
Steffen Siegel
Das Problem namens ‚Fotografie‘
Tanya Sheehan, Andrés Mario Zervigón (Hg.): Photography and its Origins, London: Routledge 2015, 238 S., 23 x 15,5 cm, zahlreiche Abb. in Farbe und S/W, kartoniert: ISBN 978-0-415-72290-2: 39,95 Dollar, gebunden: ISBN 978-0-415-72289-6: 130 Dollar
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 138, 2015
Als sich die Erfindung der Fotografie im Jahr 1989 zum 150. Mal jährte, war dies, es versteht sich fast von selbst, ein vielfach aufgegriffener Anlass zur mediengeschichtlichen Rückschau. Tatsächlich war hierfür die Gelegenheit günstig. Zu dieser Zeit hatte sich die Fotogeschichtsschreibung wenigstens seit einem Jahrzehnt als eine akademisch ernstzunehmende Disziplin entfaltet und etabliert. Allein die sich rasch vergrößernde Zahl einschlägiger Periodika – zu denen früh, seit 1981, auch die vorliegende Zeitschrift gehört – spricht hierbei eine deutlich vernehmbare Sprache. 1989 also war das Jahr, indem wichtige Quellenanthologien herauskamen, historische Gesamtdarstellungen erschienen und Jubiläumsausstellungen ausgerichtet wurden. Nicht zuletzt aber ist 1989 auch jenes Jahr, in dem das Jubiläum selbst abgeschafft wurde. Für die Zwecke der Aufmerksamkeitsökonomie mag die kalendarische Logik eines Jahrestags unverändert nützlich sein, mit mediengeschichtlichen Umständen im Allgemeinen und der Frühphase des Fotografischen im Besonderen hat sie dennoch kaum etwas gemein. Von heute aus betrachtet sind es wohl vor allem die gedruckten Dokumentationen zweier Tagungen, die eine solche Kritik an dem einst sorgfältig gepflegten Glauben an die Möglichkeit eines Ursprungs der Fotografie (im ohnehin problematischen Singular) aussprechen.[1]
Seither sind weitere 25 Jahre vergangen, deren Bedeutung für die Entwicklung des fotohistorischen Diskurses nur schwer zu überschätzen sein dürfte. Fotogeschichtsschreibung, so unterstreichen die beiden Herausgeber in ihrer Einleitung des nun erschienenen Sammelbandes Photography and Its Origins, Tanya Sheehan und Andrés Mario Zervigón, lässt sich unterdessen kaum anders als im Plural denken. Sie haben unbedingt recht, hat sich doch entlang zahlreicher Parameter das Interesse am Fotografischen in den zurückliegenden Jahren entfaltet und differenziert. In besonders nennenswerter Weise geschah dies vor allem hinsichtlich von Fragen der Geografie, des disziplinären Zugriffs wie auch, hiermit eng verbunden, der zum Einsatz gelangenden Methoden. Nimmt man die bereits seit Längerem kurrente Rede von der Vielfalt von Ursprüngen des Fotografischen beim Wort, so lassen sich solche Multiplikationen nicht zuletzt aber auch historisch denken. Hinter dem Kollektivsingular ‚Fotografie‘ steht, so die These des Sammelbands, von Anfang an eine Vielzahl von Interessen, Methoden, Technologien und Produkten. Was es aber eigentlich heißt, in einem solchen Kontext überhaupt noch „von Anfang an“ zu sagen, dies ist die leitende Fragestellung der insgesamt 16 Beiträge dieses Buches. Sie tragen, historisch gewissermaßen rückwärts denkend, zu einer weiteren Differenzierung unseres Verständnisses von der Formationszeit des Fotografischen bei.
Grundlegender Gestus der meisten Texte dieses Bandes ist die Dekonstruktion vertrauter Narrative der Fotogeschichtsschreibung. Jessica S. McDonald etwa wendet sich nicht allein gegen Helmut Gernsheims emphatische Selbstdarstellung, die „erste Fotografie der Welt“ entdeckt zu haben, sondern zeigt insbesondere auch, wie überraschend gering die Resonanz einer solchen (Selbst-)Stilisierung war, als Niépces Heliografie erst einmal in die Bestände des Harry Ransom Center in Austin eingegliedert war. Genau besehen gehört es unserer eigenen, jüngsten Vergangenheit an, die von Gernsheim so hartnäckig betriebene Mythenproduktion vollends zur Wirkung gelangen zu lassen. Stephen C. Pinson wiederum greift eine bereits in seiner vor Kurzem erschienenen Daguerre-Monografie [2] angelegte These noch einmal auf und zeigt, wie wenig selbst für diesen Erfinder eines fotografischen Verfahrens, das er kurzerhand nach sich selbst benannt hatte, die kategoriale Grenze zwischen Malerei, Zeichnung und Fotografie ausgemacht war. Überhaupt wird Daguerre – unter einer zuletzt dann doch merkwürdig erscheinenden und bedauerlichen Vernachlässigung von Talbot – in diesem Band eine weit größere wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteil als dies in den zurückliegenden Jahrzehnten der Fall war. Erfreulicherweise ist insbesondere der von Hans Rooseboom mit Blick auf dieses Ungleichgewicht bereits vor einigen Jahren als Privatdruck veröffentlichte Essay „What’s wrong with Daguerre?“[3] im vorliegenden Band in gekürzter und überarbeiteter Fassung unter dem selben Titel nun deutlich einfacher zu greifen.
