Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Ulrike Matzer

Fotografie als Technik- und Kulturgeschichte

Miriam Halwani (Hg.): Photographien führen wir nicht ...
Erinnerungen des Sammlers Erich Stenger (1878–1957), Heidelberg, Berlin: Kehrer Verlag, 2014. Mit Texten von Miriam Halwani, Cornelia Kemp, Ulrich Pohlmann und Erich Stenger, 280 S., 17 x 24,3 cm, 138 Abb. in S/W, 29,90 Euro. Buchpublikation zur Ausstellung Das Museum der Fotografie: Eine Revision im Museum Ludwig Köln (28. Juni bis 16. November 2014).

Erschienen in: Fotogeschichte 135, 2015

Das Ansinnen, ein Museum der Fotografie einzurichten, reicht bis ins späte 19. Jahrhundert zurück – beginnend mit kleineren Schausammlungen in Forschungsinstituten wie jenem von Hermann Wilhelm Vogel an der TH Berlin oder dem bereits beachtlichen Bestand an Bildproben und Apparaten an der Wiener Lehr- und Versuchsanstalt für Photographie und Reproductionsverfahren. Deren Direktor Josef Maria Eder verfasste 1895 ein Plädoyer, um die Exponate in geeigneten Räumlichkeiten auch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.[1] Die jüngste Schau im Kölner Ludwig Museum rollte die historische Thematik aus einer heutigen Perspektive wieder auf. Sie konzentrierte sich auf jenes von Erich Stenger geplante, jedoch nicht realisierte frühe Museum der Fotografie sowie auf den Umgang mit früher Fotografie in einem Museum, das moderner und zeitgenössischer Kunst gewidmet ist. Die beeindruckend reichhaltige technik- und kulturhistorische Fotografica-Sammlung Stengers befindet sich schließlich seit 1986 im Haus; legendäre Ausstellungen zur Frühzeit des Mediums wie „Silber und Salz“ (1989) oder „Italien sehen und sterben“ (1995) waren wesentlich aus ihr bestückt. Damals noch Dauerleihgabe der Agfa („Agfa Foto-Historama“), wurde die Kollektion 2005 definitiv angekauft und als nationales Kulturgut klassifiziert. Von welchem Wert diese fotohistorische Querschnittssammlung heute ist, wie sie sich zu den anderen Fotobeständen des Museum verhält (etwa der Sammlung Fritz Gruber), in welcher Form sie in künftige Kunstausstellungen zu integrieren wäre und wie durch weitere Ankäufe zu ergänzen – all diese Fragen stieß Miriam Halwani in der ersten von ihr verantworteten Schau an. Seit Sommer 2013 Kuratorin der Fotosammlung in der Nachfolge Bodo von Dewitz’ hatte sie sich bereits in ihrer Dissertation über die Geschichte der Fotogeschichte ausführlich mit der Sammlung Stenger als epistemischer Grundlage für dessen Historiografie befasst.[2]


Der heutige Kontext der Bildwissenschaften erlaubt einen neuen, vorbehaltlosen Blick auf die mitunter sehr disparaten Motive. Eben das wurde in der Ausstellung, wie ich finde, recht gelungen visualisiert: Gruppen einzelner „Anwendungen“ von Fotografie (wie Stenger es nannte) fanden sich in einem dezent markierten Geviert gehängt; außerhalb davon war dem je ein Exponat aus dem übrigen Museumsbestand gegenübergestellt, um zum Nachdenken über die konzeptuelle Nähe oder Distanz zeitgleicher Bildfindungen anzuregen. Ein gutes Dutzend Pflanzenfotografien etwa war auf diese Art mit einer Frottage von Max Ernst akzentuiert, was nicht nur ikonografisch schön korrespondierte, sondern auch auf die frühe fotogenische Praxis des Naturselbstdrucks verwies. Im Falle der Tierfotos als einer weiteren Sektion fand sich neben prämiierten Pferden, Muybridges’ Bewegungsbildern und Hundeporträts eine Collage mit mythologischem Schwan von Moholy-Nagy – was die Lücken in Stengers Sammlung deutlich machte, sein offensichtliches Unverständnis für fotokünstlerische Avantgarden.


