
Kathrin Schönegg
Das Fotogramm als Medium des 19. Jahrhunderts
Katharina Steidl: Am Rande der Fotografie. Eine Medialitätsgeschichte des Fotogramms im 19. Jahrhundert, Berlin: De Gruyter 2018, 408 Seiten, 85 Farbabbildungen, Hardcover, 18 x 24 cm, Deutsch, 79,95 Euro.
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 152, 2019
Das Fotogramm gehört heute zum festen Bestand der künstlerischen Fotografie. Zwar mag die Präsenz dieser genuin analogen Bildtechnik angesichts der aktuellen Diskurse um die „networked images“[1]irritieren. Sie gewinnt ihre Relevanz jedoch gerade aus diesem Hintergrund: Im Zuge des „analog turn“[2]wird die kameralose Fotografie als Gegenmodell zur digitalen Hochglanzästhetik ausgewiesen.[3]Wie etwa dem Ankündigungstext der 2010 im Victoria & Albert Museum in London gezeigten Ausstellung „Shadow Catchers: Cameraless Photography“ zu entnehmen ist, sind mit dem Fotogramm nicht nur produktionstechnische, sondern zugleich auch konzeptuelle und formale Parameter angesprochen: „The essence of photography lies in its seemingly magical ability to fix shadows on light-sensitive surfaces. Normally, this requires a camera. [...]Images made with a camera imply a documentary role. In contrast, cameraless photographs show what has never really existed.“[4]Diesem Nachdenken über das Fotogramm liegt ein Modell von Fotografie zugrunde, das durch die Kamera definiert und auf Abbildung hin angelegt ist. Das Narrativ durchzieht die fotografische Mediengeschichte bereits seit ihren Anfängen. Da sich das Fotogramm durch die Abwesenheitvon Elementen auszeichnet, die als substanzielle Bestandteile des Fotografischen gelten, tritt es als Sonderfall auf: Während der Fotografie als „Chemikalisierung der Zeichenmaschine Camera Obscura“[5] die Komponenten von Chemie und Optik zugrunde liegen, sind Fotogramme „fotografische Bilder, die ohne Kamera oder Linse hergestellt wurden“[6]. Das Fotogramm stellt damit das Medium Fotografie, seine Historiografie, seinen Abbildrealismus und Wirklichkeitsbezug in Frage. Die Auseinandersetzung mit dem Fotogramm rührt an die Grundfeste des Mediums Fotografie.
In ihrer Dissertationsschrift Am Rande der Fotografie. Eine Medialitätsgeschichte des Fotogramms im 19. Jahrhunderthat sich Katharina Steidl diesem überfälligen Thema angenommen. Ihre dem 19. Jahrhundert gewidmete Studie fügt den vorliegenden Narrativen nicht nur eine historische Fundierung hinzu, sondern stellt die an der künstlerisch-modernen Fotografie gebildete Theoretisierung des Fotogramms auf ihre wissenschaftsgeschichtlichen, semiotischen und gendertheoretischen Füße. Bislang entspinnen sich die Erfindungsgeschichten der kameralosen Fotografie um Protagonist*innen der Avantgarde wie László Moholy-Nagy oder Man Ray. Dass es sich hierbei um Wiedererfindungsgeschichten handelt, die wissentlich die Historiografie des Fotogramms vor der Moderne verdecken, ist der Einsatzpunkt von Steidls kürzlich erschienenem Buch. Ausgehend von der Frage, warum es eine Geschichte der Fotografie aber keine Geschichte des Fotogramms gibt, zielt die Autorin darauf „eine eigengesetzliche Medialitätsgeschichte des Fotogramms im 19. Jahrhundert zu entwerfen, die abseits eines Zugehörigkeits- oder Distanzverhältnisses zur Fotografie verhandelt wird“ (S. 11).
Katharina Steidl entfaltet dieses Programm in einer Engführung von Diskursanalyse und Fotografiegeschichte. Zunächst nähert sie sich aus lexikalischer und ausstellungsgeschichtlicher Perspektive, um die Sonderstellung kameraloser Fotografie im Diskurs um die fotografische Bildlichkeit zu problematisieren. Dabei werden bereits wichtige Weichenstellungen vorgenommen. So ergibt sich aus den gewonnenen etymologisch-historischen Erkenntnissen eine erste Definition des Fotogramms, die für den Korpus der späteren Analyse leitend ist: Steidl versteht das Fotogramm des 19. Jahrhunderts als eine bildgebende Technik, „die den direkten Kontakt zwischen einem zumeist flachen Objekt und einer fotosensiblen Schicht erforderte und durch natürliches Licht als Agens mit anschließender Fixierung hergestellt wurde“ (S. 29/30). Dadurch schließt sie prominente Beispiele des (pseudo)wissenschaftlichen Bereichs wie August Strindbergs Celestografien, Beispiele der okkultistischen Strahlungs- und Gedankenfotografie oder Röntgen-, Uran- und Elektrizitätsaufnahmen aus, die zwar ebenfalls kameralos produziert wurden, aber auf Distanz anstelle von Berührung bzw. auf diversen Strahlen anstelle von Licht beruhen. Diese aus dem historischen Material gewonnene und daher einleuchtende Korpusbeschränkung erlaubt es Steidl, das Fotogramm als eigenständiges Medium zu konturieren.
