Anton Holzer
„Die Ehrfurcht vor dem großen Meister geht zu weit“
August Sander – eine Neubewertung seines fotografischen Werks
Reinhard Matz: August Sanders „Köln wie es war“. Eine Revision, Köln: Greven Verlag, 2016, 112 S., zahlreiche Abb. in S/W, 20,5 x 12,5 cm, kartoniert, 9,90 Euro.
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 140, 2016
Ein kleines, schmales Buch, erschienen in einem kleinen Kölner Verlag. Das Thema: August Sanders Mappenwerk zur Stadt Köln. Auf den ersten Blick könnte man hinter dem Titel eine Publikation vermuten, die sich die Strahlkraft des legendären Fotografen zunutze macht und das Sandersche Œvre ein weiteres Mal ausschlachtet. Wenn da nicht der Untertitel wäre: eine Revision. Wer Reinhard Matz’ Beiträge zur Fotografiegeschichte kennt, darf vermuten, dass wir es wohl nicht mit einer Hagiografie des Meisters zu tun haben. Statt dessen unterzieht Matz das „erfolgreichste Fotoprojekt zur Rheinmetropole“ (Vorwort) seit den 1980er Jahren, das es auf drei Werkausgaben und zahlreiche weitere Nutzungen brachte, einer sehr genauen und kritischen Untersuchung. En passant liefert dieses Buch aber auch wichtige Argumente zu einer Neubewertung des Sanderschen Gesamtwerkes, das gerne und ohne viel zu Differenzierungen mit den fotografischen Strömungen der Moderne, insbesondere der Neuen Sachlichkeit, in Verbindung gebracht wird, ohne zu fragen, welche ästhetische Paradigmen den einzelnen Teile des weit verzweigten Foto-Projekts zugrunde liegen. In geradezu archäologischer Manier legt der Autor die unterschiedlichen zeitlichen Schichten des Sanderschen Werkes zur Stadt Köln offen, um sodann dessen Bedeutung in der komplexen Rezeptionsgeschichte zu rekonstruieren. Die Ergebnisse, die der Autor ausgehend von dieser Fallstudie vorlegt, könnten, wenn sie denn wahr- und aufgenommen werden, den Auftakt zu einer kritischen Revision des Sanderschen Gesamtwerks bilden.
Um es vorweg zu nehmen: die Publikation von Reinhard Matz ist ein überaus wichtiger, weil erfrischend kritischer Beitrag zur Rezeptionsgeschichte des legendären fotografischen Werks von August Sander. Schritt für Schritt und überaus präzise analysiert er den Prozess der Kanonisierung und der allmählichen Legendenbildung rund um den Fotografen. Auf diese Weise gelingt es ihm, angebliche Gewissheiten in der Sander-Rezeption zu hinterfragen und ein teilweise neues, jedenfalls angemesseneres Bild seines Werkes zu entwerfen. „Die Kunstgeschichte“, so formuliert der Autor, „mag sich für die Datierung neuer Ideen und Stile interessieren, zu einem Stück Kulturgeschichte wird ein Werk jedoch nicht allein durch sich selbst, sondern maßgeblich durch die Weite und Tiefe seiner Rezeption.“ Und genau dieser Rezeption widmet Matz den Großteil seiner Ausführungen. Schade ist lediglich, dass die Bilder, wohl auch aufgrund des sehr rauen Papiers, ziemlich flau und unscharf geraten sind.
