Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Ludwig Vogl-Bienek

Lichtspiele im Schatten der Armut

Historische Projektionskunst und soziale Frage

Die Studie entstand als Dissertation im Forschungsprojekt Der Einsatz visueller Medien in der Armenfürsorge in Großbritannien und Deutschland um 1900, einem Teilprojekt des DFG Sonderforschungsbereichs 600 Fremdheit und Armut an der Universität Trier. Das Projekt war im Forschungsschwerpunkt Screen1900 der Trierer Medienwissenschaft angesiedelt, die Projektleitung hatte Prof. Martin Loiperdinger. Kontakt: Dr. Ludwig Vogl-Bienek: vogl(at)uni-trier.de

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 143, 2017

Die Studie Lichtspiele im Schatten der Armut handelt von Lichtspielen der historischen Projektionskunst, einer Kulturtechnik, die in den Industriegesellschaften des ausgehenden 19. Jahrhunderts fest etabliert war: Leuchtende Bilder und verblüffende Bewegungseffekte wurden auf den ‚Screen‘ projiziert und mit Live-Auftritten von Vortragskünstlern, Rezitatoren und Musikern begleitet. Ihr Einsatz in den Auseinandersetzungen um die Soziale Frage verdeutlicht ihre gesellschaftliche und kulturelle Relevanz.[1] Die hier untersuchte Projektionskunst des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist mit der Geschichte der Fotografie eng verknüpft.[2] Der überwiegende Anteil der Projektionsbilder wurde zu dieser Zeit von Unternehmen des fotografischen Gewerbes angeboten. Die seinerzeit heftig umstrittene Soziale Frage wurde sowohl mit dokumentarischen als auch mit fiktional erzählenden fotografischen Glas-Dias thematisiert.[3] Bekannte Repräsentanten der frühen sozialdokumentarischen Fotografie wie die Sozialreformer Jacob A. Riis und Lewis W. Hine oder der Wiener Richter und Amateurfotograf Hermann Drawe präsentierten ihre Aufnahmen mit Projektionsapparaten in öffentlichen Veranstaltungen.[4]

Die Analyse historischer Aufführungsberichte von unterschiedlichen Spielstätten vermitteln grundlegende Einsichten in die Aufführungspraktiken der Projektionskunst der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.[5] Die Untersuchung digitaler Rekonstruktionen und experimentelle Neuinszenierungen von Live-Performances mit überlieferten ‚Laternbilderserien‘ (historische Bezeichnung für Projektionsbilder, häufig fotografisch reproduzierte Glas-Dias) verdeutlichen die Gestaltungspotentiale der Projektionskunst. Durch diese Quellenuntersuchungen und Aufführungsexperimente wurden die Beziehungen zwischen auftretenden Akteuren, Auftraggebern und Publikum ermittelt. Davon ausgehend bietet die Studie eine heuristische Konzeption zur Untersuchung überlieferter Artefakte der Projektionskunst im Aufführungskontext, die sich auch als grundlegender Beitrag zur Entwicklung einer Theorie der Projektion versteht: Sie gründet sich auf die Analyse des Dispositivs der Projektionskunst. Es umfasst die Handhabung von Projektionsapparaten und ‚Laternbilderserien‘ im komplexen Netz technischer, gestalterischer und gesellschaftlicher Zusammenhänge. Mit theaterwissenschaftlichen Begriffen wird die Gestaltung von Live-Aufführungen in diesem Dispositiv als wesentliches Unterscheidungsmerkmal der historischen Projektionskunst zur Verwendung des Screen in der automatisierten Aufführungspraxis von audiovisuellen Medien des 20. Jahrhunderts herausgearbeitet.

Das Potential von Werken der Projektionskunst, soziale Themen in Live-Aufführungen zu inszenieren und als gemeinsame Angelegenheit zwischen Veranstaltern, auftretenden Akteuren und Publikum zu verhandeln, wird als Performativierung der Sozialen Frage gefasst. An dieser Stelle wird die interdisziplinäre Überschneidung des medien- und sozialgeschichtlichen Ansatzes dieser Studie deutlich: Die Handhabung des Gestaltungsrepertoires der Projektionskunst als mediale Kulturtechnik wird nicht auf eine ‚neutrale‘ Methode zur Übermittlung von Botschaften auf dem Screen reduziert, sondern selbst als vernetztes soziales Handeln im Sinne der verstehenden Soziologie von Max Weber begriffen.[6] Die Aufführungspraktiken der Projektionskunst prägen als soziales Handeln den Sinn der verwendeten Glasbilder und Projektionsapparate.[7]

