Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Anja Guttenberger

Wiederentdeckung einer Avantgarde-Fotografin

Felix Hoffmann: Lore Krüger. Ein Koffer voller Bilder. Fotografien 1934–1944, Berlin: Edition Braus, C/O Berlin, 2015, 21,4 x 19,2 cm, 168 Seiten, ca. 90 S/W-Abb. in Duplex, gebunden mit teilweisem Textileinband, Deutsch/Englisch, 29,95 Euro.

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 139, 2016

Es ist eine Geschichte voller unwahrscheinlicher Begebenheiten: Jahrzehntelang lagert ein Koffer mit meisterhaften Fotografien vergessen in einer Berliner Wohnung. Vor einigen Jahren sichtet Felix Hoffmann, Kurator bei C/O Berlin, die Bilder und wertet den Inhalt als Sensationsfund. 2015 zeigte die Galerie C/O Berlin die gut 70 bis 80 Jahre alten Werke und stellt die Fotografin Lore Krüger erstmals einer breiteren Öffentlichkeit vor. Begleitend zur Schau erschien der Katalog Lore Krüger. Ein Koffer voller Bilder. Fotografien 1934-1944. Es sind bemerkenswerte Arbeiten einer bis dato unbekannten Fotografin, die Fotopionierinnen wie Ilse Bing, Lotte Jacobi, Marianne Breslauer, Germaine Krull und Florence Henri nahestand.

Selbst Kennern der deutschen Fotografie des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts sind die Fotografien der Künstlerin, die hier endlich eine Bühne bekommt, wohl nie zuvor begegnet. Lore Krüger selbst scheint es so gewollt zu haben: Sie kam 1946 aus dem Exil zurück nach Deutschland. Im Gepäck trug sie einen „Koffer voller Bilder“, die sie während der zehn bewegten Jahre zwischen 1934 und 1944 auf unterschiedlichen Zwischenstopps aufgenommen hatte: in England, Spanien, Frankreich und den USA. Die Bilder scheinen ihr bedeutend gewesen zu sein, sie lagerte sie zeitlebens in ihrer Wohnung. Die Fotografie gab Lore Krüger nach Kriegsende indes auf. Erst nach ihrem Tod im März 2009 übergab ihr Sohn Ernst-Peter die Werke an C/O Berlin – und ermöglichte damit eine erste Retrospektive zum Werk der Künstlerin, die seine Mutter in jungen Jahren gewesen war.

Der Katalog gibt Lore Krügers Schaffen Raum: Er zeigt fast 90 Fotos in qualitativ hochwertigem Duplex-Druck, sortiert nach Entstehungsorten und thematisch geordnet. Die renommierte Kunsthistorikerin mit Forschungsschwerpunkt Gender Studies, Katharina Sykora, ordnet das fotografische Werk kenntnisreich ein. Dabei verwebt sie Eckdaten aus dem Leben der jungen Fotografin mit Hintergrundinformationen und stellt die Fotoserien so in biografischen und historischen Kontext. Alle vorliegenden Bilder entstanden in gerade einmal zehn Jahren zwischen 1934 und 1944 – es waren „Schlüsseljahre“ im Leben Lore Krügers, die aufgrund ihrer jüdischen Herkunft permanent auf der Flucht sein musste und immer wieder den Wohnort und das Land wechselte. Die Kamera war für sie seit Kindheitstagen eine wichtige Begleiterin; in dieser Zeit wurde sie noch bedeutender: Zwischen 1934 und 1936 absolvierte die junge Frau eine Fotografenausbildung, ein Jahr davon lernte sie im Pariser Fotoatelier der bekannten Fotografin Florence Henri, die selbst ein halbes Jahr am Bauhaus gelebt und hospitiert hatte und letztlich aus dem direkten Einfluss von László Moholy-Nagy das Medium Fotografie für sich entdeckte. Zurück in Paris wandte sie sich weitgehend von der Malerei ab und etablierte ein eigenes erfolgreiches Fotostudio. In ihren Lehrjahren bei Henri kam Lore Krüger zumindest indirekt, wenn nicht gar unmittelbar, mit Henris befreundeten Künstlerkollegen Man Ray und László Moholy-Nagy und dem bekannten zeitgenössischen Fotogramm-Künstler Christian Schad in Berührung. Deren Einfluss zeigt sich deutlich in Krügers Fotogrammen, die 1936 in Paris und 1942 in New York entstanden. Auch die Fotoreihe mit einer afrikanischen Maske von 1935 lehnt sich thematisch an die Werke der populären Zeitgenossen an. Der minutiös arrangierte Bildaufbau sowie kontrastierende Materialstrukturen erinnern wiederum stark an die eindrucksvollen Stillleben mit Spiegelelementen der Lehrerin Florence Henri. Auch Krüger verwendete in einigen ihrer Bilder Spiegel und kreiert auf diese Weise Multiperspektivität und Parallelwelten.