„Köln wie es war“ ist ein thematisches Konvolut, das über einen langen Zeitraum hinweg entstand. Sander fotografierte Köln, seine Wahlheimat, in den Jahren zwischen 1920 und 1939. Die Zusammenstellung zu einem vielteiligen Mappenwerk begann aber erst später. In einem Brief vom 1. Juni 1943 klingt der – später variierte – Titel erstmals an: „Die Stadt Köln, wie sie war.“ Sander, der kurz zuvor die Stadt aufgrund der immer heftiger werdenden Bombenangriffe verlassen hatte uns sich im kleinen, 66 Kilometer von Köln entfernten Ort Kuchhausen niedergelassen hatte, hatte gewiss nicht nur ein künstlerisches Projekt vor Augen, als er die Köln-Bilder in Gruppen zusammenzustellen begann. Die Stadt, wie er sie kannte, zerfiel gerade vor seinen Augen im Schutt des Bombenkrieges, zudem fanden wenige Kunden den Weg in den abgelegenen Zufluchtsort Sanders, an eine geregelte Auftragslage war also nicht zu denken. Und: Sander brauchte Geld. Aus dem Fundus jener 10.000 Negativplatten, die er während des Krieges aus seinem Kölner Atelier retten konnte (an die 30.000 in den Atelierräumen verbleibende Negative wurden im Bombenhagel zerstört) begann er vergrößerte Neuabzüge zusammenzustellen und in thematisch gegliederten Mappen abzulegen, eine Arbeit, die er bis nach dem Krieg fortsetzte.
Am 3. September 1945 formulierte Sander den endgültigen Titel für das Werk, an dem er weiterhin mit großem Eifer arbeiten sollte: „Köln wie es war.“ Zwei Wochen später schrieb er in einem Brief: „Vergangene Woche habe ich nun die erste Mappe von Cöln (sic!) durch meinen Sohn dem Oberbürgermeister der Stadt vorlegen lassen.“ 1952 bot er sie der Stadt zum Kauf an. Die Verhandlungen zogen sich hin, am 24. März 1953 genehmigte der Kölner Stadtrat schließlich 25.000 Mark für den Erwerb der Mappen und der Negative. „Was geschah mit den über 400 Fotografien?“, fragt Matz. Und gibt sogleich die aus heutiger Sicht überraschende Antwort: „Sie wurden im stadtmusealen Stadtarchiv nach topografischen Zugehörigkeiten zwischen die Bilder anderer Fotografen und Anonyma verstreut!“ Es war damals also keine Rede davon, das Sandersche Köln-Werk als geschlossenes Konvolut aufzubewahren. Sander, der die letzten Jahre seines Lebens in einfachen Verhältnissen in Kuchhausen lebte (einen Teil der 25.000 Mark gab er an seinen Sohn Gunther weiter, „zur Konsolidierung seiner prekären Lebensverhältnisse“) durfte es nicht mehr erleben, dass das Köln-Werk, das bisher kaum jemand gesehen hatte, publiziert wurde. Er starb im Jahr 1964.
Damit könnte die Geschichte dieses Konvoluts eigentlich zu Ende sein, aber, so Matz, interessant wird es Jahre nach dem Tod von August Sander. Vorerst wurde das Sandersche Köln-Konvolut, das inzwischen auseinandergerissen war, vergessen. Der Fotograf August Sander war in der Nachkriegszeit noch weit davon entfernt, berühmt zu sein. Gut möglich, dass es dabei geblieben wäre. In diesem Fall wäre August Sander vermutlich nicht mehr als eine mäßig bekannte Fußnote der deutschen Fotogeschichte des 20. Jahrhunderts. Es sollte freilich ganz anders kommen. In den 1970er und 1980er Jahren setzte eine fulminante Wiederentdeckung des Fotografen August Sander ein, die, wie Matz ausführt, ohne die tatkräftige Mithilfe von Galeristen, Verlagen und der flankierende Expertise von Kunsthistorikern undenkbar gewesen wäre. Matz: „Um den Ruf Sanders auf Schiene zu setzen, bedurfte es der Aufmerksamkeit einer Handvoll nachgewachsener Kunsthistoriker und Ausstellungskuratoren, die sich ab den 1970er Jahren der Fotografie annahmen, eines engagierten Münchner Verlegers, eines Enkels, der das Werk seines Großvaters in den fotoaffinen USA vertrieb und bekannt machte, eines gewandelten Fotogeschmacks, wie er sich in Europa erst in den 1980er Jahren entwickelte, und eines Kölner Heimatgefühls, das sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts erneut der städtischen Tradition öffnete.“ Die Namen der Beteiligten werden in den Fußnoten genannt: es waren u.a. die Kunsthistoriker Wolfgang Kemp, Herbert Molderings, Ulrich Keller, Winfried Ranke und Klaus Honnef, sodann der Münchner Verleger Lothar Schirmer und Gerd Sanders, der Enkel August Sanders, der seit 1975 in den USA lebte und zuerst in Washington, dann in New York eine Fotogalerie führte. Er trug wesentlich dazu bei, das Werk Sanders in den amerikanischen Kunstmarkt einzuführen. Diese vereinte Kraftanstrengung trug, so Matz, Früchte. Sander wurde nicht nur wiederentdeckt, sein Mappenwerk „Menschen des 20. Jahrhunderts“ avancierte seit den 1980er Jahren zum wohl berühmtesten deutschen Fotoprojekt überhaupt. Sander selbst wurde zum Starfotografen der Moderne nobilitiert.
