Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Isabelle Haffter

Fotografisches Welttheater im Tessiner Bleniotal

Der Fotograf Roberto Donetta

Gian Franco Ragno und Peter Pfrunder (Hg.): Roberto Donetta – Fotograf und Samenhändler aus dem Bleniotal, in Zusammenarbeit mit MASI Museo della Svizzera italiana, Lugano und Fotostiftung Schweiz, Winterthur, Zürich: Limmat Verlag, 2016, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Fotostiftung Schweiz, 28. Mai bis 4. September 2016, 224 S., 24,8 x 23,1 cm, 150 Abb. s/w, gebunden, 68 Euro

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 142, 2016

»Das Leben – Es ist ein Traum, eine Seifenblase, eine Glasscherbe, ein Eisblock (...); es ist ein Punkt, eine Stimme, ein Klang, ein Lufthauch, ein Nichts.« Diese Zeile stammt aus der Feder des Tessiner Fotografen und Samenhändlers Roberto Donetta (1865–1932). Seine poetischen Aphorismen über das Leben nehmen im rund 5000 Glasplatten umfassenden Werk fotografische Gestalt an: Gepaart von Lebensfreude und Melancholie, von Ironie und Groteske legen die Aufnahmen Zeugnis ab von dem von Entbehrungen gezeichneten Alltag der Bewohnerinnen und Bewohner des Valle di Blenio – einem vom Fotografen fantasievoll inszenierten kleinen Welttheater am Fin de Siècle bis in die frühen 1930er Jahre. Anlässlich seines 150. Geburtstags widmeten das Museo della Svizzera italiana in Lugano und die Fotostiftung Schweiz in Winterthur dem wenig bekannten Schweizer Fotografen eine Einzelausstellung, die von einem bemerkenswerten Ausstellungskatalog begleitet wurde.

Roberto Donetta wurde 1865 als Sohn von Tessiner Kaufleuten in Bascia geboren. Die Familie zog Ende der 1870er Jahre nach Castro im Bleniotal, wo der Vater eine Stelle als Militärbeamter annahm. 1886 heiratete Donetta Teodolinda Tinetti und hatte mit ihr sieben Kinder. Das Tessin war zu jener Zeit trotz moderner Entwicklungsprozesse durch die Industrialisierung und Mobilisierung von Armut und Emigration gezeichnet. Wie viele Tessiner lebte auch Donetta mit seiner Familie am Existenzminimum. Wegen anwachsender Schulden wechselte der als eigensinnig und etwas wunderlich geltende Familienvater seine Tätigkeiten vom Bauer zum Marroni-Händler, vom Militärbeamten zum Kellner in London, bis er sich ab 1900 in Casserio in der Casa Rotanda niederließ. Von dort aus betrieb er einen mobilen Saatguthandel. Etwa zur selben Zeit mietete er beim Bildhauer Dionigi Sorgesa einen Fotoapparat. Dieser sollte fortan das Leben des Amateurfotografen bestimmen. Die fototechnische Ausstattung und die Chemikalien waren in den Augen der Ehefrau ein kostspieliger Luxus, den sich der Amateur mit seinem spärlichen Einkommen eigentlich nicht leisten konnte. 1912 verließ sie ihn samt den Kindern. Trotz zeitweiliger Pfändung blieb Donetta unbeirrt dem Bleniotal und seiner Liebe zur Fotografie treu. Da ihm die Mittel für ein Studio fehlten, reiste er im Tal umher und produzierte kleine 7x11cm Postkartenabzüge. Die Jahre des Ersten Weltkriegs sowie die wirtschaftlichen Krisenjahre der Nachkriegszeit verbrachte er in großer Not und bitterer Einsamkeit. 1932 wurde er tot in seinem Haus aufgefunden. Seine Fotoapparatur wurde sogleich versteigert, um die Schulden bei der Gemeinde zu begleichen. Die Negative und Abzüge blieben hingegen unberührt.

Die Wiederentdeckung des fotografischen Erbes Donettas ist einem Zufall zu verdanken: Mitte der 1980er Jahre fand Mariarosa Bozzini in einem Stall in Corzoneso die in Vergessenheit geratenen Glasplatten. Unterstützt durch die Gemeinde, welche die historische Bedeutung des Fotomaterials für das kollektive Gedächtnis des Bleniotals erkannte hatte, konnte 2003 das Archivio Donetta in die Casa Rotonda einziehen (www.archiviodonetta.ch). 1987 wurden erstmals einige Fotografien Donettas in der Ausstellung Il Ticino e i suoi fotografi in Lugano und Winterhur präsentiert. 1993 folgte die erste Einzelausstellung Roberto Donetta. Pioniere delle fotografia nel Ticino di inizio secolo in Lugano mit 90 Werkeinheiten, wodurch Donettas Schaffen, insbesondere unter Fachleuten, Wertschätzung erfuhr. Der Wunsch, die Negativ-Platten und an die 600 Originalabzüge zu restaurieren und digitalisieren, wurde nicht zuletzt durch die Unterstützung vom Verein Memoriav und dem Institut suisse pour la conservation de la photographie realisiert.