Während ihrer Pariser Zeit war Lore Krüger als Fotografin thematisch noch ungebunden, versuchte sich neben Experimenten mit Fotogrammen (kameralos erzeugte Fotos, die durch das direkte Auflegen von Gegenständen auf Fotopapier und anschließendes Belichten erzeugt werden) und afrikanischen Masken außerdem an Portraitaufnahmen. Katharina Sykora schildert Krügers große Lust am Ausprobieren unterschiedlicher Techniken: In ihrem Werk finden sich Doppelbelichtungen im Stil des großen Fotografen Erwin Blumenfeld, Versuche mit Stoff-verdeckten Gesichtern nach dem Vorbild Marta Astfalck-Vietz‘ oder Portraitaufnahmen aus Nah- oder Untersicht und mit diagonalem Bildaufbau, wie sei bei den Fotografen des „Neuen Sehens“ um László Moholy-Nagy zu finden sind.

In der Analyse des Gesamtwerkes lässt Sykora der Serie „Gitanes“ („Zigeuner“) aus dem Jahr 1936 eine Sonderstellung zukommen. Es war die einzige Auftragsreihe Krügers. Hierfür fotografierte die junge Künstlerin im Wallfahrtsort Saintes-Maries-de-la-Mer in der französischen Camargue Sinti und Roma, die sich mit ihren Familien dort alljährlich aus aller Welt zur Verehrung ihrer Schutzheiligen einfinden. Krüger lichtete die Pilger in einfühlsamen Einzel- und Mehrpersonenportraits ab und begab sich dabei auf Augenhöhe mit ihnen. Die Gitanes-Serie steht in der Tradition fotografischer Sozialstudien, wie sie kurz zuvor unter anderem schon Marianne Breslauer von Sinti und Roma in den spanischen Pyrenäen angefertigt hatte. Leider fehlen dem Katalog zu jedem Zeitpunkt die entsprechenden Referenzabbildungen der zeitgenössischen Fotografen, was es einem Nicht-Fachpublikum schwer macht, diese interessanten Querverweise nachzuvollziehen.

Ein großer Gewinn ist es, dass die Kunsthistorikerin nicht nur die erhaltenen Fotografien aus dem Koffer Lore Krügers bespricht, sondern auch auf solche eingeht, die der Künstlerin unterwegs abhanden gekommen sind. So führt sie auch eine Fotoserie ein, die den mallorquinischen Ort Porto Cristo unmittelbar nach dem dramatischen Massaker durch Franco-Truppen 1936 in Bildern festhielt. Sykora stellt diese Bilder in eine Reihe mit fotografischen Dokumentationen des Spanischen Bürgerkriegs aus dem Schaffen berühmter Fotografen wie Robert Capa, dessen deutscher Lebensgefährtin Gerda Taro und des polnischen Fotografen David Seymour. Erst im biografischen Teil des Katalogs erschließt sich allerdings, dass ein Großteil dieser Fotos von Krüger durch Franco-Truppen konfisziert wurde und sie diese deswegen nicht mit sich führen konnte. Ob die verloren gegangenen Bilder der damals jungen Fotografin tatsächlich mit denen der großen Kriegsfotografen gleichzusetzen sind – einige der Bilder aus dem Spanischen Bürgerkrieg erlangten einen fast ikonenhaften Status –, ist heute nicht mehr zu beurteilen. Jedoch wäre ein Wiederauffinden der Mallorca-Bilder schon allein für die historische Dokumentation des Massakers von großem Wert.

