Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Markus Bauer

Tiere sehen dich an

Friedrich Seidenstücker. Von Nilpferden und anderen Menschen. Fotografien 1925-1958. Of Hippos and other Humans. Photographs 1925–1958, dt./engl., Hg. von Ulrich Domröse, Berlinische Galerie, Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur, Ausstellungskatalog zur gleichnamigen Ausstellung 1. Oktober 2011 bis 6. Februar 2012, Ostfildern: Hatje Cantz, 2011, 23,50 x 27,90 cm, 328 S., 287 Abb. in Duplex S/W, 7 Abb. in Farbe, gebunden 39,80 €, Klappenbroschur (nur im Museum) 34,80 €

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 123, 2012

1928 wurde die Fotografin Hedda Walther schlagartig berühmt: Tiere sehen dich an hieß der Band des Schriftstellers Paul Eipper, in dem ihre Tieraufnahmen einem großen Publikum zugänglich wurden. Nicht zuletzt der prägnant-suggestive weckende Titel dürfte bis heute bekannt geblieben sein, benutzte ihn doch ein Jahr später John Heartfield in Kurt Tucholskys Bilder-Buch Deutschland, Deutschland über alles für seine berühmte Montage der dekorierten Militärs aus dem Ersten Weltkrieg (– der Schriftsteller Hans Wollschläger griff den Titel später polemisch wieder auf, um mit dem Zusatz "Das Potential Mengele" auf den in seinen Augen perversen Umgang der Gegenwartsgesellschaft mit dem Tier hinzuweisen). Tiere spielten offensichtlich in Berlin, im Zentrum der Weimarer Republik, eine sehr viel andere Rolle als heute, wenn auch einige der Merkmale, wie etwa die Begeisterung für den Zoo, sich bis in die Gegenwart erhalten haben.

Friedrich Seidenstücker, der wie Eipper ein persönliches Faible für die Tierwelt besaß, begann im gleichen Jahr mit Aufnahmen aus dem Berliner Zoo seinen Ruf als großer Fotograf zu begründen. Er benutzte einen Spezialpass des Zoologischen Gartens, der ihm erlaubte, immer und überall zu fotografieren – von den ca. 15.000 Aufnahmen seines Archivs sind fast die Hälfte Tieraufnahmen. Was diesen Berliner Fotografen allerdings heraushebt aus dem zeitgenössischen Interesse am Tier, ist der fotografische Ansatz: Seine Bilder zeigen vielfach Menschen im Umgang mit den Tieren, hinter den Gittern oder im Freien, und sie blenden den Kontext des Zoos nicht aus, um etwa die Illusion eines Tieres in natürlicherUmgebung zu erwecken. Zahlreiche Aufnahmen von der Praxis der knipsenden Amateure im Zoo befragen metareflexiv den Status des Fotografen; hier lässt sich mehr als ein bloß "humoristischer" Zugang zum Thema "Tiere (und Menschen) im Zoo" feststellen. Auch wenn Seidenstücker Fotoreportagen lieferte wie "Die Verwandtschaft von Tier und Mensch" und die ähnliche Gestik verglich, so ist dies weniger als Behauptung einer biologisch-instinktiven Verwandtschaft zu sehen, sondern eher als eine durch Fototechnik hergestellte. Seidenstücker gelang es, menschenähnliche Physiognomie beim Tier fotografisch zu realisieren, z.B. im 'gelassen-interessierten' Blick eines Nashorns auf den im Sicherheitsgraben arbeitenden Pfleger. Dass eine besondere Bewusstheit bei seinen Zooaufnahmen am Werk war, zeigt sein Bild "Zweites Wachregiment" mit einem Elefanten, der von einer großen Zahl von Armeeoffizieren durch den Graben und acht Reihen von aus dem Grabenrand ragenden Nägeln getrennt ist – eine gefährliche Demarkationszone, die vielfache Assoziationen weckt. Über das Foto "Watussirinder", deren Schatten sich archaisch auf dem Beton abzeichnen, schreibt Florian Ebner: "Als wären sie Höhlenmalereien aus Lascaux". Nicht nur dieses Foto macht deutlich, dass Seidenstücker über eine außergewöhnliche Bandbreite der bildlichen Wahrnehmung und fotografischen Kreativität verfügte.

Aus dieser Virtuosität resultiert, dass auch seine Straßenfotografie zu einem unvergleichbaren Reservoir an "Images" der Weimarer Republik werden konnte. Seidenstücker schrieb sich in die Ikonografie dieser Zeit mit seinen Aufnahmen aus Berlin ein – etwa wenn er an Regentagen an einer größeren Pfütze junge Frauen auf die Platte bannte, die elegant, selbstbewußt, neckisch zum Sprung ansetzten. Eine dieser Aufnahmen ist vielfach als Symbol der Befreiung von den nicht nur modischen Beschwernissen der Tradition und als Ausdruck des Neuen Denkens der Frauen in den Zwanziger Jahren eingesetzt worden. Hier kommt Seidenstückers Witz, sein von einer bildhauerischen Ausbildung her resultierendes Interesse an der Bewegung des Körpers, sein dokumentarisches Ethos, sein fotografisches Geschick voll zum Tragen.

