
Timm Starl
Editorial, Heft 99, 2006
Erschienen in Fotogeschichte Heft 99, 2006
"Solange sie [die überlieferten Dinge; T.S.]
nur in der Zeit überhaupt, aber nicht in einer
bestimmten Zeit stehen, sind sie in einem
historisch leeren Raum."
Georg Simmel, 1916
Eine Fotografie ohne Autor und Datum ist – wie jedes Bild – ein Vortrag ohne Geschichte. Ihre Botschaft ist nicht zeit- und ortlos, sondern haltlos.: wie ein Echo, das von nirgendwoher kommt und im Irgendwo verklingt. Was immer das Bild darstellt, ihm fehlen die Vergangenheit, aus der es erwachsen ist, die Umgebung, in der es hergestellt wurde, die Stimme, die Betonungen setzt, die Adressaten, die es erreicht hat – mit einem Wort: es fehlen das Vorher und Nachher, also alles, was Dasein ausmacht. Mögen solche Werke gelegentlich ob ihrer ästhetischen Reize noch so sehr funkeln, es ist ein unstetes Licht, das immer wieder verschwindet, ein Irrlicht, das ständig aus anderer Richtung aufblitzt. Es vermag auch nichts zu erhellen, denn seine Herkunft liegt im Dunkel, und so leuchtet es für eine Zukunft, in der es jedem gefügig sein muss. Solche Bilder ohne Identität strahlen Beliebigkeit aus und weisen nicht über jene hinaus, die sich ihrer bemächtigen und für ihre Argumente ins Feld führen.
Die Absicht der nachstehenden Ausführungen ist: auf Möglichkeiten hinzuweisen, unidentifizierten und nicht datierten fotografischen Werken gewissermaßen Halt zu verleihen, ihnen einen Platz in der Geschichte einzuräumen, der sie erst zu beredten Zeugnissen werden lässt. Anhaltspunkte für eine entsprechende Einordnung finden sich sowohl im Bild wie in den Ausformungen des Bildträgers, also seiner Gestaltung und materiellen Beschaffenheit.
Die Idee zu dem vorliegenden Heft geht zurück auf ein Projekt von 1991/92, das nicht verwirklicht worden ist. Genannt haben es die BeteiligtenTimm Starl: Editorial: Hinter den Bildern [1] "Silberblick". Ziel war die Herausgabe eines Handbuches samt Mustermappe unter dem Kürzel ID (für Identifizierung/Datierung) mit Anleitungen und Beispielen zur Bestimmung von Originalfotografien hinsichtlich Verfahren und Entstehungszeitraum. Die hohen Ansprüche gipfelten in einer Publikation, die um die 500,- D-Mark gekostet hätte, was letztlich zur Aufgabe des Vorhabens geführt hat.
Einige der Projektmitarbeiter haben seither Veröffentlichungen zum Thema vorgelegt, wobei der Schwerpunkt jeweils auf den Negativ- und Positivverfahren sowie den fotografischen Reproduktionstechniken gelegen hat. Aus diesem Grund wird dieser Bereich im Folgenden nur marginal behandelt und auf die vorhandene Literatur verwiesen. Im Zentrum stehen Merkmale des Bildträgers, also der Präsentation von Fotografien, die Zuordnungen zur Herkunft und zum Zeitpunkt der Entstehung der Aufnahme und/oder ihrem Gebrauch und ihrer Verbreitung erlauben. Das Hauptaugenmerk liegt auf dem 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, zumal diese Phase vielen Historikern nach wie vor die größten Schwierigkeiten bei der Identifizierung und Datierung bereitet.
Aus demselben Grund wird den massenmedialen Erscheinungen der kleinformatigen Abzüge in der Betrachtung der Vorzug gegeben, weil sie den Großteil des Bildmaterials in den meisten Archiven und Sammlungen ausmachen, vielfach nicht datiert und deshalb schwer einzuordnen, demnach historisch nur bedingt verwertbar sind. Und mehr als die großformatigen Abzüge bekannter Fotografen erzählen sie von den alltäglichen Verhältnissen, sind sie doch Belege, wie die Zeitgenossen sich und die Welt sehen, auf welche Weise sie Erinnerungen bewahrt und welche bildliche Relikte aus den unterschiedlichen Motiven sammeln wollten. Angesichts des zur Verfügung stehenden Platzes enden die Ausführungen mit dem Zweiten Weltkrieg.
Zum Teil fußen die Darstellungen auf Vorträgen einer Veranstaltung der Arbeitsgruppe Fotografie im Hessischen Museumsverband, die am 31. Oktober 1998 im Museum für Post- und Kommunikation in Frankfurt am Main stattgefunden hat. In einem eintägigen Seminar haben Ellen Maas, Martha Caspers und ich Ansätze zur Identifizierung und Datierung von Fotografien des 19. Jahrhunderts aufgezeigt. Insbesondere auch die Gespräche mit Ellen Maas und deren Präsentationen ihres modegeschichtlichen Archivs auf Mikrofiche haben mir weitere Kriterien aufgezeigt. Diese Hinweise waren besonders wertvoll, weil keine Literatur zum Thema existiert. Noch immer enthalten die beiden Publikationen zum Fotoalbum von Ellen Maas aus den 1970er Jahren die umfangreichsten Zusammenstellungen. Die weiteren Informationen mussten aus diversen Quellen beschafft werden, am weitaus ergiebigsten erwies sich die Durchsicht von Originalen in öffentlichen und privaten Archiven und Sammlungen. Nicht zuletzt hat mich Hans Frank Anfang der 1980er Jahre auf diese Möglichkeiten des "Studiums" durch seine eigene Praxis angeregt.
Zu den Originalen soll dieses Heft der Fotogeschichte wieder zurückführen, indem Kriterien für deren Bestimmung angeboten werden. Dabei liegt das besondere Augenmerk auf dem Aussehen und der Beschaffenheit des (positiven) Bildträgers sowie den Formen der Präsentation. Negativverfahren (und -materialien) bleiben – bis auf die jeweiligen Unikate – unberücksichtigt. Wenn auch im Bild selbst keine Anhaltspunkte zu seiner Entstehung festgehalten sind oder sich ausmachen lassen, finden sich solche häufig auf den Rückseiten der Abzüge, in der Beschriftung, auf den Untersatzkartons oder im Format. Beschränkt habe ich mich auf Produkte aus Deutschland und Österreich, allerdings trifft eine Vielzahl von Punkten auch auf Fotografien anderer Provenienz zu. Andererseits hat sich in manchen Ländern die eine oder andere Mode im Material oder in den Formen durchgesetzt, die woanders nicht reüssieren konnte oder unbekannt geblieben ist. Angestrengt wurde, die am meisten verbreiteten Entwicklungen zu beschreiben oder zumindest zu erwähnen; dass nicht alle Varianten angesprochen werden, versteht sich ob der Fülle des Materials von selbst – einmal abgesehen davon, dass die eine oder andere Abweichung übersehen worden ist.
Bei der Recherche nach Bild- und Textmaterial haben mich Monika Faber, Maren Gröning, Anton Holzer, Astrid Lechner, Michael Ponstingl, Helfried Seemann und Friedrich Tietjen unterstützt, wofür ich mich herzlich bedanke.
[1] Gerhard Banik, Sebastian Dobrusskin, Wolfgang Hesse, Robert Knodt, Ulrich Pohlmann, Klaus Pollmeier, Marjen Schmidt, Timm Starl.
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