Der Einsatz der Projektionskunst auf Aktionsfeldern der Sozialen Frage des ausgehenden 19. Jahrhunderts wäre ohne fotografische Bildgebungs- und Reproduktionsverfahren nicht denkbar. Die Studie Lichtspiele im Schatten der Armut fokussiert fiktionale Erzählungen, die zum größten Teil als sogenannte ‚Life Model Slides‘ hergestellt wurden und häufig bewegende Geschichten aus dem Leben der Armen erzählen. Es handelt sich um fotografische Studioaufnahmen, auf denen reale Personen in einem bühnenähnlichen Aufbau vor gemalten Hintergrundprospekten Szenen des Handlungsablaufs von Erzählungen darstellen. Die Schwarzweißnegative ließen sich in technisch unbegrenzter Anzahl als Glaspositive reproduzieren. Diese wurden in der Regel von Hand koloriert und in Serien ausgeliefert. Der schriftliche Hinweis „from life models“ auf vielen solcher Glas-Dias hebt die Abbildung realer Personen in fiktionalen Szenen als Qualitätsmerkmal hervor. Die Untersuchung der Produktion von Life Model Slides am Beispiel der britischen Firma Bamforth macht die Relevanz der verschiedenen Stadien der Produktion für die Bildgestaltung deutlich. Exemplarisch ist die Nachbehandlung der Negative: So zeigt ein Glasnegativ zur Erzählung Our Father’s Care (ca. 1885) eine winterlich gestaltete Studioaufnahme mit einer armen Straßenverkäuferin, auf die im Licht einer Straßenlaterne Schnee herabfällt. Die Schneeflocken erscheinen auf dem Glasnegativ als gemalte schwarze Punkte. Auch das Licht der Laterne auf dem scheinbar verschneiten Boden wurde mit Abdeckfarbe auf das Glas aufgetragen. Solche Bemalungen der Glasnegative wurden bei Bamforth vorgenommen, um nachträglich Schnee, Regen oder Feuer als Bildbestandteile zu ergänzen.

Die Arbeit an dieser Studie ist ein Beispiel der Forschungsprojekte des Forschungsschwerpunkts Screen1900 der Trierer Medienwissenschaft, der die Geschichte des frühen Films und der Projektionskunst bearbeitet. In einem derzeit laufenden Projekt mit dem Titel „Medienhistorische, methodische und medientechnische Grundlagen der Digitalisierung von Werken der historischen Projektionskunst“ kooperiert Screen1900 mit dem Trier Center for Digital Humanities. Das DFG geförderte Forschungsprojekt geht von der Problematik aus, dass die Erforschung der historischen Projektionskunst durch den eingeschränkten Zugang zu historischen Quellen stark behindert ist. Eine virtuelle Forschungsumgebung wird es Wissenschaftlern, Museumskuratoren und Sammlern ermöglichen, digitale Quelleneditionen von Werken der historischen Projektionskunst zu erstellen. Methodische, medienhistorische und technische Grundlagen zur Bearbeitung der Quelleneditionen werden im digitalen Companion to the Historical Art of Projection publiziert, der auch einen grundlegenden Einblick in die Hauptthemen der Forschung zur Geschichte der Projektionskunst gibt.

Literatur:

Ludwig Vogl-Bienek: Lichtspiele im Schatten der Armut. Historische Projektionskunst und Soziale Frage, Frankfurt a.M., Basel, 2016.


[1] Vgl. Ludwig Vogl-Bienek, Lichtspiele im Schatten der Armut. Historische Projektionskunst und Soziale Frage. Frankfurt am Main, Basel 2016.

[2] Vgl. Jens Ruchatz, Licht und Wahrheit. Eine Mediumgeschichte der fotografischen Projektion, München 2003. Sowie: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie. 19. Jg., Nr. 74, 1999. Thema des Heftes: Fotografie und Projektion.

[3] Vgl. ebenda die Beiträge Margarethe Szeless, Sozialdokumentation und Narrativisierung. Der Lichtbildervortrag „Durch die Wiener Quartiere des Elends und Verbrechen“, S. 35-44 und Richard Crangle, Zweidimensionales Leben. Die britischen Life model-Dias, S. 25-34

[4] Vgl. Ludwig Vogl-Bienek, Hautnah am Elend / Live-Inszenierungen sozialdokumentarischer Fotografie in der Projektionskunst um 1900. In: Günter Burkart /Nikolaus Müller (Hrsg.), „Die Welt anhalten“ Von Bildern, Fotografie und Wissenschaft, Weinheim Basel 2016, S. 354-377.

[5] Vgl. Martin Loiperdinger, Ludwig Vogl-Bienek (Kuratoren), Lichtspiele und Soziale Frage. Screening the Poor 1888-1914, Edition Filmmuseum 64, film & kunst, München 2011. Neben frühen Filmen zu Armutsthemen enthält die DVD vier der experimentell wieder aufgeführten Werke der Projektionskunst und sieben Prototypen digitaler Rekonstruktionen.

[6] Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Mohr, Siebeck, Tübingen 1922, S. 1-2.

[7] Vgl. ebenda, S. 3.

 

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