Anton Holzer
Fotograf ohne Geschichte
Sebastian Lux, Stiftung F. C. Gundlach (Hg.): Schaut her! Toni Schneiders, Göttingen: Steidl Verlag, 2020, mit Texten von Sebastian Lux, Franziska Mecklenburg und Hans-Michael Koetzle, 295 S., 28,5 x 24 cm, Abb. in S/W und Farbe, gebunden, 48 Euro
Erschienen in: Fotogeschichte 156, 2020
„Ich bin kein Reporter“. In diesem Satz hat der Fotograf Toni Schneiders (1920–2006) in den Jahren nach 1945 sein künstlerisches Credo zusammengefasst. Es lohnt, dieses „kein“, diese Negation, etwas genauer zu beleuchten, wenn man das künstlerische Werk des Fotografen, das nun in einem opulent gestalteten Katalog ediert wird, angemessen kontextualisieren will. Immerhin ist dieses Zitat Schneiders‘ dem einleitenden Beitrag von Sebastian Lux vorangestellt: „Die Fotografie hat viele Gesichter! […] Aber ich bin kein Reporter. Mich interessiert es mehr, was ich mit dem vorhandenen Licht anfangen kann, um zu meinen Bildern zu kommen […] und die Menschen und die kleinen und großen Dinge ringsherum mit den Mitteln der Fotografie in eine bildhafte Form zu bringen.“
Wogegen wandte sich der Fotograf, wenn er „kein“ Reporter sein wollte? Und, damit verbunden, stellt sich die Frage: Wofür trat er, der Nicht-Reporter, ein? Um auf diese Fragen Antworten geben zu können, ist es nötig, das Werk Schneiders‘ in einen breiteren gesellschaftspolitischen Kontext zu setzen. Als Fotograf ist Toni Schneiders kein Unbekannter, etliche Publikationen sind in den letzten 20 Jahren über ihn erschienen. Künstlerisch wird er üblicherweise als Teil der Gruppe der „fotoform“ bzw. der „subjektiven Fotografie“ verortet, die die deutsche fotografische Szene der 1950er und 60er Jahre beherrschte und die international überaus erfolgreich agierte. Zu dieser Gruppe gehörten u.a. Wolfgang Reisewitz, Ludwig Windstosser, Otto Steinert, Siegfried Lauterwasser und eben Toni Schneiders, der sich in Interviews freilich nur als „Mitläufer“ bezeichnete.
Die vorliegende Publikation präsentiert einen Überblick über das Werk des Fotografen, sie hat, wie es einleitend in der Publikation heißt, den Anspruch, „das gesamte Schaffen in Auszügen“ vorzustellen. Ermöglicht wurde dieser Katalog durch die Hamburger Stiftung F.C. Gundlach, die nach dem Tod des Fotografen dessen Gesamtarchiv übernommen hat. 2016/17 hatte diese Stiftung bereits einen anderen prominenten „fotoform“-Fotografen, Peter Keetman vorgestellt (siehe die Rezension von Kathrin Schönegg in der Fotogeschichte, Heft 142, 2016). Beide Ausstellungen fanden im Kunstfoyer der Versicherungskammer Kulturstiftung in München statt, letztere wurde zwar am 19. Februar 2020 eröffnet, musste aber aufgrund der Gesundheitskrise unterbrochen werden. Der begleitende Katalog enthält Texte von Sebastian Lux, Franziska Mecklenburg und Hans-Michael Koetzle. Letzterer verortet in einem informativen Beitrag das reisefotografische Werk Schneiders‘ im Verlagsspektrum der Nachkriegszeit.
