtlichen Beleg hierfür stellte ihre aktive Beteiligung in der holländischen Arbeiterfotografen-Bewegung dar, die – russischen und deutschen Vorbildern folgend – sich in den ersten Monaten des Jahres 1931 als Organisation formiert hatte. 1982 veröffentlichten Bert Hogenkamp, Jeroen de Vries und ich unsere Forschungsergebnisse in dem Buch De arbeidersfotografen. Camera en crisis in de jaren ’30 (Van Gennep/Pegasus, Amsterdam). Als Vertretern der 1968er-Generation stimmte unser Interesse an der Geschichte der Arbeiterfotografie mehr oder weniger mit deren Wiederaufleben in der BRD und der DDR überein. Aber nach dem radikalen politischen Wandel des Jahrs 1989 fand das Thema für gut zwei Jahrzehnte kaum noch irgendwo Beachtung.

Das Jahr 2010 markiert mit zwei Tagungen innerhalb von vier Monaten einen deutlichen Wechsel dieser verschwundenen Aufmerksamkeit. Die erste über The Worker-Photography Movement. Towards a political history of the origins of photographic modernism fand vom 21. bis 23. Januar 2010 in Madrid statt. Sie wurde von Jorge Ribalta in Zusammenhang mit seiner späteren Ausstellung A Hard, Merciless Light (Museo Nacional Centro d’Arte Reina Sofia, Madrid, 6. April bis 22. August 2011) organisiert und von dem Buch The Worker Photography Movement (1926–1939). Essays and Documents begleitet (vgl. die Rezension von Anton Holzer in diesem Heft). Die zweite Tagung fand unter dem Titel Die Eroberung der beobachtenden Maschinen am 16. und 17. April 2010 in Dresden statt und war von Wolfgang Hesse im Zusammenhang des Forschungsprojekts „Das Auge des Arbeiters“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde in Dresden organisiert worden. Beide Tagungen ergänzten sich, unterschieden sich aber in ihrer Fokussierung. War in Madrid der Blick auf die internationale Arbeiterfotografen-Bewegung gerichtet, konzentrierte man sich in Dresden auf Deutschland, speziell auf Sachsen. Wiewohl bedauerlicherweise nur auf Deutsch publiziert, sind die ausgearbeiteten Vorträge dieser Tagung von besonderem Interesse, nicht zuletzt auch deshalb, weil in unterschiedlicher Weise die ehemalige DDR ihren zentralen Bezugspunkt darstellt.

Während Ideologie das Schimpfwort der vergangenen Jahrzehnte gewesen ist, tragen aktuelle Manifestationen etwa des Umwelt- und Tierschutzaktivismus oder die Occupy-Bewegung zu einem neuen Bewusstsein über die Zukunft unserer kapitalistischen, konsumorientierten Gesellschaft bei – sei es nur in kleineren Zirkeln. Wenn auch die Digitalisierung und vor allem die social media die aktivistischen Strategien grundlegend geändert haben, so ist doch diese neuerliche Suche nach ideologischer Orientierung bei der kritischen Darstellung von Alltagsphänomenen sicher einer der Gründe dafür, dass gegenwärtig die Arbeiterfotografie als relevanter Gegenstand in Studien und Debatten zurückgekehrt ist. Wie Wolfgang Hesse in seiner Einleitung zu Die Eroberung der beobachtenden Maschinen feststellt, ist die Erforschung der Arbeiterfotografen-Bewegung dabei vor allem unter dem Gesichtspunkt des dialektischen Verhältnisses von Spontaneität und Organisation von besonderem Interesse – und wenn auch das Buch sich nirgends auf die eben genannten aktuellen Entwicklungen bezieht, so ist gerade dies doch ein entscheidender Aspekt des heutigen Aktivismus.

Die 16 Aufsätze – von denen drei auf Beiträge zur Madrider Tagung zurückgehen und drei weitere eigens für diesen Band geschrieben worden sind – stellen eine große Breite von Perspektiven „Zur Arbeiterfotografie der Weimarer Republik“ zur Diskussion. Doch ist dieser Untertitel ein wenig irreführend, denn die sechs Beiträge im zweiten Teil des Buches über „Historisierungen“ widmen sich dem Wiederaufleben der Arbeiterfotografenbewegung in den 1970er- und 1980er-Jahren.

