Herta Wolf
Polytechnisches Wissen
Editorial
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 150, 2018
Das Themenfeld des polytechnischen Wissens lässt sich bereits durch die Datierbarkeit des Begriffs selbst präzisieren. Bei dem Adjektiv polytechnisch handelt es sich um einen Neologismus, der – von Claude-Antoine Prieur geprägt – 1795 dazu diente, den Unterricht in der École centrale des travaux publics zu bezeichnen.[1] Wie Bruno Belhoste in seiner Studie über die École polytéchnique ausgeführt hat, entsprach die Wortprägung der Mode der Zeit, mittels griechischer Wortstämme neue Begriffe zu bilden, die dadurch einen wissenschaftlichen Anstrich erhalten sollten. Während téchnique das Äquivalent von französisch art ist, markiert das Präfix poly als Plural dieses Suffixes dessen Vielzahl bzw. Vielgestaltigkeit.[2] Wollten wir allerdings das französische art einzig mit Kunst oder Kunsthandwerk wiedergeben, verfehlten wir dessen vielfältige Bedeutungen. Denn was mit dem Terminus bezeichnet wird, erinnert eher an die Artifizialien der Kunstkammern der Spätrenaissance und das in diesen aufbewahrte Gerät, das von Musikinstrumenten über mathematisch-astronomisches Geräte, Schreib-, Mal- und Druckerei-Utensilien bis zu Ingenieurleistungen gezolltem technischen Gerät.[3] Das Lemma „Polytechnik“ in Herders Conversations-Lexikon von 1856 vermittelt die Bandbreite des Begriffsfeldes: „Polytechnik, die für die Ausübung der verschiedenen Künste und Gewerbe nöthigen Kenntnisse. Polytechnische Schulen sind Lehranstalten, in welchen die Zöglinge in der Mathematik u. den für die höhere Technik nothwendigen physikalischen Wissenschaften ausgebildet werden. Damit ist der Unterricht in den verschiedenen Arten des Zeichnens, meistens auch in neueren Sprachen, zum Theil auch in Fächern der Handlungswissenschaften verbunden [...]. Die berühmtesten polytechnischen Institute sind zu Paris (für Militär- und Civilingenieure hauptsächlich) und zu Wien."[4]
Lesen wir diese Definition, nimmt es nicht Wunder, dass nicht allein die letztgenannten Institutionen, sondern polytechnische Kenntnisse allgemein als Brutstätte fotografischer Entwicklungen bezeichnet werden können, vereinigen sie doch alles Wissen, das nötig ist, um die chemischen Wirkungen des Lichts nicht nur nach deren Prinzipien, sondern im praktischen Experiment im Labor, d.h. in der Anwendung zu erproben: Neben naturkundlichen Kenntnissen der Physik und Chemie – es wurde auch von einer „technischen Naturgeschichte“ gesprochen, deren „Productenkunde“ auf einen praktischen Einsatz des Erlernten in den Gewerben abzielte – zählte auch das „Zeichnen und zwar nach besonderem Bedarf: freies Handzeichnen, geometrisches, architektonisches Zeichnen, Maschinenzeichnen, Situations- und Chartenzeichnen“[5] zum heterokliten Wissensschatz der Polytechnik.
Vorversionen der Beiträge dieses Heftes wurden auf einem Workshop im Rahmen eines DFG-Projektes vorgestellt, das die epistemische Rolle der Handbuchliteratur untersucht hat.[6] Während das Aufkommen des neuen Mediums Fotografie um 1839 in der Fotogeschichtsschreibung meist in den Registern älterer Darstellungsmedien – wie der Malerei – verortet wurde, begriff das Forschungsprojekt die Entwicklung, Diskursivierung und Propagierung der Fotografie auf der Folie des bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts prävalenten, auf die industrielle Entwicklung abzielenden polytechnischen Wissens. Untersucht wurde die fotografische Handbuchliteratur, die sich wie kein anderes Medium dazu eignet, mehr über die Rolle der angewandten Wissenschaften als Modell des neuen Aufzeichnungsverfahrens zu erfahren. Wurde in Handbüchern, Traktaten, Anleitungstexten doch nicht nur mittels der Einführung in die Verfahrenstechnik die Einübung in die Handhabung der Fotografie vermittelt; in der Anleitungsliteratur sedimentierten sich gleichermaßen die epistemischen Grundlagen des anwendungsbezogenen Wissens. Zu diesen zählen die Modalitäten der Wissensvermittlung und der inhaltliche Aufbau der Publikationen ebenso wie die als Grundlage der Fotohistoriografie zu bezeichnenden einleitenden historischen Abrisse und die wissensvermittelnden Informations- und Anleitungszeichnungen. Mit diesen setzen sich die Beiträge des vorliegenden Heftes auseinander. Aber mehr noch, sie zeigen auf, dass mittels des Studiums von fotografischen Handbüchern die Veränderungen der Wissensproduktion gleichermaßen wie die Ausdifferenzierung des Mediums Fotografie in vielfältige Anwendungsbereiche und damit Wissensfelder nachvollziehbar gemacht werden können. Zu diesen Transformationsprozessen gehört nicht zuletzt, dass sich aus chemotechnischen, ästhetische Diskurse herauszuschälen oder zumindest, dass Konzeptionen über das der Zeichenmeisterin Natur verdankte chemo-technische Bild mit bildtheoretischen Überlegungen zu interferieren begannen.
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[1] Bruno Belhoste: La formation d'une technocratie. L'école polytechnique et ses élèves de la Révolution au Second Empire, Paris 2003, S. 109 f.
[2] Erst später ging der Begriff auf die Schule selbst und damit auf die in ihr unterrichteten Lehrinhalte über.
[3] Friedrich Klemm: Zur Kulturgeschichte der Technik. Aufsätze und Vorträge 1954-1978, München 1979, S. 47 f.
[4]Herders Conversations-Lexikon, Freiburg im Breisgau 1856, Band 4, S. 580.
[5] o.A.: Polytechnik, in: Allgemeines deutsches Conversations-Lexikon für die Gebildeten eines jeden Standes, mit den gleichbedeutenden Benennungen der Artikel in der lateinischen, französischen, englischen und italienischen Sprache, nebst der deutschen Aussprache der Fremdwörter, 10 Bde., Bd. 8 (P–Riz), 2. Abdruck der Originalaufl., Leipzig 1840, S. 430–432, hier S. 431.
[6] Der Workshop fand am 7./8. April 2016 im Rahmen des von der DFG geförderten Projektes „Fotografie als angewandte Wissenschaft: Über die epistemische Rolle von fotografischen Handbüchern (1839–1883)“ (WO1768/1-1) am Kunsthistorischen Institut der Universität zu Köln statt.
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