Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Thomas Steinfeld

Ein spektakulärer Fotofund

Die Venedig-Daguerreotypien des britischen Kunsthistorikers John Ruskin

Ken Jacobson, Jenny Jacobson: Carrying off the Palaces: The Lost Daguerreotypes of John Ruskin, London: Bernard Quaritch Publishers, 2015, 432 Seiten, 25 x 30 cm, 601 Abb. in Farbe und S/W, 85 Pfund. Das Buch ist nur direkt vom Verlag zu beziehen: http://www.quaritch.com/books/U31/ (ISBN 978-0-9563012-7-7)

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 138, 2015

Als Jenny Jacobsen, eine Sammlerin und Händlerin historischer Fotografien in London, im März 2006 das Angebot eines Auktionshauses aus Penrith im Nordwesten Englands studierte, fiel ihr ein Eintrag auf: Eine Schachtel aus Mahagoni war dort annonciert. Der Inhalt war als „Fotografien auf Metall“ bezeichnet, deren Gegenstände waren als „Bauwerke“ und „Arbeiten in Stein“ benannt. Jenny Jacobsen hatte Erfahrung mit den Einträgen kleiner Auktionshäuser in der Provinz. Sie wußte, wie ungenau sie sein und welche Mißverständnisse sich darin verbergen konnten. Zusammen mit ihrem Mann Ken ermittelte sie, daß es sich um Daguerreotypien handeln mußte – die ersten Fotografien überhaupt, seltene, bei Sammlern begehrte Objekte. Bald stellte sich heraus, daß die Fotografien Städte und Landschaften zeigten. Das ließ sie noch seltener werden, denn die meisten Daguerreotypien sind Porträts. Und schließlich kam heraus, daß zumindest einige der Bilder in Venedig  aufgenommen worden waren.

„Wer machte Daguerreotypien von Venedig?“, fragte Jenny Jacobsen ihren Mann. „Nun ja, John Ruskin ..., aber sie sind alle in Museen oder Bibliotheken“, zweifelte dieser. „Die Versteigerung findet in Cumbria statt“, antwortete Jenny Jacobsen. „Das ist seine Gegend.“ John Ruskin, geboren 1819, gestorben im Januar des Jahres 1900, hatte die britische Kunst und ihre Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beherrscht. Er hatte die akademische Kunstgeschichte begründet, er war der wichtigste Kritiker der zeitgenössischen britischen Kunst jener Zeit gewesen, er hatte als Volksbildner, Zeichenlehrer und Sozialreformer gewirkt. Die Präraffaeliten verdankten ihm ihren Aufstieg, mit William Turner war er eng befreundet, der Bewegung „Arts and Crafts“, mit der das moderne Kunsthandwerk, die Idee des sinnvollen Konsums und das Design beginnt, diente er als Pate. Vor allem aber hatte er in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine kunst- und architekturgeschichtliche Inventur Venedigs unternommen, die als Werk eines Mannes an Vollständigkeit und Genauigkeit nicht wieder übertroffen wurde. Daraus entstand ein dreibändiges Werk mit dem Titel The Stones of Venice, das zuerst 1851 bis 1853 erschien.

