Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Kathrin Schönegg

Abstrakte Formationen aus dem Entwicklerbad

Michael Ruetz, Rolf Sachsse (Hg.): Heinz Hajek-Halke. Der Alchimist, Göttingen: Steidl-Verlag, 2012, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Akademie der Künste Berlin, Berlin 8. September bis 4. November 2012, 175 S., 33 x 26 cm, ca. 270 Farb- und S/W-Abbildungen, gebunden, 38,00 Euro.

Erschienen in: Fotogeschichte 128, 2013

„Das ist keine Fotografie mehr im herkömmlichen Sinne, sondern Neuland“, begeisterte sich der geborene Berliner Heinz Hajek-Halke (1898–1983) über seinen Kollegen Kilian Breier. In dessen Bildanalysen und Experimenten der 1960er Jahre sah Hajek-Halke die „Möglichkeit zu einer freien, von Vorbildern unabhängigen Gestaltungsweise“[1] – eine Klassifizierung, die mit Fug und Recht auch auf sein eigenes Werk anwendbar ist.

Hajek-Halkes fast fünf Dekaden umfassendes fotografisches Oeuvre verweigert sich strengen Klassifikationen. Der gelernte Maler begann in den 1920er Jahren als Autodidakt zu fotografieren und widmete sich seinerzeit vor allem experimentellen Fotomontagen, Mehrfachbelichtungen und (Pseudo-)Solarisationen, die er zu kommerziellen Werbezwecken anfertigte. Es folgten Bildreportagen, Fotodokumentationen und biologische Makroaufnahmen. Ab den 1950er Jahren war sein Spätwerk durch abstrakte Arbeiten geprägt, die die Grenzen von Fotografie und Malerei gezielt unterliefen: „Zwei hässliche Eigenschaften“, so beschrieb Hajek-Halke sein Interesse, „überschatten von jeher meinen Charakter in einem Maße, dass ich sie in meinen Beruf mit ‚einbauen‘ musste: Oppositionsgeist und Neugierde. Vornehmer ausgedrückt: Wissensdurst. So kam es, dass ich aus Opposition zur erlernten Malerei Photograph wurde, aus Opposition zur Photographie jedoch Maler blieb.“[2] Diese im Allgemeinen formulierte Selbsteinschätzung trifft insbesondere auf die medialen Hybride seines weitestgehend ungegenständlichen Spätwerks zu. Halb Fotografie, halb Malerei basieren diese Arbeiten auf Verfahren wie dem Fotogramm, der Negativmontage oder dem Cliché Verre, wurden jedoch sowohl vor als auch nach der Belichtung in der Dunkelkammer manuell bearbeitet: Hajek-Halke bemalte, tuschte und rußte seine Träger, fügte blasenbildende Ölfarben hinzu, kratze in die Oberflächen und retuschierte die erhaltenen Formationen nach der Belichtung erneut. Den partiell nicht steuerbaren Prozess der fotochemischen Reaktion kombinierte er derart mit akribisch vorgezeichneten Skizzen, die in mehreren Überarbeitungsstufen inner- und außerhalb des Labors ihre fotografische Realisation fanden. „Gelenkte Zufälligkeiten!“[3], die zwischen Formfindung und Formverlust changierten und für die Franz Roh den Begriff der Lichtgrafik prägte, „[w]eil die Praktiken oft über das Fotografische hinausgehen“[4].

Im Nachkriegsdeutschland der 1950er Jahre fand nicht nur Hajek-Halke den fotografischen Weg in die Abstraktion. Das künstlerische Arbeiten seiner Zeit war insgesamt von anti-mimetischen Tendenzen geprägt, die, neben Franz Roh, Otto Steinert und J.A. Schmoll gen. Eisenwerth als theoretische „Grandseigneurs der sich neu formierenden Fotokunst“[5] vorantrieben. Auch Hajek-Halke war seit 1952 Mitglied der Gruppe Fotoform, die in allen drei Ausstellungen zur subjektiven fotografie sowie den dazugehörigen Bildbänden (1951, 1955, 1959)[6] vertreten war und die Abstraktion als „absolute fotografische Gestaltung“[7] zum Programm erhoben hatte. Obschon Hajek-Halke weder der erste, noch der einzige Fotokünstler war, der mit abstrakten Formationen experimentierte, bündelt sein lichtgrafisches Spätwerk eine Fülle an (produktions-)ästhetischen Bestrebungen der Zeit, wie kaum ein anders. So lassen sich Analogien von Hajek-Halkes Rotationsbildern zu den Schwingungsfiguren Peter Keetmans oder Heinrich Heidersbergers ebenso herstellen, wie von seinen chemiebasierten Direktbearbeitungen fotografischer Negative zu den Gelantinemalereien Chargesheimers oder den Chemigrammen Pierre Cordiers. Nichtsdestotrotz haben seine Lichtgrafiken bis heute vergleichsweise wenig Beachtung erfahren. Dies mag nicht zuletzt daran liegen, dass die um 1950 noch als innovativ gefeierten Bestrebungen der subjektiven fotografie bereits wenige Zeit später als Formalismus etikettiert worden waren und die Tendenz zurück zur abbildenden Fotografie wies, während Hajek-Halke bis 1970 weiterhin abstrakt arbeitete.