Die historische Arbeiterfotografen-Bewegung war am Anfang vor Allem auf eine Alternative zur dominanten Macht der bürgerlichen Presse hin angelegt. Grundlage des Aufbaus der Vereinigung der Arbeiter-Fotografen Deutschlands (VdAFD) bildete ein Fotowettbewerb der Arbeiter Illustrierten Zeitung (AIZ) im Jahr 1926. Wie der Aufsatz „Bist Du schon Mitglied?“ Arbeiterfotografie und Polizeistaat von Christian Joschke klarmacht (S. 285-301), betrachtete man die Kamera von Anfang an als Waffe, als Instrument für die Emanzipation der Arbeiterklasse. Joschke zufolge resultierte die wachsende Radikalisierung der Arbeiterbewegung – insbesondere seit 1929 – in einem intensiver werdenden Kampf der Arbeiterfotografenbewegung mit der Polizei und dem Staat. In anderen Worten: Fotografieren an sich wurde mehr und mehr ein Akt des Widerstands.

Nach einem „Prolog“ des Projektleiters Manfred Seifert gehört Christian Joschkes Beitrag zum ersten Teil des Bandes mit dem Titel „Fallstudien“. Hierin ist der Text von Korinna Lorz Das Dorf im Blick. Arbeiterfotografie im Westerzgebirge von besonderen Interesse (S. 67-112). Er behandelt die Arbeiterfotografie in dem Dorf Bermsgrün und seiner Umgebung, mit so ausgezeichneten Fotografen wie Kurt Beck, Erich Meinhold und den Brüdern Kurt und Max Winkler. Eine wichtige Quelle hierfür ist die Diplomarbeit von Jens Bergmann Arbeiterfotografie als Medium der Übermittlung politisch-ästhetischer Wertvorstellungen, dargestellt am Beispiel der Ortsgruppe Bermsgrün der „Vereinigung der Arbeiter-Fotografen Deutschlands“ (Universität Leipzig, Sektion Kultur- und Kunstwissenschaften, Leipzig 1983), in Verbindung mit der Umschrift eines Tonbandinterviews. (In diesem Zusammenhang ist die Bemerkung von Bernd Jürgen Warneken im „Epilog“ des Bandes interessant, die sich auf Diskussionen in der DDR über Oral History als Methode wissenschaftlicher Arbeit bezieht [S. 459 f.].)

Ein weiterer Aufsatz in diesem ersten Teil des Buchs erregte ebenfalls mein Interesse. Unter der Überschrift „Der Unterricht muss auch auf der Straße erteilt werden.“ Stadtraum – Schriftraum – Bildraum beginnt Wolfgang Hesse die fünf Abschnitte seines Beitrag mit „Der Kampf um die Straße“. Entscheidend hierbei ist ein Diagramm von Willi Zimmermann, das „Die Kamera im Dienste der Arbeiter-Klasse“ visualisiert (Der Arbeiter-Fotograf 3, 1929, Heft 8). Von links nach rechts gelesen, sind die Hauptthemen der Arbeiterfotografen: die Straße, die Wohnung, der Betrieb. Dem Programm der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) entsprechend, würde man den Arbeitsplatz an erster Stelle erwarten. Doch aus politischen, fotografischen und sozialen Gründen war dies nicht der Fall und schließlich wurde die Straße das bedeutendste Thema der Arbeiterfotografen. In Bezug auf die Fotomontage als Alternative zur eindimensionalen Repräsentation von Wirklichkeit hebt Hesse die Straße als Hauptsujet und zentralen Erfahrungshorizont für das “montierende Denken" in der Arbeiterfotografenbewegung hervor. Der zweite Teil von Die Eroberung der beobachtenden Maschinen fokussiert auf die Nachkriegs-Rezeption der historischen Arbeiterfotografie-Bewegung und deren Fortführung in der DDR und der BRD. Unter diesem Gesichtspunkt entscheidend ist der Aufsatz Der Radwechsel. Zur Rezeption der Arbeiterfotografie in der DDR von Rolf Sachsse (S. 419-436). Der Autor unterscheidet provisorisch drei Phasen: „Die Phase personaler Kontinuität“, dann „Die Phase ideologischer Kontinuität“ und schließlich „Die Phase historisch-kritischer Kontinuität“. In der unmittelbaren Nachkriegszeit war die zentrale Aufgabe der (ehemaligen) Arbeiterfotografen, was und wie sie in einer Gesellschaft fotografieren sollten, die keine kapitalistische Ausbeutung der Arbeiterklasse mehr kannte. Das Jahr 1959 markierte mit der Gründung der Zentralen Kommission Fotografie des Deutschen Kulturbunds der DDR (ZKF) und der bereits seit 1947 bestehenden Zeitschrift fotografie als ihrem Sprachrohr einen Wendepunkt. Der erste Ehrenpreis der ZKF, der im Jahr 1961 gemeinsam an Richard Peter sen. (vgl. hierzu die kritische Rekonstruktion seiner Biografie von Sylvia Ziegner und Jens Bove: Beruf: Arbeiterfotograf. Zum Werk und zur Rezeption von Richard Peter sen., S. 327-364) und John Heartfield verliehen wurde, belegt die schrittweise Wiederentdeckung der Arbeiterfotografen-Bewegung in den frühen 1960er-Jahren.

