Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Matthias Weiß

Ostkreuz in Silber

OSTKREUZ – Agentur der Fotografen (Hg.): 25 Jahre Ostkreuz. Agentur der Fotografen 1990–2015, Ostfildern: Hatje Cantz, 2015, 26,5 x 36 cm,  159 S., 166 Farb- und S/W-Abb., Broschur in Mappe, 38 Euro.

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 140, 2016

Zum 25. Geburtstag der seit 1990 in Berlin ansässigen Fotoagentur Ostkreuz macht der Hatje Cantz Verlag nicht nur besagter Agentur, sondern allen, die sich für Fotografie interessieren, ein wunderbares Geschenk: Eine großformatige Mappe aus mattsilbrig schimmerndem Karton, die neunzehn mittig gefaltete – also noch einmal doppelt so große – Bilderbögen und ein knapp achtzig Seiten starkes Begleitheft enthält. Achtzehn der Hochglanzbögen sind von je einem der aktuellen Mitglieder von Ostkreuz teils zurückhaltend, teils überbordend eingerichtet; das neunzehnte Doppelblatt entstand in Kooperation eines Fotografenpaars. Das wie die Mappe silbrigmatt gebundene Heft enthält in deutscher, englischer und französischer Sprache ein Vorwort von Wolfgang Kil, einen Essay von Jörg M. Colberg, eine ausführliche Chronik sowie von Laura Benz und Heide Häusler zusammengetragene Informationen zu den losen Blättern. Der überwiegende Teil der Heftseiten jedoch ist je einer Fotostrecke von vier der einst sieben Gründungsmitglieder gewidmet.

Was bietet die Mappe im Einzelnen? Die sowohl farbigen als auch schwarzweißen Bilderbögen der acht Frauen und zwölf Männer – namentlich sind dies Marc Beckmann, Sibylle Bergemann, Jörg Brüggemann, Espen Eichhöfer, Sibylle Fendt, Annette Hauschild, Harald Hauswald, Tobias Kruse, Ute Mahler & Werner Mahler, Dawin Meckel, Thomas Meyer, Julian Röder, Frank Schinski, Jordis Antonia Schlösser, Anne Schönharting, Linn Schröder, Stephanie Steinkopf, Heinrich Völkel und Maurice Weiss – sind alphabetisch geordnet, beginnen aber dennoch sinnfällig mit einer Auswahl aus Beckmanns Serie „Jahrestage“. Als mindestens ebenso glücklich erweist sich, dass Beckmanns farblich wie kompositionell exquisit durchgestaltete Aufnahmen militärischer Überlegenheitsdemonstration einerseits und an den Särgen ihrer Angehörigen zusammenbrechender Frauen andererseits die beim ersten Anblick der Mappe eventuell aufgekommene Sektlaune empfindlich stören – ist dies doch nur der Auftakt weiterer Irritationen oder besser: eines regelrechten Wechselbads der Gefühle, welches sich beim Weiterblättern einstellt. Brüggemann zum Beispiel lässt uns an der so ansteckenden wie befremdlichen Ausgelassenheit von Heavy-Metal-Fans in aller Welt teilhaben („Metalheads“, 2008–2011). Sybille Fendt ermöglicht es uns, eine an Demenz erkrankte Frau und ihren Mann auf einer letzten gemeinsamen Reise zu begleiten („Gärtners Reise“, 2008). Und das Ehepaar Mahler präsentiert fast gespenstisch anmutende Alltagsszenen, unter denen die Aufnahme eines Rehkitzes, das in einem als kleinbürgerliches Idyll gedachten, nun aber überschwemmten Garten ertrank, die vielleicht verstörendste ist („Die seltsamen Tage“, 2011–2014).

Die großformatigen Bögen gewähren also Einblicke in die aktuelle, denkbar breit gefächerte Arbeit von Ostkreuz. Das Begleitheft hingegen enthält mit Völkels „Das letzte Reh im Zoo von Gaza, Palästina, März 2009“ (aus der Serie „The Terrible City“, 2009) nicht nur ein tröstliches Gegenbild zum toten Kitz der Mahlers, sondern klärt zuallererst darüber auf, wo die Erfolgsgeschichte der „Agentur der Fotografen“ ihren Ausgang nahm: Unmittelbar nach der Wende begegneten sieben Fotografinnen und Fotografen, die sich in der DDR bereits einen Namen gemacht hatten, dem Zusammenbruch der für sie bisher gültigen Strukturen mit der Gründung eines Kollektivs – nicht aus Nostalgie, sondern in der Hoffnung, den neuen Bedingungen gemeinsam besser standhalten zu können. Einen Eindruck davon, warum Sibylle Bergemann, Harald Hauswald, Ute Mahler, Werner Mahler, Jens Rötzsch, Thomas Sandberg und Harf Zimmermann schnell Erfolg hatten, vermitteln die vier im Heft vorgestellten Projekte, die in den 70er Jahren nicht alle abgeschlossen, in jedem Fall aber begonnen wurden. Formal wie konzeptionell von hoher Qualität, liefen sie dem offiziellen Bild der DDR zwar nicht unbedingt harsch zuwider, stellten ihm aber alternative Perspektiven zur Seite oder begegneten ihm mit Humor – ein subtiler Witz zumeist, der sich auch und gerade in der Zusammenschau der Arbeiten entfaltet, etwa wenn die 2010 verstorbene Bergemann den bis heute in der neuen Bundeshauptstadt stehenden monumentalen Bronze-Engels kurz vor seiner Aufstellung gefesselt und in der Luft baumelnd zeigt, während der nach wie vor tätige Hauswald augenzwinkernd darauf hinweist, dass es durchaus möglich war, in unmittelbarer zeitlicher wie örtlicher Nähe anderen, noch lebendigen Giganten ungestraft ins Hinterteil zu zwicken.

Um ihr Können und ihre Ideale weiterzureichen, gründeten Werner Mahler und Thomas Sandberg 2004 die private „Ostkreuzschule für Fotografie und Gestaltung“, aus der einige Absolventinnen und Absolventen in die als Partnerinstitution verstandene Agentur übernommen wurden. Spätestens 2009 fand ein nicht vollständiger, aber merklicher Generationenwechsel statt, und zwar personell, thematisch und ästhetisch. Heute umfasst Ostkreuz die oben genannten zwanzig Mitglieder im Alter zwischen 35 und 65 Jahren, funktioniert wohl aber immer noch wie eine Art Familienunternehmen. Sowohl dieser in Colbergs Essay ausführlich beschriebenen Form kollegialer Zusammenarbeit als auch der konkreten Anschauung der vielfach ausgezeichneten Aufnahmen mag es geschuldet sein, dass Kil die Mitglieder wie die Arbeitsergebnisse von Ostkreuz mit so großen Begriffen wie „Humanismus“ und „Wahrheit“ zu greifen versucht. Mit etwas weniger Pathos, dafür vielleicht ein bisschen präziser formuliert meint dies: Die Haltung, die all den in der Mappe versammelten Arbeiten zu unterliegen scheint, gründet in einer tief empfundenen Philanthropie einerseits und einem eminent politischen Bewusstsein anderseits und ist mit fast unbestechlicher gestalterischer Präzision gepaart. Nun gut, ganz ohne Superlative scheint es nicht zu gehen. Deshalb: Glückwunsch zum Ostkreuz in Silber – wir freuen uns schon auf das goldene!

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