Den wohl radikalsten Vorschlag zur Entfernung von den ausgetretenen Pfaden der Fotogeschichtsschreibung des Anfangs macht jedoch die in Toronto lehrende Kunsthistorikerin Yi Gu. Die von ihr besprochene, im Jahr 1940 erschienene Seite aus dem chinesischen Fotojournal „Liangyou“ bringt die üblichen Verdächtigen noch einmal in verdächtig vertrauter Nachbarschaft: Bayard in einem späten Selbstporträt an der Kamera, Herschel in dem berühmten Porträt von Cameron, daneben Niépce und schließlich Talbot. Ausgerechnet Daguerre aber, der es ja verstanden hatte, im Jahr 1839 die größte öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, ist einzig durch eines seiner Stillleben in der rechten unteren Ecke vertreten. Es ist das um 1870 entstandene Porträt eines alten Chinesen, das hier die gewohnte, das heißt zentraleuropäische Ordnung stört. Die sich in dieser Zusammenkunft abbildende merkwürdige Ungleichzeitigkeit wird von Gu programmatisch genommen. Nicht so sehr die gut bekannte Tatsache, dass mit der Einführung fotografischer Technologien auch weit außerhalb Europas und Nordamerikas ein weiterer Schritt der Entfaltung eines global organisierten, kapitalistischen Regeln folgenden Marktes getan war, ist für sie von Interesse, sondern dass solche Hierarchien im Lauf des 20. Jahrhunderts durch eine chinesische Gegengeschichtsschreibung beantwortet wurden, um den eurozentrischen Blick nachträglich gewissermaßen aufzuheben. In aller Abkürzung zeichnet sich auf der von Gu untersuchten Zeitungsseite eine Konstellation ab, die sich gegen die eingeübten Narrative stellt.
Gerade hiermit ist die wichtigste Leistung des Buches insgesamt angesprochen: Versucht wird eine Um- und Neuordnung fotohistorischer Beobachtungen, die in ihrer Gesamtheit zuletzt darauf hinauslaufen, deutlicher als bisher geschehen die Entstehung fotografischer Produktions- und Darstellungsweisen aus intermedialen, interkulturellen sowie interdisziplinären Zusammenhängen heraus zu verstehen. Tatsächlich lässt sich das (im Übrigen nur von mir, nicht jedoch im Band in dieser Ausdrücklichkeit bemühte) Präfix ‚inter‘ als ein Programmwort für die Beschreibung eines solchen Geflechts auffassen. Mit solchen Positionen des Dazwischen ist zuletzt, dies wird im Beitrag von Stephen Bann am deutlichsten ausgesprochen, viel gewonnen: Rekonstruiert werden kann hierdurch ein Zusammenhang von wissenschaftlichen wie künstlerischen Praktiken, von alltäglichen wie spezialistischen Erwartungen, von ganz profanen wie höchst avancierten Einsatzweisen. Man wird Geoffrey Batchen recht geben müssen: ‚Fotografie‘, so resümiert er seinen Beitrag, ist nicht so sehr der Name einer Sache als vielmehr die Bezeichnung eines Problems. Mit „Photography and Its Origins“ ist ein bemerkenswert weit gefasstes Spektrum entworfen, in dem dieses Problem namens ‚Fotografie‘ eine Rolle spielt.
[1] Pierre Bonhomme (Hg.): Les multiples inventions de la photographie, Paris 1989. Photography. Discovery and Invention, Malibu (Kalifornien) 1990.
[2] Stephen C. Pinson: Speculating Daguerre. Art and Enterprise in the Work of L.J.M. Daguerre, Chicago, London 2012.
[3] Hans Rooseboom: What’s Wrong With Daguerre? Reconsidering Old and New Views on the Invention of Photography, Amsterdam 2010.
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