Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Margarethe Szeless

Ein Blick hinter die Kulissen des Fotojournalimus

Jason E. Hill, Vanessa R. Schwartz (Hg.): Getting the Picture. The Visual Culture of the News, London, New York: Bloomsbury 2015, 300 S., 24,5 x 18,9 cm, zahlreiche Abb. in S/W und Farbe, kartoniert, 27 Dollar

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 138, 2015

Die Kunsthistorikerin Vanessa R. Schwartz, bekannt geworden mit ihrem Buch über frühe massenkulturelle Phänomene im Paris des Fin-de-Siècle[1], beschäftigt sich in diesem jüngst erschienenen Band mit massenmedial verbreiteten Nachrichtenbildern. Gemeinsam mit Jason E. Hill versammelt Schwartz Beiträge von 49 Autoren, die das Thema der Bildberichterstattung in der illustrierten Presse transnational – wenn auch mit starkem Fokus auf den angloamerikanischen Sprachraum – und in historischem Querschnitt beleuchten. Der Untersuchungszeitraum setzt bei der Historienmalerei in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein und endet mit Überlegungen zur derzeit stattfindenden Musealisierung von historischer und aktueller Reportagefotografie. Dabei wird eine große Bandbreite an bildmedialen Ausdrucksformen und technischen Reproduktionsmöglichkeiten berücksichtigt: handskizzierte Zeichnungen eines Ereignisses, Kupfertiefdrucke von Nachrichten, die in immer höheren Auflagen zirkulierten, Karikaturen, Holzstiche als Illustrationen in Zeitungen, Fotografien und deren Wiedergabe in Form von Autotypien und später als Kupfertiefdruck in der illustrierten Presse sowie filmische Nachrichtenberichterstattung und das Teilen von Bildern im Internet. Die Vielfalt der behandelten Bildmedien sensiblisiert den Blick sowohl für die über längere Perioden stattfindende Gleichzeitigkeit ihres Auftretens als auch für Medienumbrüche der letzten 200 Jahre.

Das Buch ist in zwei Abschnitte unterteilt. Im ersten Teil werden in Kurzbeiträgen 26 Ikonen der internationalen Pressefotografie (u.a. Robert Capas „Republikanischer Soldat aus dem Spanischen Bürgerkrieg“, 1936; Die Ermordung Kennedys, 1963; Pete Souza: „President Obama und andere Regierungsmitglieder erhalten die Nachricht vom Tod Osama Bin Ladens im 'Situation Room' des Weißen Hauses“, 2011 ) kontextualisiert. Dabei geht es nicht um die Geschichten hinter den Bildern, die in der Fachliteratur bereits hinlänglich abgehandelt wurden, sondern um die Rekonstruktion ihres Zustandekommens und Zirkulierens im Betriebssystem der Massenmedien. Die Fallstudien sind großteils spannend zu lesen, oft allerdings zu kurz gefasst, um einer vertiefenden Analyse Platz zu bieten. Dennoch bilden sie einen gelungenen Einstieg in die Thematik und einen passenden Auftakt für den zweiten Teil des Bandes, der den medienhistorischen und -theoretischen Überbau liefert.

Als konzeptuelle Klammer dient hier die Engführung von Nachricht und Bild. Im Mittelpunkt steht also die Frage nach dem Nachrichtenwert eines Bildes, was in fünf Kapiteln aus unterschiedlicher Perspektive beleuchtet wird. Einleitend beschäftigt sich je ein Beitrag mit den dominanten Genres von Pressefotografie, nämlich Mode, Prominente, Sport, Verbrechen und Krieg. Bemerkenswert ist vor allem der Aufsatz von Ryan Linkhof über die sog. Paparazzi-Fotografie, in dem der Autor voyeuristische Schnappschüsse in der Regenbogenpresse als das Gegenstück zu Glamourfotografie à la Hollywood definiert, ersteren aber einen ursprünglich aufklärerischen Anspruch im Sinne einer tiefergreifenden Enthüllung der Abgelichteten zuschreibt.

In drei weiteren Kapiteln werden – analytisch sehr überzeugend – zentrale medienhistorische und medientheoretische Parameter von Nachrichtenbildern untersucht. So wird beispielsweise der Frage nachgegangen, wo und wie das Publikum dem Nachrichtenbild begegnet und welche Rückkoppelungseffekte daraus für das publizierte Bild entstehen.  Thematisiert werden u.a. offensichtliche Widersprüchlichkeiten zwischen Bild und Text in der amerikanischen Pennypress des frühen 19. Jahrhunderts, der Rückschlüsse auf ein in visuellen Belangen noch ungeschultes Massenpublikum zulässt. Äußerst lesenswert ist auch der Aufsatz über das amerikanische Newsreel-Kino der 1930er und 1940er Jahre, das eine historische Form der Nachrichtenkonsumption darstellte, die sich an den modernen und zunehmend mobilen Großstädter richtete. Vorwiegend in der Nähe von Bahnhöfen angesiedelt und rund um die Uhr betretbar, boten Newsreel-Kinos ihrem Publikum kurze Nachrichtenfilme in einer Endlosschleife sowie die Möglichkeit zu lauthalser Reaktion auf das Gezeigte während der Vorführungen.