Der Ausstellungskatalog beleuchtet das Leben und Werk Donettas aus sechs Autorenperspektiven: Im Aufbau wurde auf die für Kataloge typische kapitelstrukturierende Bildgenrezuteilung verzichtet. Eine chronologische Bildanordnung war aufgrund der zu 90 Prozent undatierten Negative ausgeschlossen. Stattdessen kann der Leser in der Bandmitte die Fotografien ohne Bildunterschriften auf sich wirken lassen und sich bei Bedarf die Hintergrundinformationen durch die Lektüre beschaffen. Das Konzept geht auf: Den Anfang machen die Beiträge von Marco Franciolli, Gian Franco Ragno und Matthias Böhni zur Nachlassgeschichte und zur Künstlerbiografie im fotohistorischen und sozioökonomischen Kontext des Œuvres. Im Mittelteil geben 150 hochwertige S/W-Reproduktionen einen repräsentativen Überblick über das facettenreiche Gesamtwerk aus Selbst-, Einzel- und Gruppenporträts, Totenfotografien, Stillleben, Landschaftsaufnahmen und reportagehaft anmutenden Alltagssituationen mit teils fiktionalen, symbolischen oder komödiantischen Elementen. Im Schlussteil arbeiten David Streiff, Peter Pfrunder und Antonio Mariotti erkenntnisreich ihre fotoästhetischen Analysen und Vergleiche mit zeitgenössischen Fotografen wie Ernesto Büchi heraus und verorten ihre Thesen schlüssig innerhalb der aktuellen Forschung zur Amateur-, Kunst- und Tourismusfotografie.

Die Autoren sind sich einig: Die inszenierten Alltagssituationen und Porträts zeugen hinsichtlich Motivik, Bildschärfe und Lichtführung vom technischen Wissen eines Autodidakten und dem meisterhaften Können eines Künstlers. Streiff argumentiert, dass Donetta, der »wunderbare Erzähler«, in seiner Bildsprache einen einfühlsamen Sinn für ästhetische Komposition und zugleich groteske Komik besaß, ohne dabei auf den zeittypischen Stil des Piktorialismus zurückzugreifen. Der Tessiner Schriftsteller Alberto Nessi beschrieb Donettas Werke einmal als die »Kinder seiner wilden Musen«. Trotz Genrekonventionen gelang es ihm, ähnlich wie August Sander, die Individualität seiner fotografierten Personen in Mimik und Gestus einzufangen. Dabei behandelte er die Porträtierten mit großem Respekt und beraubte sie nie ihrer Würde, erläutert Streiff. Ragno betont, wie Donettas Werke in ihrer schlichten Bildsprache richtungsweisend auf den Stil der sachlichen Dokumentarfotografie hinweisen. Pfrunder zufolge tritt Donettas kreative Regietätigkeit insbesondere in den Kinderfotografien zutage, wenn er Aufnahmen in der freien Natur macht, auf denen zum Beispiel vier Mädchen in der dramatischen Bildwirkung wie Elfen aus überdimensional großen Teichgewächsblättern aufzutauchen scheinen. Mariotti hebt Donettas ambivalente Persönlichkeit und dessen widersprüchliches Interesse an der modernen Technik und dem Fortschritt und gleichzeitig seine konservativ-religiöse Haltung gegenüber dem Urbanen hervor, was sich in seiner Biografie und in den Bildmotiven niederschlägt. Seine Bilder entfalten eine kraftvolle »Metaphorik, die den Betrachter irritiert und fesselt«, so Pfrunder.

Die Lektüre des Bandes ist aus mehreren Gründen empfehlenswert: Die Beiträge sind sorgfältig recherchiert, historisch kontextualisiert und enthalten Zitationen aus Tage- und Notizbüchern und Briefen. Zudem sind die Texte jeweils mit kommentierten Bildbeispielen bestückt, welche die Ausführungen verdeutlichen. Aus wissenschaftlicher Sicht weisen die Autoren auf mehrere spannende Forschungsdesiderate hin, welche für die Fotografiegeschichte noch brachliegen, so zum Beispiel die fremde Außensicht der Amateurfotografen aufs Tessin oder die Ateliersituation in den Tessiner Kleinstädten um 1900.  Es ist dem Fotografen Donetta, der den Wandel der Zeit in seiner historisch und ethnografisch bedeutsamen Sammlung festhielt, zu wünschen, dass dieser Katalog den Anstoß zur Aufarbeitung eines noch zu wenig beachteten Kapitels der Schweizer Fotografiegeschichte gibt.

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