Noch einmal: Warum lehnte sich Schneiders sich so explizit gegen den Begriff des Reporters auf? Weil ihm, so suggeriert dies der vorliegende Band, in seiner Rolle als Künstler „Figur und Gestalt“ und eben nicht nüchterne Dokumentation, simple Reportage, am Herzen lagen. Aber reicht das als Erklärung aus? Ich behaupte: Nein! Denn die Einordnung des Fotografen im Koordinatensystem ästhetischer Kategorien erklärt nicht viel, sie ist im Grunde tautologisch. Franziska Mecklenburg bringt diese tautologische Interpretation auf den Punkt, wenn sie an einer Stelle schreibt, dass Schneiders im Kern „ein atmosphärisches, über das Abgebildete hinausweisendes, bildästhetisch spannungsvolles Bild“ schaffen wollte.
Wenn wir den argumentativen Grundzügen dieser Publikation folgen, war Toni Schneiders vor allem „Gestalter“, also ein Künstler, der in seinen Auftragsarbeiten für Verlage die Waage hielt zwischen der angedeuteten Abstraktion im Stil der „fotoform“-Ästhetik und dem schönen, künstlerisch geadelten Reisebild. Ich will versuchen zu erklären, warum die Interpretation des fotografischen Werks in den Kategorien der Ästhetik hier eindeutig zu kurz greift und warum es nötig ist, genau dieses Werk in gesellschaftspolitischer Perspektive zu verorten.
Eines ist auffallend: Toni Schneiders‘ Werk setzt im vorliegenden Band in den späten 1940er Jahren ein. Die erste Bildstrecke, die den Bildband eröffnet, zeigt Schneiders als typischen Vertreter der „subjektiven Fotografie“ – mit ins Abstrakte neigenden Naturbildern, die die Dinge atmosphärisch auflösen und teils rätselhaft erscheinen lassen. Aber es gibt auch einen Toni Schneiders, der vor dieser Zeit fotografierte. Darüber ist im Band praktisch nichts zu erfahren. Mit Ausnahme einiger weniger Zeilen im knappen biografischen Nachspann wird in keinem der Texte ausführlicher dargestellt, dass der Fotograf zum Zeitpunkt, als er seine künstlerische Karriere startete, bereits eine jahrelange Fotokarriere hinter sich hatte: in den 1930er Jahren als Fotograf in einem Koblenzer Atelier, nach Kriegsbeginn als Mitarbeiter in der Lichtbildstelle der deutschen Luftwaffe und ab 1942 als „Bildberichter“ bei den deutschen Fallschirmjägern. Unter anderem dokumentierte er im September 1943 die Befreiungsaktion des gestürzten italienischen Diktators Benito Mussolini durch deutsche Fallschirmjäger in den Abruzzen. Obwohl ein Teil dieser militärischen Aufnahmen im Bundesarchiv in Koblenz erhalten ist und 2006 in einer Ausstellung im Landesmuseum in Koblenz (und an anderen Orten) gezeigt und veröffentlicht wurde, wird diese Vorgeschichte vollkommen ausgeblendet. Es wäre redlich gewesen, in einer Gesamtdarstellung des Werks von Toni Schneiders auch diese biografischen Details zu erwähnen und Bildbeispiele aus dem frühen fotografischen Werk zu zeigen. Nicht nur, weil sie zum Werk des Fotografen dazugehören, sondern auch, weil sie vieles erklären helfen. Unter anderem ist diese biografische Vorgeschichte ein Schlüssel zum Werk des Fotografen in der Nachkriegszeit.