Als Fotochemiker war Erich Stenger primär an Bildbeispielen als Belegen für bestimmte Verfahren und Praktiken interessiert, für den ästhetischen Eigenwert von Motiven hatte er wenig Sinn. Als Sammler wie Wissenschaftler wirkt er janusköpfig: einerseits noch ganz dem 19. Jahrhundert verhaftet und so wie der eine Generation ältere Josef Maria Eder, mit dem er in engem Austausch stand, an fototechnischen Entwicklungen, neuen Anwendungen und enzyklopädischen Formaten orientiert. Sein kulturhistorisches Interesse für alle möglichen Praxisformen und „Begleiterscheinungen“ der Fotografie (so seine Diktion), weist zum anderen jedoch weit über seine Zeit hinaus. Nicht nur, dass er viele Pionierfiguren (wieder) entdeckte und durch profunde Materialsuche deren Œuvre und Vita rekonstruierte: Maxime du Camp, dessen Gesamtwerk er erwarb, Johann Baptist Isenring, Gustave Le Gray oder Franziska Möllinger mit ihrem Mappenwerk nach geätzten Daguerreotypien, um nur einige zu nennen. Zu einer Zeit, wo dies kaum jemanden kümmerte, sammelte er Schmuckobjekte mit fotografischen Porträts, Spottbilder, die einiges über den Status des neuen Mediums aussagen, ephemere Dokumente fotogewerblicher Vereine und dergleichen Randständiges mehr.


Eine preziosenhafte Auslage der Objekte wurden in der Kölner Schau vermieden; in nüchternen Vitrinen und neutralen Rahmen ohne Passepartout kamen die Exponate vor allem in ihrer Materialität zum Tragen. Ein Eindruck dessen, wie Stenger gesammelt hat und was, wurde einem gleich eingangs auf einem lagerartigen Regal vermittelt: von winzigen Chromolithografien, wie sie sich einst im Liebig-Fleischextrakt fanden, über Heiligenbildchen, Stickmustertücher und Nippes bis hin zu allen denkbaren populären Verbreitungsformungen fotografischer Bilder. Beinahe rührend wirken nicht nur die Kistchen, die Stenger dafür adaptierte, sondern vor allem seine Beschriftungsschilder, die er nicht selten mit einer maschingetippten Zierbordüre versah und teils direkt in die Bildmotive klebte. Doch nicht alle Objekte lassen sich derart leicht zuordnen, da eine verlässliche Inventarliste fehlt. Noch zu Lebzeiten Stengers, 1955, hatte die Agfa die Sammlung erstanden und später um eigene Erwerbungen ergänzt.