Ein weiteres Kapitel versammelt Aufsätze zum Thema Zeitlichkeit und Pressebild und bringt damit einen Faktor in die wissenschaftliche Diskussion um Nachrichtenbilder ein, der bisher in der Forschung stark unterbelichtet war. Dabei ist die Geschwindigkeit, mit der ein Pressebild sein Publikum erreicht, der zentrale Motor für die Entwicklung neuer Technologien der Bildübermittlung und in weiterer Folge auch für die visuellen Anforderungen, die an ein Pressebild gestellt werden. Jordan Baer beschreibt in seinem argumentativ äußerst dichten und spannend zu lesenden Beitrag den Zusammenhang zwischen dem (optischen) Telegrafen und Napoleons Expansionspolitik. Folgerichtig wird in diesem Abschnitt des Bandes auch auf das Entstehen internationaler Bildagenturen fokussiert und die längst überfällige Geschichte der Bildübermittlungs-dienste (wire-services) rekonstruiert. Dabei gerät auch die stetig steigende Anzahl an verfügbaren Bildern ins Blickfeld. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts liegt die Konkurrenzfähigkeit von Bildagenturen nicht mehr ausschließlich in der Geschwindigkeit der Bildübermittlung, sondern zunehmend in ihrer Funktion als „gatekeeper“, die aus der Masse der zirkulierenden Pressebilder eine glaubwürdige und kritische Auswahl treffen. Nicht zuletzt werden auch die formalen Errungenschaften der illustrierten Presse, ermöglicht durch Innovationen der Drucktechnik, unter die Lupe genommen. Was führte eigentlich zu der Dynamisierung von Zeitschriftenlayouts in der Ära der Weimarer Republik? Während in der Fachliteratur häufig die neuen und modernen Aufnahmeperspektiven der Pressefotografen als Erklärungsmodell dienen, die sogar die Kunstströmung des „Neuen Sehens“ vorweggenommen haben sollen[2], sucht Andrés Mario Zervigón in den Fotoredaktionen nach einer Antwort und stößt auf ein bis dato wenig beachtetes Instrument: auf den Leuchttisch. Seit Mitte der 1920er Jahre wurde in den Redaktionen auf riesigen, von unten beleuchteten Glasplatten gearbeitet, auf denen Pressefotos (als Diapositive), Textelemente und handgeschriebene Überschriften leicht kombinierbar waren. Nach Meinung des Autors habe dieses technische Dispositiv die Kreativität der Bildredakteure angestachelt, was zur „foto-typo-grafischen Alchemie“ der Weimarer Bildpresse geführt habe.

Dieser Blick auf den Herstellungsprozess von publizierter Fotografie ist symptomatisch für die Stoßrichtung des gesamten Bandes. Ganz bewusst grenzen sich die Herausgeber von einer Mediengeschichte ab, die die Leistung einzelner Pressefotografen würdigt ohne auf die Geschichte der Medieninstitutionen und deren arbeitsteilige Produktionsbedingungen einzugehen. Demgegenüber stehen hier die von der Fotogeschichte weitgehend marginalisierten Bildredakteure, u.a. Wilson Hicks (Life), John Godfrey Morris (Magnum), J. A. Ezickson (New York Times World-Wide Photos) sowie deren Schriften im Zentrum, die eine völlig neue Perspektive auf den kollaborativen Aspekt von Fotoreportagen eröffnen. Dementsprechend kratzt auch Nadya Bair in ihrem Aufsatz am Image des Starfotografen, wenn sie beschreibt, wie Zeitschriften wie Life, Picture Post und Holiday die Figur des Starfotografen, allen voran Robert Capa, bewusst kreierten, um sich mit dessen Fotos zukünftig selbst ins Gespräch zu bringen und zu vermarkten. Resümierend lässt sich feststellen, dass die Art, wie in diesem Band Technikgeschichte, Mediengeschichte und Erkenntnisse über die formale Entwicklung der internationalen Bildpresse miteinander verwoben werden, vorbildlich gelungen ist. Die Herausgeber haben es verstanden, sowohl Forschungslücken zu schließen, als auch zahlreiche neue, interessante und anschlussfähige Fragestellungen aufzuwerfen.


[1]Spectacular Realities: Early Mass Culture in fin-de-siècle Paris, Berkeley: University of California Press 1998.

[2]Vgl. etwa Diethart Kerbs, Walter Uka (Hg.), Fotografie und Bildpublizistik in der Weimarer Republik, Bönen: Kettler 2004.

 

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