Im Schatten dieser Starbildung ist auch die Publikation der Köln-Mappen zu sehen, die in den 1980er Jahren begann. Nach etlichen Auszügen, die im Laufe der 1980er Jahre in unterschiedlichen Kontexten publiziert wurden, wurde 1988 erstmals der gesamte Werkkomplex „Köln“ unter dem originalen Titel veröffentlicht (Bearbeitung: Rolf Sachsse). 1995 folgte eine weitere „Werkausgabe“, 2009 eine dritte. Innerhalb von zwei Jahrzehnten rückte dieses lange Zeit wenig bekannte und beachtete Mappenwerk in die Reihe der erfolgreichsten Sander-Publikationen auf. In der Rezeption wurde das Köln-Projekt oft in einem Atemzug mit dem Porträtwerk Sanders genannt und damit – fälschlicherweise, wie Matz argumentiert – in die Tradition einer Fotografie der avancierten Moderne gestellt.
Um das Köln-Projekt Sanders ästhetisch und gesellschaftspolitisch einordnen zu können, sind, so argumentiert der Autor, nicht so sehr kunsthistorische Schlagworte gefragt, sondern ein genauer Blick auf die Bilder, eine Verortung der Aufnahmen in ihrer Zeit und die Offenlegung der Interessen, die an ihrer Kanonisierung interessiert waren und sind. Das abschließende Urteil des Autors fällt ernüchternd aus. Wiewohl Matz Sander als großen Porträtfotografen schätzt, der in seiner Arbeitsweise freilich mehr dem Handwerk des 19. Jahrhunderts als der modernen Kunst des 20. Jahrhunderts zugehörte, redimensioniert er die Bedeutung des Köln-Projekts. Im Vergleich zu Köln-Fotos etwa von Werner Manz, Karl Hugo Schmölz oder August Kreyenkamp schneide, so der Autor, Sander nicht allzu gut ab. „In den Köln-Bildern verbinden sich bedrückende Momente, die dem Piktorialismus des ausgehenden 19. Jahrhundert entstammen, als Sander zur Fotografie fand, mit neueren ästhetischen Elementen wie extremen Cadragen. Vielleicht ist es gerade diese Verbindung lastender Emotionalität mit einigen Modernismen, die uns die ungeheuerliche Bedrohung, Traditionsbeschwörung und Zivilisationsbruch der 1930er-Jahre als verdichtete Zeitstimmung auf eine Weise nahebringt, wie sie uns seit rund 30 Jahren goutierbar, ja offenbar sogar liebenswert erscheint.“ Das sind klare, ungeschönte Worte, die den unkritischen Apologeten Sanders zu denken geben sollten. „Ich finde (...), schließt Matz seinen Band, „ die Ehrfurcht der heutigen Editoren vor dem großen Meister geht zu weit. Oder, den Wortsinn gewendet: Die Ehre wird fürchterlich. Zumal wenn es um Fotografien geht, sollte Liebe nicht blind machen, sondern zu einer realistischen Einschätzung ermutigen. Da beleibt nach aller Revision für den Fotografen August Sander genügend Respekt.“
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