Mit Der Alchimist liegt im Steidl-Verlag nun die dritte Publikation zu Hajek-Halke vor, die den Überblick über sein fotografisches Gesamtwerk komplettiert und sich erstmals exklusiv dem lichtgrafischen Spätwerk widmet. Sie schließt an die zweibändige Monografie Heinz Hajek-Halke: Form aus Licht und Schatten (2005) an, die auf der ersten Retrospektive des Künstlers basierte und die vorangehenden experimentellen, aber stärker am Gegenstand orientierten Arbeiten vorstellte. Noch zu Lebzeiten übergab Hajek-Halke seinen gesamten Nachlass an Michael Ruetz, der zusammen mit der Berliner Akademie der Künste das dort beheimatete Hajek-Halke Archiv gründete, aus dem sich alle drei Bände speisen.

Der reich bebilderte Katalog hebt die Bedeutung von Hajek-Halkes abstraktem Spätwerk bereits durch die Auskopplung dieser Arbeiten aus seinem Gesamtoeuvre hervor. In seinem klugen, großformatigen Design, das viele Arbeiten nahezu in Originalmaßen reproduziert, führt er die vorhergehenden Bände fort. Die glückliche Fügung, dass Hajek-Halke über seine Bildproduktion akribisch Protokoll führte, ermöglichte es den Herausgebern, den Arbeiten einen ausführlichen Werkkatalog zur Seite zu stellen – eine Entscheidung, die gerade bei diesen produktionsästhetisch komplexen Werken hilfreich ist. Die detaillierten Angaben des Werkkatalogs werden in chronologischer Reihenfolge präsentiert und eröffnen damit ideale Bedingungen, von denen die weitere Forschung profitieren wird. Ebenso positiv fällt das Glossarium auf, in dem sich prägnante Informationen zu Praktiken wie dem Reliefdruck, der Negativmontage oder der Polarisation finden. Sie ermöglichen es auch technisch weniger versierten Lesern die Herstellung der Werke nachzuvollziehen. Zudem orientieren sie sich an Hajek-Halkes eigener Präsentationsform, der bereits in seinem Buch Lichtgraphik (1964) ebensolche Erläuterungen zu seinen technischen Angaben beifügte.

Das opulente Bildmaterial des Bandes wird durch zwei Texte der Herausgeber gerahmt: Rolf Sachsses fotohistorische Einordnung des abstrakten Spätwerks hält eine gute Balance, indem sie die fotografische Relevanz Hajek-Halkes betont, zugleich jedoch dessen malerische Einflüsse aufzeigt. In Kombination mit Michael Ruetz’ biografischer Skizze zur Übergabe des Nachlasses ergibt sich eine schöne, wenn auch knappe Einführung in das Thema, die insgesamt länger hätte ausfallen dürfen. Zu begrüßen ist hingegen, dass die Akzentuierung der Aktualität Hajek-Halkes vor dem Hintergrund digitaler Bildwelten in diesen Band keinen Eingang mehr gefunden hat – die kaum zu überschätzende Relevanz seines Werks zeigt der Katalog auch ohne diese recht teleologische Verknüpfung sehr gut.

 


[1]        Heinz Hajek-Halke: Vorwort, in: Lichtgrafik. Heinz Hajek-Halke, Düsseldorf, Wien 1964, o.S.

[2]        Heinz Hajek-Halke: Experimente in Farbe, in: Walter Boje (Hg.): Magie der Farbenphotographie, Düsseldorf/Wien 1961, S. 86-95, hier S. 86.

[3]        Heinz Hajek-Halke: Produktionsbeschreibung zur Arbeit Das Gewächshaus Paul Klees. Treibhaus der Missgunst (um 1955), in: Michael Ruetz, Rolf Sachsse (Hg.): Heinz Hajek-Halke. Der Alchimist, Berlin 2012, S. 107.

[4]        Franz Roh: Einleitung, in: Hajek-Halke: Lichtgrafik, Düsseldorf 1964, o.S.

[5]        Rolf Sachsse: Der Alchimist. Zur Arbeitsweise, Formfindung und Wirkung von Heinz Hajek-Halkes Spätwerk, in: Michael Ruetz, Rolf Sachsse (Hg.): Heinz Hajek-Halke. Der Alchimist, Berlin 2012, S. 13-18, hier S. 14.

[6]        Die subjektive fotografie 3 wurde nicht mehr durch einen Bildband begleitet, dafür widmete die Schweizer Zeitschrift Camera der Ausstellung einen kurzen, aber recht ausführlich bebilderten Artikel. Vgl. Otto Toussaint: subjektive fotografie. Nach einem Gespräch mit Otto Steinert, in: Camera. Internationale Zeitschrift für Photographie und Film, Bd. 38, Luzern 1959, S. 5-18.

[7]        Otto Steinert: Über die Gestaltmöglichkeiten der Fotografie, in: Ders.: subjektive fotografie 2. Ein Bildband moderner Fotografie, München 1955, S. 7-12, hier S. 12.

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