Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Ute Wrocklage

Freizeit in Auschwitz

Christophe Busch, Stefan Hördler, Robert Jan Van Pelt (Hg.): Auschwitz durch die Linse der SS. Das Höcker-Album, Darmstadt: Philipp von Zabern Verlag, 2016, übersetzt von Verena Kiefer, Birgit Lamerz-Beckschäfer und Oliver Loew, 340 S., 23,5 x 23,5 cm, 48 Abb. in S/W im Text und 148 in S/W im Bildteil, gebunden mit Schutzumschlag, 49,95 Euro.

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 143, 2017

Im September 2007 erschien im Spiegel ein Beitrag mit dem Titel „Schöne Tage in Auschwitz“ und die Zeit titelte zum selben Thema: „Massenmörder im Liegestuhl“. Anlass war ein privates Fotoalbum aus dem Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz, das das United States Holocaust Museum in Washington D.C. (USHMM) im Januar 2007 erhalten hatte und im Spätsommer erstmals auf ihrer Internetseite veröffentlichte.[1] Nach einer ersten niederländischen Ausgabe von 2013 liegt nun die erweiterte, überarbeitete deutsche Fassung mit neu arrangierten Albumseiten vor.

Ein pensionierter Lieutenant der US Army, der beim Counter Intelligence Corps (Geheimdienst) tätig war, hatte beim Museum angefragt, ob Interesse an einem Fotoalbum aus Auschwitz bestünde, das er als Besatzungssoldat in einer verlassenen Frankfurter Wohnung gefunden habe. Bei Überlassung bat er um Anonymität. Er konnte später nicht weiter zur Herkunft und zum Zustand befragt werden, weil er bald nach Übergabe verstarb.

Die Blätter im Format von 24,3 x 34,4 cm waren nicht gebunden, ohne Einband. Die 31 Seiten zu Auschwitz mit insgesamt 116 Fotos in unterschiedlichen Formaten von ca. 6 x 9 cm bis 14 x 9 cm waren unsortiert. Wasserschäden und Insektenfraß hatten den Seiten schon zugesetzt, halfen aber schließlich bei der Rekonstruktion der Seitenfolge. Die Herausgeber kamen zu dem Schluss, dass die Seiten nicht chronologisch, sondern thematisch sortiert gewesen seien.

Die Studioaufnahme „Mit dem Kommandanten SS-Stu[rm]ba[nn]f[ührer]. Baer / Auschwitz 21.6.1944“ stelle nach Meinung der Herausgeber „den Titel und damit das Leitmotiv des Albums. Ihm ordnen sich die nachfolgenden Sequenzen unter“.[2] Themen sind u. a.: eine Visite durch SS-Obergruppenführer Oswald Pohl, ein Vortragsbesuch vom General der Flieger Quade, der Schäferhund „Favorit“ bei der Dressur, der Kommandanturstab auf dem Schießplatz, die Einweihung des SS-Lazaretts, die Besichtigung eines Kohlenbergwerks, eine Treibjagd und die Teilnehmer bei abendlicher Geselligkeit im Januar 1945, Beisetzungen von SS-Männern und die Julfeier 1944.

Die Schlagzeilen der beiden deutschen Wochenzeitungen beziehen sich auf die beiden umfangreichsten Themen im Album: ein Ausflug des männlichen SS-Lagerpersonals und des Adjutanten mit SS-Helferinnen auf der Solahütte. Die SS-Hütte wurde 1941 eröffnet und diente der SS als Erholungs- und Freizeitheim. Sie lag ca. 30 km südlich von Auschwitz am Hang des Berges Kotelnica, 100 m über dem Miedzybrodzie-See. Die Ausflüge fanden nach Abschluss der „Ungarn-Aktion“ statt, nach der Vernichtung von mehr als 320.000 ungarischen Juden in den Gaskammern und Krematorien Birkenaus von Mitte Mai bis Juli 1944. Fotos dieser „Aktion“ von der Ankunft und Selektion an der Rampe sind seit vielen Jahrzehnten bekannt und inzwischen mehrmals als „Auschwitz-Album“ oder „Lili Meier Jacob-Album“ publiziert.[3] Das Wissen um die Vernichtung der ungarischen Juden und die Bezugnahme darauf in den Textbeiträgen und Bildlegenden verleiht diesem privaten Fotoalbum seine besondere Brisanz. Die Normalität der singenden, lachenden und im Liegestuhl entspannenden Männer und Frauen während ihrer „Betriebsausflüge“, beunruhigt, irritiert und stört die Vorstellung von den Massenmördern als Psychopathen oder Dämonen.

Zugeschrieben wurde das Album nach intensiven Recherchen dem Mann, der auf vielen Aufnahmen zu sehen ist, dem SS-Obersturmführer Karl Höcker. Er war Adjutant des letzten Kommandanten im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz, Richard Baer. Karl Höcker hat auf diesen Seiten seine ganz privaten Erlebnisse und besonderen Momente für seine Erinnerungen an seine Zeit in Auschwitz festgehalten. Fotos von KZ-Häftlingen oder aus dem Vernichtungslager Birkenau sind in der Bildersammlung nicht enthalten, auch keine Aufnahmen, die die SS bei der Ausübung ihrer Tätigkeit im Lager zeigen. Nur ein Foto lässt sich dem Ort KZ Auschwitz-Stammlager zuordnen, das Höcker mit „Sommer 1944“ beschriftete.