Schließlich betrachtet der Beitrag Lore Krügers Tätigkeit als Fotografin im New Yorker Exil. Nachdem sie sich bereits in Paris unter dem Pseudonym „Loré“ beruflich als Fotografin niedergelassen hatte, konnte sie in der amerikanischen Metropole schließlich ihren Lebensunterhalt mit der Anfertigung von Studio-Porträts bestreiten. Zugute kam ihr, dass es zu diesem Zeitpunkt sehr in Mode war, sich von Pariser Fotografen portraitieren zu lassen. Vor allem emigrierte Intellektuelle ließen sich bei Krüger ablichten, darunter der Schriftsteller Alfred Kantorowicz, der Gewerkschaftler Gustav Faber und der ungarische Philosoph und Ehemann von Anna Seghers, László Radványi. Im Vergleich zu ihren Pariser Bildnissen legte sich Krüger in New York auf einen statischeren Bildtypus fest, der ihre Modelle distanziert und der Welt entrückt darstellt. Die Bildnisse sind hierdurch, Sykora zufolge, von „Nähe und Fremdsein“ geprägt , was „dem Status der Portraitierten als mehrfach Exilierte“ entspreche. 1946 kehrte Lore Krüger zurück nach Deutschland. Die Fotografie gab sie auf.

Im letzten Textteil vervollständigt der Katalog die Biografie der Fotografin, indem zwei ihrer Bekannten zu Wort kommen: Irja Krätkes und Cornelia Bästleins fundierte Ausführungen lesen sich ergänzend zur Werkanalyse Sykoras. Die Autorinnen beschreiben das Leben der Deutsch-Jüdin im Zeitraffer: angefangen bei der ersten Boxkamera, die Krüger zum 10. Geburtstag von ihrem Vater bekam, über ihre Schwierigkeiten nach der Machtübernahme Adolf Hitlers, ihre Emigration, bis hin zum ersten Fotokurs und die spätere Ausbildung zur Fotografin in Barcelona und in Paris. Die Autorinnen zeichnen Krügers Lebensweg mit mehrmaliger Internierung und etlichen Stationen auf der ganzen Welt nach.

Hierbei entschleunigen sie das Erzähltempo an denjenigen biografischen Wendepunkten, die in Sykoras Beitrag zu kurz kommen. So wird die Bedeutung des Spanischen Bürgerkriegs (1936–1939) und dessen unmittelbare Auswirkung auf Krüger und ihre Familie, die nach Mallorca geflüchtet war, an dieser Stelle ausführlich erläutert. Einige Informationen, die zum Verständnis des Werks nötig sind, kann der Leser sich erst hier aneignen. Zum Beispiel wird erst hier aufgelöst, was es mit dem Verschwinden der Fotos vom Porto-Cristo-Massaker auf sich hat und dass sich Krügers Eltern 1940 das Leben nahmen als auch Mallorca „judenfrei“ werden sollte und sie keine Ausreisevisa bekamen. Ein dem Katalog vorangestellter tabellarischer Lebenslauf hätte diese ungünstige Informationsstückelung beheben können. 

Mit der Publikation ist C/O Berlin ein hochwertiger Katalogband gelungen, der mit seinen 168 Seiten im handlichen Format die erhaltenen Fotografien der Künstlerin erstmals einer breiten Öffentlichkeit zugänglich macht. Er bietet eine erste kritische Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Werk Lore Krügers und verortet sie und ihre Fotografien in die moderne Avantgarde-Fotografie der 1930er-Jahre. Mit ihm findet eine weitere Avantgarde-Fotografin Eingang in die Fotogeschichte der Moderne. Die Publikation bereitet das Feld für kommende Ausstellungen und wissenschaftliche Abhandlungen zu Lore Krüger, die ohne Frage lohnenswert erscheinen.

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