Die radikale Abwendung vom Beruf des Reporters ist nämlich, so behaupte ich, nur dann verständlich, wenn man diese Vorgeschichte kennt. Schneiders wandte sich in einem Akt künstlerischer Selbstermächtigung vom Beruf des Reporters ab, gerade weil er jahrelang als Reporter gearbeitet hatte und obwohl er, wie der Band auch anhand von Bildbeispielen zeigt, auch in der Nachkriegszeit noch als Reporter tätig war. Mit der demonstrativen Abkehr von der Figur des Reporters war zweifellos auch eine Abwendung von der eigenen Vergangenheit gemeint, eine Distanzierung von der Bürde der eigenen Biografie, die nach 1945 unbequem geworden war. Diese Abkehr war alles andere als eine (selbst-)kritische Aufarbeitung der eigenen Zeit im Dienst des Regimes, sondern sie signalisierte einen ästhetisch begründeten, aber gesellschaftlich bedingten Akt des Vergessens und Verschweigens. Eine solche Haltung war beileibe keine individuelle Angelegenheit. Es ist bereits öfter gezeigt worden, wie sehr die von Otto Steinert maßgeblich propagierte Strömung der „subjektiven Fotografie“ einen ästhetisch verkleideten Schlussstrich unter die Zeit des Nationalsozialismus setzte. Nicht wenige der „fotoform“-Fotografen hatten eine Vorgeschichte in der NS-Zeit, die sie nach 1945 in ihrem Feuerwerk der Ästhetik geflissentlich und systematisch ausblendeten. Das humanistische „Menschenbild“, das in der „subjektiven Fotografie“, aber auch weit darüber hinaus eine wichtige Rolle in der Fotografie der 1950er und 60er Jahre spielte, diente als eine Art entlastendes Gegenmodell zur Barbarei, die erst ein paar Jahre zurücklag. In einem frühen und sehr wichtigen Aufsatz über den in der NS-Zeit höchst erfolgreichen Fotografen Hilmar Pabel hat Viktoria Schmidt-Linsenhoff vor vielen Jahren herausgearbeitet, wie in der Fotografie nach 1945 (bei Pabel, aber im Grunde auch bei vielen anderen Fotografen) der Begriff der „Menschlichkeit“ aus dem „Konsens des Vergessens“ hervorging (Heft 44, 1992).
Um die geschichtsvergessene Ästhetik der „subjektiven Fotografie“, um die Elogen der abstrakten Gestalt und das Spiel mit Formen und Strukturen der 1950er und 60er Jahre verstehen zu können, ist es wichtig, genau diese Vorgeschichte zu kennen, diese biografischen und fotografischen Verschränkungen mit einem diktatorischen, Krieg führenden Regime. Diese Verbindungslinie wurde kurz nach dem Krieg in der demonstrativen Hinwendung zur reinen Ästhetik abgeschnitten und ausgeblendet. Der Satz von Toni Schneiders „Ich bin kein Reporter“ hieß nun auch: Ich war ein Reporter, will aber keiner mehr sein. Die „subjektive Fotografie“ wäre, so gesehen, eine ganz eigene Form des politischen Eskapismus. Dieser begegnet uns bei vielen Fotografen, die den Zweiten Weltkrieg in den Reihen der Wehrmacht erlebt hatten. Nicht wenige von ihnen wandten sich nach dem Krieg neuen, demonstrativ unpolitischen und vollkommen unverfänglichen Themenbereichen zu. Bernd Lohse zum Beispiel hatte seit den 1950er Jahren Erfolg mit seinen Bildbänden alter Kunst und Architektur. Benno Wundshammer entdeckte nach 1945, nach Jahren in der Presse- und Modefotografie, in späten Jahren die Tier- und Reisefotografie. Auch Gerhard Gronefeld wandte sich der Tierfotografie zu und hatte seit Anfang der 1960er Jahre Erfolg mit auflagenstarken Tierbildbänden. Toni Schneiders wurde zum Reisefotografen, in den Jahren nach dem Krieg entdeckte er in den zahlreichen Bildbänden, die er mit seiner Leica illustrierte, die Schönheit in der Fremde. Er fand diese aber auch im eigenen Land Deutschland, das er, allen Zerstörungen zum Trotz, in seiner vermeintlich ursprünglichen „Schönheit“ zeigte. Die Kultur, die darniederlag, stand in seinen Büchern beispielhaft wieder auf. Seine Deutschland-Bildbände, die in den 1950er Jahren in großer Zahl erschienen, vermitteln, so formuliert es Hans-Michael Koetzle in seinem Beitrag, „etwas entschieden Tröstliches“. Sie transportieren ein Bild der Zeitlosigkeit, das den Blick zurück meidet. Damit wird eines erreicht: Die Schrecken der Vergangenheit und der Schmerz der Erinnerung bleiben gebannt.
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