Jenny und Ken Jacobsen fuhren also nach Penrith, und die Vermutung, es könne sich bei der Schachtel und ihrem Inhalt um verschollene Stücke aus dem Nachlaß John Ruskins handeln, wurde zur Gewißheit. Nachdem die „box“ für achtzig Pfund ausgerufen worden war, erwies sich indessen schnell, daß die beiden nicht die einzigen Interessenten waren, die von ihrem wahren Wert wußten. Bei 2 000 Pfund war der Auktionator fassungslos, den Zuschlag erhielten Jenny und Ken Jacobsen bei 75 000 Pfund – und das ist immer noch nur ein Bruchteil dessen, was die Schachtel im internationalen Kunsthandel gekostet hätte. Fast zweihundert Daguerreotypien enthielt die Kiste, darunter ein ganzes Konvolut, das in den Alpen aufgenommen worden war – es sind die ersten bekannten Fotografien der Alpen überhaupt. Und mit den 28 Daguerreotypien, die John Ruskin in den Jahren 1845, 1849 und 1851 von Venedig anfertigte oder anfertigen ließ, vermehrte sich der entsprechende Bestand um das Doppelte. An ihnen wird nicht nur anschaulich, wie sich Fotografie, Zeichnung und Beschreibung bei John Ruskin zueinander verhalten, sondern auch, sinnfälliger denn je, was den Historiker in das dreibändige Werk der Stones of Venice hineingetrieben hatte. Außerdem bildet der Fund nun eine der größten Sammlungen von Daguerreotypien überhaupt.

Im Frühjahr 2015 ist die Dokumentation von Ken und Jenny Jacobson Carrying off the Palaces: The Lost Daguerreotypes of John Ruskin erschienen, ergänzt um einen ausführlichen Kommentar und um Reproduktionen aller anderen Daguerreotypien, die zum Werk John Ruskins gehören. Denn Jenny und Ken Jacobsen verkauften ihren Fund nicht. Sie ließen die Fotografien restaurieren (auf einigen war kaum noch etwas zu erkennen) und bauten eine eigene, private Forschung darauf auf, in deren Verlauf sie alle abgebildeten Orte besuchten, die helfenden Fotografen ermittelten und die exakten Bildwinkel rekonstruierten. Was dabei entstand, ist ein ebenso opulentes wie gelehrtes Werk, das aber in seinem unbefangenen und manchmal sogar ironischen Ton nichts Akademisches hat. Die Form der Darstellung entspricht dem Werk. Denn darin sind Landschaften und Orte zu sehen, aus denen längst pittoreske Traditionen hervorgegangen sind, denen hier aber noch keine Erwartung vorausgeht. Noch weniger gehorchen die Bilder einem Verlangen nach Originalität. Dieses Verlangen ist jünger und entsteht erst mit den Genres. Statt dessen sollten die Bilder zeigen, was zu sehen war, ohne Rücksicht auf die Form der Darstellung.

Im Jahr 1839 der Öffentlichkeit vorgestellt, hatte sich die Erfindung Louis Daguerres zwar schnell verbreitet. John Ruskin gehörte dennoch zu den ersten Menschen, die sie professionell nutzten, und er tat es mit Begeisterung, vor allem der Genauigkeit wegen, mit der die Fotografie ihre Gegenstände festhielt. An der Genauigkeit aber war ihm aus zwei Gründen gelegen: zum einen, weil er in Venedig, wie so viele Liebhaber der Stadt nach ihm, auf eine einzigartige Architektur zu stoßen glaubte, die im letzten Augenblick vor ihrem Verschwinden dem „Volk der Kaputtmacher“ („the public of wreckers“) zu entreißen war. Er dachte sich als den Letzten, dem es vergönnt war, diese Wunder anzusehen – und bei manchen Gebäuden war er es auch. Zum anderen aber glaubte er in dieser Genauigkeit (oder: in absoluter Treue dem Objekt gegenüber) die moralische Entsprechung zu der Gesinnung zu erkennen, mit der ihm die Steinmetze der Gotik, im Unterschied zu den Handwerkern der Renaissance, ihre Arbeit vollbracht zu haben schienen: in einer gläubigen Gemeinschaft (Wolfgang Scheppe: Done Book, Stuttgart 2011), mit völliger Hingabe an das Detail, jedes Werkstück als einzelnes betrachtend – eben ganz anders, wahrer und echter als die Architektur der Renaissance mit ihren blendenden Fassaden und ihrer Serienproduktion.

