Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Michalis Valaouris

Fotografie und das Dispositiv Perspektive

Dissertation, Kunsthistorisches Institut, Freie Universität Berlin, verteidigt am 20. April 2015; Betreuer: Prof. Dr. Gregor Stemmrich, Prof. Dr. Peter Geimer, Kontakt: m.valaouris(at)fu-berlin.de

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 137, 2015

Wenngleich die Perspektive eine Grundlage westeuropäischer Bildtraditionen darstellt, beschäftigten Fragen von Perspektivität Fototheoretiker eher selten. Man erkannte zwar in der Linearperspektive der Renaissance einen historischen Ursprung der Fotografie (H. Schwarz, P. Galassi, G. Batchen), doch welche Bedeutung oder gar Aktualität dieser Ursprung für die Fotografie hat, bleibt noch zu diskutieren. Von dieser Forschungslage ausgehend fragt diese Dissertation nach dem Verhältnis der Perspektive zum Gefüge der Kamera, und danach, wie dieses die fotografische Ikonizität prägt. Eine Basis für die Bearbeitung dieser Fragestellung bilden die Studien zur Theorie der Perspektive und zur Fototheorie des französischen Kunsthistorikers Hubert Damisch.

Eine strukturelle Analyse der Lichtprojektion in der Kamera zeigt zunächst, dass das Licht darin nicht natürlich, sondern strukturiert verläuft. Die Blende, die Lichtprojektion und das Lichtbild auf der Rückseite des Apparats (Abb. 1) sind als perspektivisches System angelegt – sie reaktivieren jeweils die Funktionen eines Augenpunkts, der Sehstrahlen und des „Schnitts der Sehpyramide“ im Sinne Albertis (Abb. 2). Dieses Dispositiv ist nicht neutral, sondern nach einem historischen Repräsentationssystem modelliert. Das Dispositiv Perspektive ist in diesem Sinne in die Kamera integriert und übt eine symbolische Funktion aus: es transkribiert die Realität in ein Bild, in das ein Subjekts als Blick symbolisch eingeschrieben wird. Hier trifft die Fototheorie die Theorie der Perspektive: die Subjektkonstitution im Bild als Blick, die für die Perspektive grundlegend ist, ist auch für die ikonische Formation der fotografischen Spur signifikant.

Im nächsten Arbeitsschritt wird die Funktion des perspektivischen Dispositivs systematisch auf Ebene des fotografischen Bildes untersucht – durch Analysen von Fotografien, die die Position der Kamera und des Subjekts im Bild thematisieren. Oft nimmt die Perspektive formelhafte, z.B. zentralperspektivische Züge an (am Beispiel einer Aufnahme von E. Atget), oder sie wird verflacht und fast aufgehoben (B. Voïta). Manchmal schafft sie einen objektivierenden Blick auf den Referenten und wird wissenschaftlich (J. Ruskin), oder sie sucht unter dem Einfluss des Begehrens die Nähe zum Referenten und wird erotisch oder nostalgisch aufgeladen (J.H. Lartigue/G. Le Gray). Solche Modulationen der Perspektive verdeutlichen, dass sie in sehr heterogenen fotografischen Diskursen als visuelles Dispositiv präsent ist.

Über die Perspektive hinaus existieren in der fotografischen Bildproduktion auch alternative Darstellungsmodi. So zum Beispiel das Fotogramm, das aperspektivisch ist; das Panoramafoto, das als kurvilineare Perspektive formiert wird; oder das cliché-verre, das kameralos und als Handzeichnung gestaltet wird. Exemplarische Analysen dieser Bildarten (R. Rauschenberg/ S. Weil, E. Zola, C. Corot) beleuchten auf negativem Wege die dominante Rolle der Perspektive in der fotografischen Bildproduktion, ebenso wie die Tatsache, dass fotografische Spuren durch verschiedene Dispositive unterschiedliche ikonische Modi entwickeln.

In die Kamera integriert, formiert die Perspektive die Ikonizität der Fotografie einen Schritt vor dem Index. Somit lebt sie als kultureller Ursprung in der Medialität der Fotografie fort. Dieser Ursprung ist jedoch seit langem naturalisiert; man vergisst dessen westeuropäische Genealogie. So gesehen bedeuteten der Export und die Expansion der Fotografie im 19. Jahrhundert auch eine Globalisierung des perspektivischen Dispositivs, bzw. des westeuropäischen Modells ihrer Subjektivität. Heute bildet jedoch die Perspektive nicht nur für westliche Kulturen eine „symbolische Form“, wie Erwin Panofsky sie in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts interpretierte; inzwischen wurde sie als Dispositiv von Kulturen angeeignet, für die sie entweder unbekannt oder nicht zentral war.