Zunächst löst sie die Bildtechnik hierfür aus ihrer Einbindung in technikgeschichtliche und teleologische Erfolgsnarrative der Erfindung der Fotografie. Anschließend an Studien wie Peter Geimers Bilder aus Versehen. Eine Geschichte fotografischer Erscheinungen(Hamburg 2010) versteht sie die Kamera als nachträglichen Eintritt in das fotografische Feld. Damit verschieben sich einerseits Ursprung und Genealogie der Fotografie. Andererseits werden von der Kunstgeschichte entlehnte Kategorien wie Autorschaft und Werk brüchig. Steidl kann überzeugend zeigen, wie beides dazu beigetragen hat, das Medium Fotogramm im 19. Jahrhundert zu verdecken: Es wurde als „einfache, primitive oder archaische Form“ (S. 93) apostrophiert und in eine unbestimmte Vorgeschichte der Fotografie verwiesen. Auch die Theorie der Indexikalität hat einer Geschichtsbildung des Fotogramms entgegengewirkt: Steidl erläutert, wie die Vereinnahmung der Fotografie in der Indextheorie – umgekehrt zum bisher im Zentrum stehenden Verhältnis – auf der Metaphorik des Kontaktbildes basiert und das Fotogramm so von Charles Sanders Peirce über Rosalind Krauss bis hin zu Philippe Dubois als Modell des Fotografischen (miss)verstanden wurde. Die zweite Hälfte des Buches stellt dann nicht nur das meiste des ungesehenen Materials vor, sondern richtet den Blick stärker auf das Bildmedium Fotogramm, das aus unterschiedlichen Perspektiven analysiert wird: erstens in seiner Medialität von Negativ und Umkehrung, zweitens in seinem Bezug zur Naturphilosophie, Biologie und Ökonomie sowie drittens in seinen amateurwissenschaftlichen Anwendungsformen.
Dieser Teil der Arbeit umfasst eine beeindruckende Bandbreite fotogrammatischer Betätigung in Kontexten von „‚nützlicher Belustigung‘, nicht realisierten Publikationsprojekten, visueller Medienkritik, Geschenk- und Kondolenzbüchern bis hin zu dekorativ-ornamentaler Erwerbsmöglichkeit und humoristischen Arbeiten“ (S. 362). Dabei kreisen die Überlegungen immer wieder um geschlechterspezifische Fragestellungen, etwa, wenn die zur Herstellung von Fotogrammen verwendeten Materialien, die wie Pflanze, Feder und Spitze aus Botanik und Handarbeit stammen, sich als weiblich herausstellen. Diese Konnotation erklärt, warum das Fotogramm als Medium nicht in die von Männern dominierten, am technischen Meisterwerk orientierten Erfolgsnarrative der früheren Fotografie eingehen konnte. Umgekehrt wird deutlich, wie Frauen bereits im 19. Jahrhundert ein künstlerisches Vokabular der kameralosen Fotografie entwickelt und für verschiedene angewandte Bereiche eingesetzt haben.
Katharina Steidls Dissertation stellt die erste wissenschaftlich-systematische Auseinandersetzung zur kameralosen Bildtechnik vor der Avantgarde dar. Sie schließt das Forschungsdesiderat um das Fotogramm im 19. Jahrhundert und liefert eine erste (Theorie)Geschichte des „kleinen rauen Bruders“[7] der Fotografie. Ein besonderes Verdienst der Arbeit ist, dass die Autorin keine teleologische Entwicklungsgeschichte hin zum Fotogramm als avantgardistische Technik oder als Praktik der Gegenwartsfotografie entwirft, sondern explizit gegen solche Kurzschlüsse arbeitet. Im Fokus ihrer Auseinandersetzung steht dabei nicht die ‚kameralose Fotografie‘, die schon dem Namen nach nur ex negativo vor der apparativen Fotografie zu beschreiben ist, sondern vielmehr das Fotogramm in seiner spezifischen Medialität als Kontaktbild in der Tradition des Naturselbstdrucks. Steidls Manuskript wurde 2016 von der Deutschen Gesellschaft für Photographie mit dem DGPh-Forschungspreis Photographiegeschichte ausgezeichnet und liegt seit dem Jahreswechsel als Buch und Open Access vor. Die Publikation wartet mit zahlreichen Farbabbildungen auf, die kanonische Positionen ebenso vorstellen wie eine Fülle an ungesehenem Material anonymer Protagonist*innen.
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[1] Daniel Rubinstein/Katrina Sluis: A life more photographic. Mapping the networked image, in: Photographies, März 2008, S. 9–28.
[2] Ruth Horak: The analog turn, in: EIKON. International Magazine for Photography and Media Art, Heft 88, 2014, S. 49–58.
[3] Vgl. Lyle Rexer: Photography’s antiquarian avantgarde. The new wave in old processes, New York 2002.
[4] Ankündigungstext zur Ausstellung Shadow Catchers: Cameraless Photography, Victoria & Albert Museum, London 2010/2011, zitiert nach Katharina Steidl: Am Rande der Fotografie. Eine Medialitätsgeschichte des Fotogramms im 19. Jahrhundert, Berlin 2018, S. 7.
[5] Wolfgang Kemp: Foto-Essays. Zur Geschichte und Theorie der Fotografie, München 2006, S. 17.
[6] Photogram, in: Encyclopedia of Twentieth-Century Photography, Vol. 3, hg. von Lynn Warren, New York 2006, S. 1238–1244, hier S. 1238 (eigene Übersetzung).
[7] Vgl. Beschreibung des Projekts, in: http://www.ifk.ac.at/index.php/kalender-detail/katharina-steidl-am-rande-der-fotografie-der-mediale-outlaw-fotogramm.html (05.01.2019).
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