Hinzu kam nicht nur, daß die kleinen, glänzenden Unikate genauso unersetzlich waren wie die Steine (Thordis Arrhenius: John Ruskin’s Daguerreotypes of Venice, Stockholm 2005). Hinzu kam auch, daß die Platten empfindlich waren, auf physische Beanspruchungen sofort reagierten und also schon früh als der Zeit unterworfen schienen – und Patina hielt John Ruskin für ein notwendiges Zeichen des Echten, weshalb ihm auch die Vorstellung fremd war, man könne Verfallenes restaurieren und also etwas Altes in etwas Neues verwandeln. Die Schönheit Venedigs, schrieb er im Jahr 1845 an seinen Vater, liege in den „Brüchen und Flecken“, weshalb das „Edle“ der Fotografie darin bestehe, das Beschädigte „perfekt und ohne Fehler in einer halben Minute“ zu erhalten: „Für 200 Franken kaufte ich mir den Canal Grande von der Salute bis zum Rialto und packte ihn in seligem Triumph ein.“

John Ruskin machte keinen Hehl daraus, daß seine Unterscheidung auch politisch gemeint war: auf der einen Seite eine Art Wahlmonarchie, bei der das Volk an der Macht beteiligt war, auf der anderen ein sich sorgfältig abschließender Erbadel, der die Stadt zu seiner Repräsentation benutzte, auf der einen Seite die „scuole“, Zünfte oder Gilden und geistliche Bruderschaften zugleich, auf der anderen Seite Arbeitsteilung und Entfremdung. Und er verbarg auch nicht, daß diese Unterscheidung auch insofern politisch gedacht war, als hinter dem Venedig des 14. oder 15. Jahrhunderts ohne große Schwierigkeiten das England des 19. Jahrhunderts zu entdecken war. „In jüngster Zeit“, heißt es im Kapitel „The Nature of Gothic“ im zweiten Band der Stones of Venice, sei die Arbeitsteilung perfektioniert worden. „Doch, ehrlich gesagt, ist es nicht die Arbeit, die geteilt wurde, sondern der Mensch.“ Und weil sich das kulturkritische Interesse durch alle drei Bände der Stones of Venice zieht, ist dieses Werk zwar auch eines der Meisterwerke der Kunstkritik, zugleich aber die Beschwörung einer gesellschaftlichen Utopie, die das gotische Venedig in einen beinahe schon paradiesischen Ort verwandelte.

Genauigkeit ist nur eine der beiden Obsessionen, die John Ruskins Arbeiten zu Venedig durchzieht. Die andere ist Vollständigkeit. Auch sie verdankt sich dem Verlangen, das Flüchtige nicht nur aufzuhalten, sondern zu bannen, ein- für allemal. Überliefert sind die Stones of Venice in der Verbindung von kolorierter Zeichnung und Beschreibung. Gewiß, es war bekannt, daß John Ruskin mit Daguerreotypien gearbeitet hatte, neben dem Zeichnen und neben dem Schreiben – auch wenn er sich, in späteren Jahren, von der Fotografie distanzierte, insofern aus ihnen nämlich keine Kunst zu machen sei. In welchem Maße sie indessen als Vorbild dienten, bis in die Details der Gestaltung hinein, erweist sich indessen erst in der Menge der Bilder – von denen jedes, in seinem radikalen, mechanischen Naturalismus, ganz anders an seinem Gegenstand partizipierte, als es eine Zeichnung je vermöchte: „Es ist fast dasselbe, als ob man den Palast selbst davontragen könnte“, meinte John Ruskin. Und es ist schließlich diese Art der fotografischen Teilhabe am Gegenstand, in der die Stones of Venice eigentlich erst zu sich selber kommen: indem sie weniger gezeigt werden, als daß sie sich scheinbar selber zeigten, als die Steine, aus denen die Stadt besteht, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne.

Dieser Beitrag erschien erstmals am 20. Mai 2015 in der "Süddeutschen Zeitung". Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und der "Süddeutschen Zeitung".

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