
Isabelle de Keghel, Andreas Renner
Fotografie in Russland und der Sowjetunion. Editorial
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 136, 2015
Fotogeschichte ist in jeder Hinsicht ein grenzüberschreitendes Unternehmen. Methodisch und thematisch zwischen den Bild- und den Geschichtswissenschaften angesiedelt, untersucht sie ein vergleichsweise junges Phänomen, das nicht nur eine neue Erfahrung von Raum und Zeit bewirkte, sondern auch scheinbar mühelos kulturelle, geografische und soziale Schranken passierte. Die Verbreitung von Fotografien und die Etablierung von Fotografen in und auch außerhalb von Europa sind indes unterschiedlich gut dokumentiert; erstaunlich wenig erforscht ist die Fotogeschichte des Zarenreichs und der UdSSR. Zwar ist sie kein weißer Fleck der Forschung geblieben. Die sowjetische Avantgardefotografie der 1920er Jahre oder Stalins Retuschen sind sogar ausgesprochen populäre Themen westlicher ForscherInnen. Und russländische FotohistorikerInnen haben ein umfangreiches, wenn auch lange Zeit auf Personen, Meisterwerke und Kameratechnik ausgerichtetes Œuvre vorgelegt.[1] Doch nur der kleinste Teil dieser Arbeiten ist im Ausland rezipiert worden, während sich umgekehrt nur wenige ausländische ForscherInnen an neue Themen wie die Geschichte der Fotografie im Zarenreich oder – beispielsweise – die sowjetische Amateurfotografie gewagt haben. Was im Westen vorrangig wahrgenommen wurde, waren lange Zeit Ausstellungen und Bildbände zum Thema russländische und sowjetische Fotografie.[2]
Erst in den letzten zwei, drei Jahrzehnten fand die Fotogeschichte des Zarenreichs und der Sowjetunion in ihrer ganzen Vielfalt die Aufmerksamkeit der Forschung. Mehrere Impulse sind hier zu nennen: Erstens wurden fotografischen Aufnahmen im Zuge des Visual Turn in historischen Untersuchungen mehr Aufmerksamkeit zugewandt; sie dienten nicht länger nur als Hilfsmittel zur nachträglichen Visualisierung von anderweitig ermittelten Befunden, sondern rückten als Quellenkorpus in den Mittelpunkt historischer Forschungen. Mit der Auflösung der Sowjetunion verlor, zweitens, die alte Leitfrage nach den Ursachen und Folgen des Revolutionsjahrs 1917 ihre epochale Faszination. Der neue Themen- und Methodenpluralismus begünstigte Fragestellungen – nicht zuletzt aus dem Bereich der Fotogeschichte, die bislang für marginal oder irrelevant gehalten worden waren. Drittens schließlich eröffnete die wissenschaftsgeschichtliche Umbruchzeit der Jahrhundertwende nicht nur neue, fächerübergreifende Perspektiven, sondern auch den Zugang zu unbekannten oder verschlossenen Fotoarchiven und erleichterte den Kontakt zu KollegInnen aus dem postsowjetischen Raum.
Eine Bilanz dieser Entwicklungen in einem Themenheft ziehen zu wollen, wäre ein anmaßender Anspruch. Es kann nur darum gehen, Forschungsschwerpunkte und -perspektiven anhand von Fallstudien vorzustellen. Die Beiträge sind aus einer Tagung am Deutschen Historischen Institut in Moskau im Oktober 2013 hervorgegangen, welche die beiden HerausgeberInnen zusammen mit Katja Bruisch (Moskau) und Katja Kucher (Tübingen) organisiert haben. Die Aufsätze schlagen einen Bogen von der Frühzeit der Fotografie im Zarenreich bis zur letzten Dekade der Sowjetherrschaft, von der wissenschaftlichen zur künstlerischen und von der offiziellen zur nonkonformistischen Fotografie. Es ist nicht das Ziel, Thesen und Themen der westlichen Forschungen sendungsbewusst nach Osten zu tragen und die erwähnten weißen Flecken zu kolorieren. Vielmehr stehen Phänomene aus der russländischen bzw. sowjetischen Geschichte im Fokus, deren Bearbeitung wiederum Impulse für die Fotogeschichte anderer Länder geben kann.
Laura Elias und Anja Burghardt stellen in ihren Beiträgen die fotografische Erkundung der asiatischen Provinzen des Zarenreichs in den Mittelpunkt, die sich durchaus von der westeuropäischen Kolonialfotografie unterschied, ohne deshalb immun gegen (ethnische) Hierarchisierungen und den Orientalismus gewesen zu sein. Mit der Modernisierung in der späten Zarenzeit befasst sich Lenka Fehrenbach: Am Beispiel der Fabrikfotografie analysiert sie einen bisher wenig beachteten visuellen Fortschrittsdiskurs. Emily Evans nimmt in ihrer Analyse von Arbeiterporträts fotografische Repräsentationen derer in den Blick, die in den Fabriken tätig waren. Dabei machte sie in der schon so intensiv erforschten frühen Sowjetzeit überraschende Entdeckungen. Olga Smith und Dina Gusejnova stellen schließlich den inzwischen berühmten Fotografen Boris Michajlov als Außenseiter-Chronisten der als Stagnationszeit geltenden Ära Brežnev vor. Dass sich nur zwei Beiträge des Themenheftes mit der UdSSR befassen, zeigt indirekt die Verlagerung der fotogeschichtlichen Forschung in die bislang weniger beachtete Zarenzeit.
Den Autorinnen sei an dieser Stelle für die geduldige Bereitschaft gedankt, ihre Moskauer Vorträge in Aufsätze zu verwandeln und so fotohistorisch interessierten LeserInnen Einblicke in laufende Forschungsprojekte zur Geschichte Russlands und der UdSSR zu gewähren. Zu danken ist auch dem Deutschen Historischen Institut für die Unterstützung der Tagung und dieser Publikation.
[1] Vgl. die darüber hinausgehenden neueren Überblicke von Elena V. Barchatova: Russkaja svetopis’. Pervyj vek fotoiskusstva 1839–1914, S.-Peterburg 2009, und Valerij S. Stigneev: Vek fotografii, 1894–1994. Očerki istorii otečestvennoj fotografii, 5. Auflage, Moskva 2011.
[2] Zum Beispiel: David Elliott (Hg.): Russische Photographie 1840–1940, Berlin 1993; Bodo von Dewitz, Daniela Mrázkowá (Hg.): Politische Bilder: Die Sammlung Daniela Mrázkowá. Sowjetische Fotografien 1918–1941, Göttingen 2009.
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