Franziska Maria Scheuer
Bilder für den Frieden
Gestaltung und historischer Gebrauch der Autochrome der Sammlung Les Archives de la planète (1908–1931)
Erschienen in: Fotogeschichte 129, 2013
Dissertation an der Philipps-Universität Marburg, Kunstgeschichtliches Institut, Prof. Dr. Hubert Locher (Kunstgeschichtliches Institut Marburg, Bildarchiv Foto Marburg), Beginn: März 2010, Art der Finanzierung: Promotionsstipendium und Kurzreisestipendium des Graduiertenzentrums Geistes- und Sozialwissenschaften Marburg, Kongressreisestipendium des DAAD (USA), ab Mai 2010 Stipendium „Museumskuratoren für Fotografie“ der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, Kontakt: scheuer(at)staff.uni-marburg.de
Den Schwerpunkt des Promotionsvorhabens bildet die fotografiehistorische Untersuchung der Gestaltung und des historischen Gebrauchs der Autochrome der Multimediasammlung Les Archives de la planète. Das 1908 durch den jüdischen Bankier Albert Kahn (1860–1940) gegründete und bis 1931 privat finanzierte „Archiv des Planeten Erde“ beinhaltet – neben etwa 100 Stunden Film – die weltweit größte Sammlung früher farbiger Glasdiapositive nach dem 1907 kommerzialisierten Verfahren der Brüder Lumière (frz. „plaques autochromes“). Die Farbdias zeigen Ethnien, ihre Kulturen und Lebensbereiche aus fast sämtlichen Teilen der Erde. Die Gestaltungsmerkmale reichen von systematischen Ansichtenfolgen über aufwändige (Farb-)Kompositionen bis hin zu Reminiszenzen an etablierte ikonografische Konzepte. Die Autochrome sollten zum einen der Bewahrung bedrohter Kulturen und Lebensräume dienen und zum anderen durch die Vermittlung von Kenntnissen über ‚fremde‘ Lebensgewohnheiten und -bereiche zum gegenseitigen Verständnis der Völker untereinander und zur Friedenssicherung beitragen. Ab 1912 durch den Humangeografen Jean Brunhes wissenschaftlich betreut, war das Bildarchiv v. a. den Mitgliedern des ebenfalls von Kahn gegründeten Debattierclubs La Société Autour du Monde zugänglich und die Autochrome wurden auch bei Vorträgen Brunhes‘ am Collège de France oder vor Mitgliedern des Völkerbundes gezeigt.
Untersucht werden die ästhetischen, historischen und soziopolitischen Grundlagen zur Etablierung der pazifistisch-didaktischen Utopie der Völkerverständigung durch Bilder sowie die tatsächliche Umsetzung dieser Utopie hinsichtlich der Gestaltung der Autochrom-Platten und ihres Gebrauchs. Besonderes Augenmerk wird dabei u. a. den Anweisungen gelten, die von Kahn und v. a. Brunhes an die Fotograf/innen (frz. „opérateurs“) übermittelt wurden und die durch die fotokünstlerische Ausbildung und Sozialisierung dieser „Ausführenden“ individuell überformt wurden. Jean Brunhes‘ Theorie der Géographie Humaine und die in seiner gleichnamigen Schrift von 1910 aufgestellten Kategorien zur Erfassung der komplexen Wechselbeziehungen zwischen dem Menschen und der physischen Beschaffenheit der Erde werden dabei als wissenschaftliche Grundlage der enzyklopädischen Bildproduktion von Les Archives de la planète verstanden. Zeitlich benachbarte Fotoprojekte der frühen Ethnologie und Anthropologie stellen dabei ebenso wichtige Bezugspunkte der Arbeit dar, wie enzyklopädische Bildersammlungen und Fotoatlanten des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts.
Den beschriebenen enzyklopädisch-wissenschaftlichen Überbau gilt es – zur Annäherung an das ästhetisch heterogene Bildarchiv – mit einer Untersuchung der Traditionen der Fototheorie und -praxis um 1900 in Frankreich zu verbinden. Die Rolle des Direktdiapositivs in Fachdiskursen der piktorialistischen Fotografie ist hier ebenso wichtig, wie die Tradition der Reisefotografie und ihrer Vorführungen. Die von Kahn und Brunhes beschäftigten Fotograf/innen sollen auf diese Weise erstmals als eigenständig gestaltende Gruppe beleuchtet werden, deren Mitglieder sowohl eigene Vorstellungen davon mitbrachten, was mit fotografischen Mitteln bewahrt werden sollte, als auch individuelle Vorannahmen über das gesehene und fotografierte ‚Fremde‘ und verschiedene fotografische Annäherungen an die Kahn‘sche Utopie in das Projekt einbrachten.
Neben der interdisziplinären formalen und historisch-kritischen Einordnung der Gestaltungsmittel, die auf die Autochrom-Platten des Projektes angewendet wurden, untersucht die Arbeit den Gebrauch der Farbdias im Hinblick auf die eingangs skizzierte Friedensutopie. Dabei gilt es zunächst den immer noch kontrovers diskutierten Status der Autochrom-Platte als Projektionsmedium anhand der Vorführungen nachzuweisen. In einem weiteren Schritt sollen durch eine eingehende Analyse der Projektionsregister die Bildfolgen ausgewählter Vorführungen rekonstruiert und so rhetorische Praktiken des Bildgebrauchs im Sinne der Kahn’schen Vision nachgewiesen werden. Die Tradition des ‚Reisens in Bildern‘, die über Mitgliedschaften der „opérateurs“ in Fotoclubs oder den Kontakt Jules Gervais-Courtellemonts nach Boulogne nachgewiesen werden kann, führt letztlich auch zu der Frage nach der Rolle des Autochromes im Multimediaensemble Les Archives de la planète, in dem die beiden Lumière’schen Erfindungen Kinematographie und Autochrom gemeinsam genutzt und archiviert wurden.
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