Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Svenja Mordhorst

Ein Bild vom Bild


Toulouse-Lautrecs Plakate und die Tänzerfotografie im ausgehenden 19. Jahrhundert

Dissertation, Leuphana Universität Lüneburg, Institut für Philosophie und Kunstwissenschaft, Prof. Dr. Beate Söntgen (Erstgutachterin), Prof. Dr. Christina Thurner (Zweitgutachterin), Finanzierung: Stipendien der Leuphana Universität und der Studienstiftung des deutschen Volkes e.V., Kontakt: svenja.mordhorst(at)googlemail.com

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 145, 2017

Dass der französische Künstler Henri de Toulouse-Lautrec (1864–1901) ein Faible für die Fotografie hatte, ist bekannt. Aus dem privaten Kontext sind etliche Fotografien erhalten, die zumeist von den fotoaffinen Freunden François Gauzi und Maurice Gilbert, wenige auch vom Berufsfotografen Paul Sescau gemacht wurden. Auch beauftragte Lautrec Sescau, Maurice Joyant und Eugène Druet mit der Reproduktion einiger seiner Werke.[1] Er setzte sich zudem künstlerisch mit fotografischen Erzeugnissen auseinander. Neben der Kombination verschiedener Blickwinkel und der ,schnappschussartigen‘ Bildkompositionen übernahm Lautrec häufiger Motive aus Fotografien.[2] Im Kontext dreier Plakate für die Tänzerin Jane Avril (1868–1943) sind Fotografien bekannt, die Lautrec als Vorlagen nutzte: Richard Thomson bringt 1985 eine Fotografie Sescaus (Abb. 1) in Zusammenhang mit dem 1893 entstanden Plakat Jane Avril (Abb. 2).[3] Götz Adriani druckt in Verbindung mit dem Plakat Troupe de Mlle Églantine eine Fotografie der Tanzgruppe ab.[4] Eine von Sescau stammende Fotografie Jane Avrils in einem Kleid mit Schlangenmotiv nutzte Lautrec zudem für sein letztes Plakat.[5]

Über die bloße Aufzählung dieser Fotografie-Lithografie-Paare hinaus gibt es bislang jedoch kaum eine Untersuchung der künstlerischen Beschäftigung Lautrecs mit den Motiven der Fotografie. Dabei liefert sie wichtige Informationen zu Potential und Grenzen der beteiligten Medien, insbesondere mit Blick auf die Visualisierung von Bewegung und Tanz. Auch auf den (künstlerischen) Status von Lithografien und Fotografien im ausgehenden 19. Jahrhundert lässt sich durch die vergleichende Analyse der der Bilder schließen. Denn die Fotografien, die Lautrec für die Plakate nutzte, waren keine Auftragsarbeiten, sondern zu dieser Zeit in Paris kursierende, kommerzielle Produkte.

Die hier vorgestellte Dissertation untersucht die Tanzplakate Lautrecs auf Formen der Bewegungsvisualisierung und bringt diese mit den Tänzerfotografien wie auch mit der tänzerischen Ästhetik der dargestellten Tanzstile in Zusammenhang.[6] Durch die Übernahme der Motive aus den fotografischen Tänzerporträts bezieht sich Lautrec bewusst auf diese Bilder des Tanzes, beziehungsweise der Tänzerinnen und setzt sich mit dem Potential und den Grenzen der Fotografien auseinander.