Letzte Ausgaben

 

Hefte ab 150 | Siehe auch: Themen- und Stichwortsuche | Hefte und Einzelbeiträge aus dem Archiv auch als PDF bestellbar.

171

Verletzte Bilder

Anton Holzer, Elmar Mauch (Hg.)

Heft 171 | Jg. 44 | Frühjahr 2024

 
170

Mehr als ein Raum

Das fotografische Atelier: Kunst, Geschäft, Industrie

Anne Vitten (Hg.)

Heft 170 | Jg. 43 | Winter 2023

 
169

Vom Lichtbild zum Foto

Zur westdeutschen Fotoszene der 1950er Jahre

Clara Bolin (Hg.)

Heft 169 | Jg. 43 | Herbst 2023 

 
168

Kritik der Autorschaft

Fotografie als kollektives Unternehmen

Paul Mellenthin (Hg.)

Heft 168 | Jg. 43 | Sommer 2023 

 
167

Artist Meets Archive

Künstlerische Interventionen im fotografischen Archiv

Stefanie Diekmann, Esther Ruelfs (Hg.)

Heft 167 | Jg. 43 | Frühjahr 2023 

 
166

Schreiben über Fotografie II

Steffen Siegel, Bernd Stiegler (Hg.)

Heft 166 | Jg. 42 | Winter 202

 
165

Erinnerung, Erzählung, Erkundung

Fotoalben im 20. und 21. Jahrhundert

Bernd Stiegler, Kathrin Yacavone (Hg.)

Heft 165 | Jg. 42 | Herbst 2022

 
164

Zirkulierende Bilder

Fotografien in Zeitschriften

Joachim Sieber (Hg.)

Heft 164 | Jg. 42 | Sommer 2022

 
163

Black Box Colour

Kommerzielle Farbfotografie vor 1914

Jens Jäger (Hg.)

Heft 163 | Jg. 42 | Frühjahr 2022

 
162

Den Blick erwidern

Fotografie und Kolonialismus

Sophie Junge (Hg.)

Heft 162 | Jg. 41 | Winter 2021

 
161

Norm und Form

Fotoalben im 19. Jahrhundert

Bernd Stiegler, Kathrin Yacavone

Heft 161 | Jg. 41 | Herbst 2021

 
160

Keepsake / Souvenir

Reisen, Wanderungen, Fotografien 1841 bis 1870

Herta Wolf, Clara Bolin (Hg.)

Heft 160 | Jg. 41 | Sommer 2021

 
159

Weiterblättern!

Neue Perspektiven der Fotobuchforschung

Anja Schürmann, Steffen Siegel (Hg.)

Heft 159 | Jg. 41 | Frühjahr 2021

 
158

Die Zukunft der Fotografie

Anton Holzer (Hg.)

Heft 158 | Jg. 40 | Winter 2020 

 
157

Fotogeschichte schreiben. 40 Jahre Zeitschrift Fotogeschichte

Anton Holzer (Hg.)

Heft 157 | Jg. 40 | Herbst 2020 

 
156

Aquatische Bilder. Die Fotografie und das Meer

Franziska Brons (Hg.)

Heft 156 | Jg. 40 | Sommer 2020 

 
155

Wozu Gender? Geschlechtertheoretische Ansätze in der Fotografie

Katharina Steidl (Hg.)

Heft 155 | Jg. 40 | Frühjahr 2020

 
154

Protestfotografie

Susanne Regener, Dorna Safaian, Simon Teune (Hg.

Heft 154 | Jg. 39 | Winter 2019

 
153

Fotografie und Text um 1900

Philipp Ramer, Christine Weder (Hg.)

Heft 153 | Jg. 39 | Herbst 2019

 
152

Fotografie und Design

Linus Rapp,  Steffen Siegel (Hg.)

Heft 152 | Jg. 39 | Sommer 2019

 
151

Nomadic Camera

Fotografie, Exil und Migration

Burcu Dogramaci, Helene Roth (Hg.)

Heft 151 | Jg. 39 | Frühjahr 2019

 
150

Polytechnisches Wissen

Fotografische Handbücher 1939 bis 1918

Herta Wolf (Hg.)

Heft 150 | Jg. 38 | Winter 2018