Die Straßenfotografie wurde in den 1920er Jahren ein zentrales Genre der modernen Fotografie, der möglichst unverstellte Blick auf das Leben der Stadt, die Häuser, die Dinge, den Verkehr, die arbeitenden und in der Freizeit entspannenden Menschen entpuppten sich für viele Fotografen und Fotografinnen als faszinierende Foto-Objekte. Wolfgang Brückle stellt in seinem Katalogbeitrag Seidenstücker in die Nähe der Flaneure, Spaziergänger und Bummler jener Jahre, des Schriftstellers Franz Hessel und des Theoretikers Walter Benjamin, der Fotografen Otto Umbehr, Sasha Stone, Mario von Bucovich und anderer. Brückle verweist darauf, dass sich Hessels Texte und Seidenstückers Fotos auch begegneten, nämlich in dem Band Menschen auf der Straße des Stuttgarter Eichhorn Verlages. (Aktuell ist ein Reprint von Hessels Spazieren in Berlin mit Fotos von Seidenstücker illustriert lieferbar.) Auch in dem eingangs erwähnten Buch von Tucholsky finden sich Seidenstücker-Arbeiten.

Wiewohl einige Aufnahmen sich dem konstruktivistisch-rationalen Stil des "Neuen Sehens" annäherten, gehen Seidenstückers Straßenfotos meist auf anderes aus. Sie zeigen, wie Brückle zutreffend bemerkt, das Alte neben dem Neuen in der Stadt. Ältere Frauen in ihrer bauschigen Kleidung aus dem 19. Jahrhundert bilden hier den auffälligen Kontrast zu den von Seidenstücker bevorzugt gezeigten jungen, sportlich-selbstbewussten "girls". Dass es ihm aber nicht nur um die Metropole ging, zeigt besonders ausdrucksstark eine Serie "Zigeuner in Unna". Allgemeiner lässt sich feststellen, dass die Aufnahmen Seidenstückers uns eine wirklichkeitsnähere Vorstellung von jener historischen Epoche vermitteln. Sie zeigen die Massen bei ihren Vergnügungen, den Alltag der Stadt, wo er völlig unspektakulär ist, aber ebenso soziale Unterschiede und historische Ungleichzeitigkeiten: Ein Foto zeigt am Leipziger Platz zwischen den antikisierenden Säulen von Schinkels Garde-Häuschen einen Zeitungsstand, der zahlreiche ausländische Pressetitel bereit hält. Wer genau hinschaut, kann sehen, dass man noch 1934 neben zahlreichen englisch-und französischsprachigen Presseerzeugnissen ein Heft von "Screen Romances" mit Bing Crosby auf dem Cover auf offener Straße kaufen konnte. Eine andere Aufnahme dokumentiert, dass es so etwas wie "Gasriecher" gab, die an aus den unterirdischen Leitungen ragenden Rohren olfaktorisch Lecks an Gasleitungen aufspürten. Es sind nicht zuletzt diese versunkenen Details, die Seidenstücker zu einem der bedeutendsten Dokumentaristen Berlins machten.

Diesem Ansatz blieb er auch treu, als er nach dem Zweiten Weltkrieg die Stadt in surreal anmutenden Ruinenfotografien darstellte. Natürlich hat er die Zerstörung des Zoos dokumentiert und darüber hinaus die absonderliche Ästhetik der Ruinen präzise eingefangen. Anders als etwa bei Herbert List in München bleibt bei Seidenstücker der Blick auf die Ruinenrealität meist ohne Abstraktion von der Tatsache, dass es sich um Zerstörung und nicht romantischen Verfall handelt, wie Antje Schunke in ihrem Beitrag hervorhebt. Wenn er auch absonderliche Effekte produziert, etwa dadurch, dass er junge Leute mit Zeichenpapier in die Ruinen stellte, als handelte es sich beim abgeholzten Tiergarten um italienische Landschaften. Auch hier ist es die Erotik der Frauen, die ihn in dieser Umgebung interessierte und merkwürdige Ansichten des Lebens in einer toten Stadt geriert, etwa jener Zwillinge, die in adretter sommerlich-bauchfreier Aufmachung mit poppig schwarzen Sonnenbrillen und sorgfältigem Make-Up so gar nicht zu der Jahreszahl 1948 passen wollen.

Mit diesem Band, der durch zahlreiche Informationen zur Biografie und zur Aufarbeitung seiner großen fotografischen Hinterlassenschaft ausgestattet wurde, ist ein weiterer entscheidender Schritt in der Profilierung des Fotografen Friedrich Seidenstücker realisiert worden.

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