
Anton Holzer: Editorial, Heft 94, 2004
Erschienen in Fotogeschichte Heft 94, 2004
Fotografien haften an der Wirklichkeit. Wie diese Verbindung beschaffen ist, darüber aber gehen die Meinungen auseinander, weit auseinander sogar. Um die Wende zum 20. Jahrhundert häuften sich auf erstaunliche Weise Versuchsanordnungen mit einem zentralen Anliegen hatten: die Beweiskraft des fotografischen Bildes auszuloten. Zur selben Zeit aber mehrten sich auch die Stimmen der Zweifler: die Fotografie sei nicht imstande, Tatsachen so wiederzugeben wie sie sind, die Bilder würden die Wirklichkeit verfälschen.
Etliche dieser Protagonisten, Positivisten wie Skeptiker, treffen in diesem Heft aufeinander. Franziska Brons stellt in ihrem Beitrag die frühen Bemühungen der Gerichtsgutachter dar, die Fotografie als unwiderlegbares Beweismedium in den Gerichtsprozess einzuführen. Einer der Pioniere der Fotografie vor Gericht ist der Hamburger Gerichtschemiker Max Dennstedt. Auf keinem anderen Gebiete der Gerichtschemie habe sich, so verkündete er 1910, die Fotografie als so hilfreich erwiesen wie auf dem Gebiet der Schriftfälschung. Aber gerade hier, muss er erkennen, lauern auch die Gefahren der Beweisführung. "Die Art der Entwicklung hat der Photograph in gewissem Masse in der Hand, so dass er einen nicht geringen Einfluss auf die schliessliche Beschaffenheit des Bildes, sowohl auf dem Negativ, als auch auf dem Positiv ausüben kann." Der Übergang von der "Wirklichkeit" zum Bild ist also trügerisch. Das Trägermaterial der fotografischen Botschaft stellt sich störrisch einer makellosen Kopie der Wirklichkeit entgegen. Fehler, Ungenauigkeiten, widersprüchliche, gar "falsche" Spuren, können sich auf dem Fotopapier breit machen.
Diese Mehrdeutigkeiten, die im Gerichtssaal gebannt werden sollten, übten aber auf andere Zeitgenossen durchaus eine Faszination aus. Ebenfalls um die Jahrhundertwende häuften sich daher Experimente, die die trügerischen Eigenschaften der Fotografie ausspielten. Ein – meist augenzwinkerndes – Einsatzgebiet dieser changierenden Eigenschaften des Mediums ist die sogenannte "Multifotografie", die an der Wende zum 20. Jahrhundert in Mode kam. Der (üblicherweise direkte) Aufzeichnungsprozess des Bildes, so Lars Blunck in seinem Beitrag, wird bewusst durch Eingriffe wie Spiegelungen gestört. Das Ergebnis sind verblüffende Bilder, die im fotografischen Abbild gleichermaßen Sichtbares und Unsichtbares vereinen. Derart "simultane" Porträts, die eine Person zugleich von mehreren Seiten zeigen, begeisterten das Publikum. Solche Bilder hatten ganz andere Anliegen als die Beweise vor Gericht. Sie forderten die häufig beschworene und positivistisch verklärte Beweiskraft der Fotografie, von der Gegenseite her kommend, heraus.
Die scheinbar oppositionellen Blickrichtungen erweisen sich aber bei genauerem Hinsehen gar nicht so unvereinbar. Die "Multifotografie" erweckte das Interesse der Theoretiker polizeilicher Erkennungsmethoden. Viel offener wurden letztlich diese Spielerei mit der gebrochenen Vervielfältigung der Wirklichkeit aber in der Kunst aufgenommen: einige Künstler der frühen Avantgarde beschäftigten sich mit den multiplen Porträts.
Die weiteren Beiträge dieses Heftes entfernen sich zeitlich von der Jahrhundertwende. Aber ihre Fragerichtungen sind ähnlich: Was bewahrt die Fotografie von der Wirklichkeit, was verwirft sie" Nina Klingler beschäftigt sich in ihrer Fallstudie mit einer erfolgreichen und folgenreichen Fotoreportage aus der Sowjetunion der 1930er Jahre, Agnes Matthias fragt nach den Verwandlungen von Kriegsbildern in der Öffentlichkeit in ihrer Pendelbewegung zwischen Nachricht und Kunst. Manuela Fellner-Feldhaus und Elke Krasny schließlich verfolgen am Beispiel der Wiener Weltausstellung 1873 den Einsatz der Fotografie in der Öffentlichkeitsarbeit. Sie zeigen, wie Schaustücke zu Lichtbildern und Lichtbilder zu Schaustücken wurden.
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