Eine wichtige Rolle für die Betrachtung der Arbeiten spielt daher die Geschichte der Tanzfotografie und mithin der fotografischen Rollenporträts im 19. Jahrhundert, deren Konventionen die Autogrammfotografien Jane Avrils und ihrer Kolleginnen folgen. Sie sind die erste Form des fotografischen Bildes, das sich im weitesten Sinne mit dem Tanz als Motiv beschäftigt. Im Fokus steht jedoch die Porträtabsicht – das Hervorheben der "Erscheiung und Persönlichkeit des Tänzers in verschiedenen Posen".[7] Die Erscheinung der Tänzerinnen ist zwar dem Tanz entlehnt, die tänzerische Bewegung vermögen und beabsichtigen diese Bilder jedoch nicht zu vermitteln.[8]  Die Unbewegtheit der Figuren hängt also mit dem gewählten Modus des Rollenporträts, aber auch mit den technischen Grenzen der Fotografie zusammen. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ist es nicht möglich, Aufnahmen während der Aufführungen zu machen. Entsprechende Szenen oder typische Posen werden von den Tänzerinnen in charakteristischen Kostümen im neutralen Umfeld des Fotoateliers abgelichtet. Die zunächst langen Belichtungszeiten machen ein mühsames Stillstehen notwendig, das oft nur mithilfe von Stützvorrichtungen möglich ist.[9]

Betrachtet man beispielhaft das genannte Plakat Jane Avril so lässt sich folgendes beobachten: statt die der Autogrammfotografie Sescaus inhärente Unbewegtheit durch eine modifizierte Gestaltung – durch ein effektvolles Kostüm, eine Pose der Schwebe – zu kompensieren und die Darstellungen der Erscheinung des Tanzes anzupassen, übernimmt Lautrec die Figur nahezu ohne Veränderungen. Er transferiert sie in eine spezifische Umgebung mit Bühne und Musiker, die einerseits einen Hinweis auf die Atmosphäre und die Aufführungspraxis in den Etablissements liefern. Andererseits sind Bühne und Musiker so gestaltet, dass sie Bewegung auf formaler Ebene kodiert. Durch Parallelisierungen, Aufgreifen von Bewegungsrichtungen und die eigentümlich lineare Gestaltung von Bühne, Musiker und Rahmen dynamisiert und rhythmisiert Lautrec die Darstellung und demonstriert auf diese Weise die Darstellungsmöglichkeiten der Lithografie.

Vor der Folie der kommerziellen, fotografischen Tänzerporträts erweist sich die Aneignung des Bildmotivs als kluge Werbestrategie. Lautrec setzte auf den Identifikationseffekt und die Wirkung dieser auflagenstarken Werbebilder für seine Plakate.[10] Zudem reflektiert er damit aktiv die Bildpraxis des Tanzes im 19. Jahrhundert, wie auch das Potential und die Grenzen der Medien Fotografie und Lithografie im Vergleich.

Eine Studie (Abb. 3) zum Plakat  Jane Avril  belegt eine weitere Form der Arbeit mit dem Medium der Fotografie. Das Verhältnis von Figur und Rahmung lotet Lautrec darin mithilfe einer Fotografie aus. Diese Fotografie ist jedoch nicht die Autogrammfotografie Sescaus, sondern die fotografische Reproduktion des Gemäldes Jane Avril Dansant (Abb. 4).[11] Lautrec ließ also seine eigene Interpretation der Fotografie abfotografieren, um sie für die weitere Konzeption seines Plakats zu nutzen. Für das Dissertationsprojekt ist die Sichtung dieser Studie sehr wichtig. Leider ist mir ihr Aufenthaltsort unbekannt. Über Hinweise zur Studie und ihren Verbleib wäre ich daher sehr dankbar (Kontakt siehe oben).


[1] Vgl. Rudolf Koella (Hg.): Toulouse-Lautrec und die Photographie, Ausstellungskatalog Kunstmuseum Bern, München 2015, S. 32.

[2] Vgl. ebenda, S. 39–42 und S. 23 und 36.