Zumindest in Teilen lässt die Provenienz sich über Stengers Lebenserinnerungen rekonstruieren. Diese wurden nun als Begleitbuch zur Schau erstmals ediert und von Miriam Halwani, Cornelia Kemp und Ulrich Pohlmann kundig mit kritischen Kommentaren und kontextualisierenden Erläuterungen versehen. Die Publikation besticht vor allem durch ihre lesefreundliche Gestaltung: Dem je auf der rechten Seite gedruckten O-Ton stehen links die Anmerkungen und gelegentlich Illustrationen gegenüber. Ausgewählt wurden aus dem Manuskript nur unmittelbar auf die Fotografie bezogene Passagen. 1945 angesichts der Kriegsverheerungen in der württembergischen Provinz verfasst, war diese Niederschrift einerseits wohl therapeutisch motiviert,[3] sie diente zugleich aber pragmatisch dazu, sein Lebenswerk aus der Erinnerung zu rekonstruieren. Das Berliner Hochschulinstitut war ausgebombt, im Zuge der 1944 erfolgten Verlegung des Lehrbetriebs an die Deutsche TH in Brünn war Stengers Forschungsmaterial zur Gänze dorthin ausgelagert worden; ob er es je wieder erhalten würde, war mehr als ungewiss. Die auf hunderten beschlagworteten Karteikarten verfassten Memoiren entsprechen dem Typus einer Technikerbiografie,[4] d.h. unter weitgehender Aussparung der privaten Sphäre und persönlicher Ansichten wird ein kohärentes Bild eines vom beruflichen Ehrgeiz absorbierten Menschen präsentiert. Der Sammler berichtet von den Mühen, frühe Fotografica ausfindig zu machen, zu einer Zeit, wo Kunsthändler und Antiquare seine Frage mit einem müden Lächeln quittierten. Er schildert die Professionalisierung seiner Suchstrategien, beschreibt Umfang und Qualität der Kollektion und referiert abschnittsweise die Geschichte einzelner Verfahren. Seine wissenschaftshistorische Perspektive ist – der Zeit entsprechend – internalistisch. Gegenüber der ideologischen Indienstnahme als Sammler und Ausstellungsmacher durch das NS-Regime scheint er kein Problembewusstsein zu haben; freimütig erwähnt er seine erfolgreiche Kooperation an der Berliner Propagandaschau „Die Kamera“ 1933 ebenso wie die wiederholten Besuche Heinrich Hoffmanns bei ihm. Während der zeithistorische Kontext vom später als „Mitläufer“ eingestuften Stenger vollends ausgeblendet wird, lässt sich indes einiges über die Verbindungen innerhalb des kleinen Netzwerks an Fotofachmännern wie Vogel, Eder, Miethe, Traube oder Epstean in Erfahrung bringen. Durch letzteren war Stenger wohl über die bevorstehende Gründung des George Eastman House in Rochester als erstem Fotomuseum weltweit informiert. Sein eigener Radius blieb jedoch im Wesentlichen auf den deutschsprachigen Raum beschränkt, so wie seine Rezeption es bis heute noch ist.


Das Buch regt unter anderem dazu an, Stengers findige Praxis mit derjenigen anderer Fotosammler im Vergleich zu sehen, mit denen er im Austausch stand (und über die bereits wissenschaftliche Studien vorliegen), mit Raoul Korty etwa oder dem „Polyhistor“ Anton Maximilian Pachinger. Für das Ludwig Museum heißt die Revision vor allem, klarzustellen, wie braun durchwachsen das Kulturgut ist und wie die Institution selbst sich zu „Geschichte“ verhält. Zukunftsgerichtet sind die Vorhaben, die eine adäquate Umsetzung der Stengerschen Museumspläne betreffen: Mehrere Digitalisierungsprojekte wurden initiiert, um die Bilder, Bücher und Objekte zu erfassen und sowohl online (www.kulturelles-erbe-koeln.de) wie auch vor Ort in einem Studiensaal allgemein zugänglich zu machen.


[1] Josef Maria Eder: „Photographische Museen und photographische Reliquien“, in: Photographische Rundschau, Bd. 9, 1895, S. 73-78.

[2] Miriam Halwani: Geschichte der Fotogeschichte 1839-1939, Berlin 2012.

[3] Vgl. Bodo von Dewitz: „‚... sich von einer Arbeit durch eine andere erholen ...‘ Erich Stenger und seine Geschichte der Fotografie“, in: Fotogeschichte, Jg. 17, Heft 64, 1997, S. 3-18.

[4] Vgl. Barbara Orland: „Autobiographien von Technikern im 19. und 20. Jahrhundert“, in: Wilhelm Füßl, Stefan Ittner (Hg.): Biographie und Technikgeschichte (Sonderheft der Zeitschrift Bios, Jg. 11, 1998), S. 78-91.

 

Letzte Ausgaben

 

Hefte ab 150 | Siehe auch: Themen- und Stichwortsuche | Hefte und Einzelbeiträge aus dem Archiv auch als PDF bestellbar.

171

Verletzte Bilder

Anton Holzer, Elmar Mauch (Hg.)