Der Lieferung waren noch „Fotos der Junkerschule und von offiziellen Zeremonien“ beigefügt, die im Beitrag von Judith Cohen erwähnt werden. Zur Entscheidung, diese nicht zu veröffentlichen, schreibt sie: „Sie halten wir für eine nachträgliche Ergänzung, die mit den Bildern aus Auschwitz nichts zu tun hat.“[4] Thematisch stehen die Seiten nicht mit Auschwitz in Verbindung, aber sie sind mit der Lebensgeschichte Karl Höckers verknüpft. Von Ende 1942 bis Mai 1943 absolvierte er eine Ausbildung an der SS-Junkerschule in Braunschweig, die eine Station in seiner SS-Karriere war, und mit der Beförderung zum SS-Untersturmführer abschloss. Diese ergänzenden Albumseiten hätten den Charakter einer autobiografischen Quelle deutlicher hervorgehoben, bedauerlich, dass sie fehlen. Sie hätten die Perspektive auf den Albumbesitzer, seine Selbstdarstellung und seine Wahrnehmung, der Gestaltung und die Auswahl der Fotos für seine Erzählung und Interpretation seines Lebensweges erweitert.

Die acht, dem Bildteil auf 180 Seiten vorangestellten Beiträge der Kultur-/ Historiker aus Belgien, Deutschland, Kanada, den USA und Polen liefern Einblick in den Prozess der Entschlüsselung der Fotos, Hintergründe zur Biografie von Karl Höcker, zur Baugeschichte und der Vernichtungsarchitektur in Auschwitz-Birkenau sowie der Entstehung der SS-Hütte Solatal durch ein Häftlings-Außenkommando von Auschwitz. Die Tätigkeit der SS-Helferinnen und ihre Beteiligung an der Vernichtung wird ebenfalls beleuchtet.

Die kontextualisierenden Beiträge liefern zwar das Hintergrundwissen zu den Fotos, aber nicht die eigentliche Bedeutung des Albums. So wichtig und kenntnisreich die historisch kontextualisierenden Beiträge zur Einordnung und zum Verständnis sind, vermisst man einen Beitrag zum Album als autobiografischer Quelle und der Bedeutung für Höcker, für seine Erinnerung, seine Karrierestationen in der SS, wie zu den Fotos und ihrer Ästhetik oder zur Gestaltung der Albumseiten. Nach Einschätzung der Herausgeber besteht „der Wert des Höcker-Albums [...] vor allem in der Sichtbarwerdung von Einzelpersonen, Netzwerken und Zusammenkünften während der letzten Mordphase des Vernichtungslagers“, die sich mit den Fotoserien dechiffrieren lassen. „Weitere Aufnahmen belegen die informelle Befehlspraxis, die ein wesentliches Merkmal nationalsozialistischer Herrschaftspraxis und hierin insbesondere des Massenmords darstellte.“[5] So werden in einem Beitrag die Netzwerke und Seilschaften in der SS entschlüsselt, für die einzelne Aufnahmen als Beleg dienen. Die Fotos, besser einzelne Fotos des Albums, fungieren ihnen als Anlass für ein außerhalb der Bilder liegendes Interesse. Die autobiografische Quelle verliert so ihren eigentlichen Wert als subjektive Geschichte Karl Höckers von Auschwitz.

Der Beitrag von Tilman Taube verdient noch Erwähnung, da er eine andere Perspektive einnimmt. Es ist ein sehr persönlicher Bericht, ein Bericht seiner Recherchen zur Tätigkeit und den Verstrickungen seines Großvaters in der SS. Seine Anwesenheit in Auschwitz waren bekannt, wenn auch sehr diffus. Die Hintergründe seines dortigen Aufenthalts wurden mit der Entdeckung seines Großvaters auf einem der Fotos im Höcker-Album zur Eröffnung des SS-Lazaretts dann konkreter.

Seit der ersten Wehrmachtsausstellung 1995 sind private Fotoalben als zeitgeschichtliche Quellen verstärkt in den Fokus von Forschungsprojekten und Ausstellungen gerückt.[6] Private Alben aus den Reihen der SS über ihre Tätigkeit in den Konzentrationslagern sind noch sehr rar. Einzelfotos wurden und werden den Archiven von der zweiten und dritten Generation eher überlassen als Alben, was vermutlich auch mit der Vernichtung fotografischen Materials durch die (Groß-)Väter nach dem Krieg zusammenhängen mag. Von Auschwitz liegt meines Wissens mit dem Höcker-Album erstmals ein privates Album vor. Die bislang bekannten Fotokonvolute sind im Auftrag unterschiedlicher SS-Ämter angefertigt worden, z. B. das Bauleitungsalbum wie auch das Auschwitz-Album. Insofern erweitern die Fotografien von Karl Höcker die offizielle Perspektive um seine persönliche Sicht.


[2] Christophe Busch, Stefan Hördler, Robert Jan van Pelt: Freizeit in Auschwitz. Zur Dechiffrierung fotografischer Quellen der SS. Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer, im besprochenen Band S. 18.

[3] Israel Gutman, Bella Gutterman: Das Auschwitz-Album. Die Geschichte eines Transports, hg. im Auftrag der Gedenkstätte Yad Vashem, 2005: Wallstein Verlag.

[4] Judith Cohen, Rebecca Erbeling: Auschwitz durch die Kameralinse der SS. Die Entschlüsselung eines vielschichtigen Fotoalbums. Aus dem Englischen von Birgit Lamerz-Beckschäfer im besprochenen Band, S. 21.

[5] Busch, Hördler, van Pelt, (Anm. 2). S. 16 und 17.

[6] Zum Beispiel das Forschungs- und Ausstellungsprojekt von Petra Bopp, Sandra Starke: Fremde im Visier. Fotoalben aus dem zweiten Weltkrieg, Bielefeld: Kerber Verlag, 2009.

 

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