[3]Siehe Richard Thomson: The imagery of Toulouse-Lautrec’s Prints, in: Wolfgang Wittrock: Toulouse-Lautrec. The complete prints, London 1985, S. 13–34, hier S. 23, ohne Nennung des Fotografen und ohne Autogramm. Der Ausstellungskatalog The Paris of Toulouse-Lautrec (2014) veröffentlicht die Fotografie mit Verweis auf Paul Sescau als Urheber (S. 46, Abb. 27). Im Rahmen der Berner Ausstellung wird sie inklusive Autogramm der Signatur „P. Sescau“ ausgestellt und im Katalog abgedruckt (Ausstellungskatalog 2015, S. 214).

[4] Siehe Götz Adriani (Hg.): Toulouse-Lautrec. Das gesamte graphische Werk. Sammlung Gerstenberg, Sammlungskatalog,Köln 1986, S. 212.

[5] Siehe Ausstellungskatalog 2014 (Anm. 3), S. 47, bzw. als Autogrammkarte auf Karton inklusive der Signatur „P. Sescau“, mit korrigierter Datierung in Ausstellungskatalog 2015 (Anm. 3), S. 226.

[6] Catherine Pedley-Hindson erwähnt das Plakat Jane Avril (1893) und Sescaus Fotografie  mit Blick auf die realistische Darstellung des Tanzstils Jane Avrils. Vgl. Catherine Pedley-Hindson: Jane Avril and the Entertainment Lithograph: The Female Celebrity and fin-de-siècle Questions of Corporeality and Performance, in: Theatre Research International, Heft 2, 2005, S. 107–123.

[7] Gisela Barche, Claudia Jeschke: Bewegungsrausch und Formbestreben, in: Gunhild Oberzaucher-Schüller (Hg.): Ausdruckstanz. Eine mitteleuropäische Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wilhelmshaven 1992, S. 317-346, hier, S. 323; vgl. auch Susanne Holschbach: Phädra im Fotoatelier.Fotografische Rollenporträts im 19. Jahrhundert, in: Fotogeschichte, Heft 101, 2006, S. 3–15.

[8] Zur Hinwendung der Fotografie zum Tanz  siehe u.a.: Le Coz, Françoise: Erstarrte Pose? Photographie des Tanzes, Jo-Anne BirnieDanzker (Hg.): Loie Fuller. Getanzter Jugendstil, Ausstellungskatalog Museum Villa Stuck, München 1995, S. 39–44; Barche /Jeschke (Anm. 7); Sabine Huschka: Bildgebungen tanzender Körper. Choreografierte Blickfänge 1880 bis 1930. In: Fotogeschichte, Heft 101, 2006, S. 41-50; Isa Wortelkamp: Bilder in Bewegung. Bewegung in Bildern, in:  Christina Thurner (Hg.): Original und Revival. Geschichts-Schreibung im Tan, Zürich 2010, S. 155-169; Tessa Jahn, Tessa, Eike Wittrock, Isa Wortelkamp: Tanzfotografie. Historiografische Reflexionen der Moderne, Bielefeld 2015.

[9] Vgl. Bettina Brandl-Risi, Gabriele Brandstetter, Stefanie Diekmann: Posing Problems. Eine Einleitung, in: dies.: Hold it!Zur Pose zwischen Bild und Performance, Berlin 2012, S. 7-21, hier S. 16 f.. Zu den Folgen der fotografischen Fixierung für das Bewegungspotential der Pose siehe ebenda; Gabriele Brandstetter: Pose - Posa - Posing. Zwischen Bild und Bewegung,  in: Elke Bippus, Dorothea Mink (Hg.): Fashion body cult. Mode Körper Kult, Stuttgart 2007, S. 248-265; David Campany: Posing, Acting, Photography, in: Lowry Green (Hg.): Stillness and time. Photography and the moving image. Brighton 2006, S. 97-112.

[10] Vgl. ebenda, S. 23 und 36.

[11] Wer der Urheber der fotografischen Reproduktion ist, ist nicht bekannt. Es liegt jedoch nahe, dass Lautrec einen seiner befreundeten Fotografien oder vielleicht sogar Sescau selbst damit beauftragt hat.

 

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