Aber Sachsse verweist auch darauf, dass seit 1968 die Hauptimpulse für ein Wiederbeleben der Arbeiterfotografie-Bewegung in der BRD entstanden; beginnend mit einem Themenheft der Zeitschrift Ästhetik und Kommunikation (3, 1973, H. 10), der Gründung der ersten der westdeutschen Arbeiterfotografie-Gruppen in Hamburg, der ersten Ausgabe von deren Zeitschrift Arbeiterfotografie 1975 und der Veröffentlichung des Buchs Der Arbeiter-Fotograf. Dokumente und Beiträge zur Arbeiterfotografie 1926-1932 von Joachim Büthe et al. (Prometheus-Verlag Köln, 1977), das eine Auswahl von Artikeln und Bildern aus dem historischen Der Arbeiter-Fotograf enthält (vgl. hierzu auch den Beitrag von Wilhelm Körner: Wir sind das Auge unserer Klasse, Köln 1980, S. 407-418). Diese Entwicklungen in der BRD wurden natürlich von der DDR unterstützt. Doch wie Jörg Boström in seiner Fallstudie über Walter Ballhause bemerkt (Schatten im Licht. Walter Ballhause. Ein politischer Beobachter und Gestalter, S. 303-324), war eine kritische fotografische Darstellung sozialer Beziehungen innerhalb der Grenzen der DDR selbst unerwünscht.

Sachsse zufolge ist die dritte Phase durch die Ausstellung Medium Fotografie (Galerie Moritzburg, Halle/Saale 1977/78) und ihre Nachwirkungen geprägt: ein Buch desselben Titels im Jahr 1979 und ein Symposium über „Kunst im Klassenkampf“ in Ost-Berlin zu Anfang dieses Jahres. Arbeiterfotografen wurden individuell und nicht mehr nur kollektiv präsentiert und ihr Werk erstmals unter der breiteren Perspektive moderner Fotografie und Kunst im Allgemeinen betrachtet. Aber trotz der international wachsenden Akzeptanz von Fotografie als Kunst wurde die Rolle der Arbeiterfotografie auch in der DDR mit historischen Beziehungen zu ihrer Tradition marginalisiert. Wie Sachsse in seiner Zusammenfassung feststellt, kann nur die bisher vernachlässigte Untersuchung der Gebrauchsgeschichte ein klareres Licht auf die Rolle und Rezeption der Arbeiterfotografie in der DDR werfen.

Nach einem eher generellen „Epilog“ mit fünf Thesen von Bernd Jürgen Warneken über Perspektiven der kulturanthropologischen Arbeiterforschung (S. 457-465) schließt das Buch mit verschiedenen ausführlichen und nützlichen Registern. Aus der Perspektive der heute wachsenden Bürgerjournalistik ist die Geschichte der Arbeiterfotografie-Bewegung als frühe Alternative zur noch immer dominierenden offiziellen Presse sehr relevant. Und auch von verschiedenen fachlichen Blickwinkeln – historischen, volkskundlich-soziologischen, medien- und kunstgeschichtlichen Zugangsweisen – gesehen trägt Die Eroberung der beobachtenden Maschinen in wichtigem Masse dazu bei, diese historische Amateurkultur besser zu kennen und zu beurteilen.

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