Heft 171 | Jg. 44 | Frühjahr 2024

 
170

Mehr als ein Raum

Das fotografische Atelier: Kunst, Geschäft, Industrie

Anne Vitten (Hg.)

Heft 170 | Jg. 43 | Winter 2023

 
169

Vom Lichtbild zum Foto

Zur westdeutschen Fotoszene der 1950er Jahre

Clara Bolin (Hg.)

Heft 169 | Jg. 43 | Herbst 2023 

 
168

Kritik der Autorschaft

Fotografie als kollektives Unternehmen

Paul Mellenthin (Hg.)

Heft 168 | Jg. 43 | Sommer 2023 

 
167

Artist Meets Archive

Künstlerische Interventionen im fotografischen Archiv

Stefanie Diekmann, Esther Ruelfs (Hg.)

Heft 167 | Jg. 43 | Frühjahr 2023 

 
166

Schreiben über Fotografie II

Steffen Siegel, Bernd Stiegler (Hg.)

Heft 166 | Jg. 42 | Winter 202

 
165

Erinnerung, Erzählung, Erkundung

Fotoalben im 20. und 21. Jahrhundert

Bernd Stiegler, Kathrin Yacavone (Hg.)

Heft 165 | Jg. 42 | Herbst 2022

 
164

Zirkulierende Bilder

Fotografien in Zeitschriften

Joachim Sieber (Hg.)

Heft 164 | Jg. 42 | Sommer 2022

 
163

Black Box Colour

Kommerzielle Farbfotografie vor 1914

Jens Jäger (Hg.)

Heft 163 | Jg. 42 | Frühjahr 2022

 
162

Den Blick erwidern

Fotografie und Kolonialismus

Sophie Junge (Hg.)

Heft 162 | Jg. 41 | Winter 2021

 
161

Norm und Form

Fotoalben im 19. Jahrhundert

Bernd Stiegler, Kathrin Yacavone

Heft 161 | Jg. 41 | Herbst 2021

 
160

Keepsake / Souvenir

Reisen, Wanderungen, Fotografien 1841 bis 1870

Herta Wolf, Clara Bolin (Hg.)

Heft 160 | Jg. 41 | Sommer 2021

 
159

Weiterblättern!

Neue Perspektiven der Fotobuchforschung

Anja Schürmann, Steffen Siegel (Hg.)

Heft 159 | Jg. 41 | Frühjahr 2021

 
158

Die Zukunft der Fotografie

Anton Holzer (Hg.)

Heft 158 | Jg. 40 | Winter 2020 

 
157

Fotogeschichte schreiben. 40 Jahre Zeitschrift Fotogeschichte

Anton Holzer (Hg.)

Heft 157 | Jg. 40 | Herbst 2020 

 
156

Aquatische Bilder. Die Fotografie und das Meer

Franziska Brons (Hg.)

Heft 156 | Jg. 40 | Sommer 2020 

 
155

Wozu Gender? Geschlechtertheoretische Ansätze in der Fotografie

Katharina Steidl (Hg.)

Heft 155 | Jg. 40 | Frühjahr 2020

 
154

Protestfotografie

Susanne Regener, Dorna Safaian, Simon Teune (Hg.

Heft 154 | Jg. 39 | Winter 2019

 
153

Fotografie und Text um 1900

Philipp Ramer, Christine Weder (Hg.)

Heft 153 | Jg. 39 | Herbst 2019

 
152

Fotografie und Design

Linus Rapp,  Steffen Siegel (Hg.)

Heft 152 | Jg. 39 | Sommer 2019

 
151

Nomadic Camera

Fotografie, Exil und Migration

Burcu Dogramaci, Helene Roth (Hg.)

Heft 151 | Jg. 39 | Frühjahr 2019

 
150

Polytechnisches Wissen

Fotografische Handbücher 1939 bis 1918

Herta Wolf (Hg.)

Heft 150 | Jg. 38 | Winter 2018