Anton Holzer
Die Zukunft der Fotografie
Editorial
Liebe Leserinnen und Leser der Fotogeschichte,
wir alle haben es in den letzten Monaten erlebt: die Zukunft kommt oft anders als erwartet. Es mag vielleicht verwundern, dass keine/r der Autorinnen und Autoren dieses Heftes auf die gegenwärtige Gesundheitskrise zu sprechen kommt. Der Grund ist einfach: die Texte wurden allesamt vor der Corona-Zeit verfasst. Als ich vor knapp eineinhalb Jahren mit den Planungen für das vorliegende Themenheft zur „Zukunft der Fotografie“ begann, war von Covid-19 noch keine Rede. Als in den ersten Januartagen 2020 die ersten Texte einlangten, kamen die beunruhigenden Corona-Nachrichten noch ausschließlich aus dem fernen China. Als zwei Monate später die letzten Beiträge da waren, war die Corona-Krise in Europa angekommen. Es ist ein Spezifikum einer vierteljährlich erscheinenden Zeitschrift, dass sie im tages- oder auch wochenpolitischen Sinne nicht aktuell sein kann. Der lange zeitliche Vorlauf in der Konzeption und Vorbereitung der thematisch gebündelten Hefte beträgt meist viele Monate, oft sogar Jahre.
Dieses Heft zur „Zukunft der Fotografie“ bildet den zweiten Teil einer Jubiläumsausgabe zum 40-jährigen Bestehen der Zeitschrift Fotogeschichte. Im ersten Heft (Nr. 157, 2020) blickten wir anlässlich des anstehenden runden Geburtstags zurück in die Geschichte der Zeitschrift und zugleich in die jüngere Geschichte der Disziplin Fotografiegeschichte. Im vorliegenden Heft wagen wir einen Blick in die Zukunft. Vielleicht hätten die Visionen für die Zukunft der Fotografie ganz anders ausgesehen, wäre das Heft ein Jahr später erschienen. Wer weiß.
Das vorliegende Themenheft schlägt eine für HistorikerInnen ungewohnten Blickrichtung vor, nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft. Diese Perspektive könnte zu utopischen Gedankenspielen anregen, zu fantastischen Spaziergängen in eine imaginierte Zukunft. Doch von solchen Ausflügen ist auf den folgenden Seiten wenig zu lesen. Wissenschaftler/innen, die sich historischen Disziplinen verschrieben haben, lassen sich offenbar nicht einfach treiben, sondern argumentieren gern vom abgesicherten Terrain aus: von der Gegenwart oder der Vergangenheit, die sie kennen und analysiert haben. „Klio spricht nie im Futur“, hatte in den 1930er Jahren der bekannte französischen Historiker Lucien Febvre behauptet. Viele der folgenden Beiträge suchen ihren Ausgangspunkt in der Geschichte, um von hier aus kurze Ausflüge ins Futur zu unternehmen.
Diese Pendelbewegung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hat aber noch einen anderen Grund, einen, der mit dem seltsam ambivalenten Bezug des Mediums Fotografie zum Phänomen der Zeit zu tun hat. Zum einen, darauf wurde oft verwiesen, hält sie Ereignisse fest und verwandelt sie zugleich in Vergangenheit. Sie ist, so gesehen, ein historisches Medium par excellence. Zum anderen beflügelte sie von Anfang an Zukunfts-Fantasien. Die Fotografie werde, so prophezeiten bereits die allerersten Kommentatoren in den späten 1830er Jahren, in Zukunft Dinge sichtbar machen und enträtseln, die bislang im Verborgenen geblieben waren: die Hieroglyphen Ägyptens ebenso wie das Licht entfernter Sterne, den Schmetterlingsflügel unter dem Mikroskop ebenso wie entfernte Reiseeindrücke. „Soll ich noch“, fragte Jules Janin im Februar 1839 angesichts der Bekanntgabe von Daguerres neuer Bild-Technik rhetorisch, „alle die schrankenlosen Anwendungen dieser Entdeckung, die vielleicht die Ehre unseres Jahrhunderts ausmachen wird, aufzählen?“ Und er tat es doch: endlos lang sprach er im Futur darüber, was die Fotografie in Hinkunft alles sichtbar machen und ermöglichen werde.
Wenn wir die Geschichte der Fotografie überblicken, fällt auf, dass Rück- und Ausblick oft eng beieinander liegen. Der Gestus des Bewahrens, Fixierens und Dokumentierens auf der einen, und jener des Entdeckens und Erkundens von Neuem auf der anderen Seite. Diese Pendelbewegung zwischen der Beschwörung der Vergangenheit und der fortschrittsoptimistischen Erwartungshaltung in Richtung Zukunft trat immer dann verstärkt auf, wenn radikale gesellschaftliche Neuerungen zu einer Neubestimmung der Rolle der Fotografie zwangen: in den 1860er Jahren etwa, als die Visitkarten eine der ersten großen Welle der Massenfotografie einleiteten. Oder um 1900, als die Fotografie zu einem weiteren beispiellosen Eroberungszug ansetzte: Durch den Zeitungsdruck oder die illustrierte Postkarte war das fotografische Bild für alle zugänglich geworden. Oder um und nach 2000, als die digitale Fotografie die Verfügbarkeit und Handhabbarkeit der Fotografie global revolutionierte. In all diesen Umbruchsphasen trat die Doppelgesichtigkeit der Fotografie besonders deutlich zutage: Sie wurde einerseits als Zukunftsmedium gesehen, das Neues ermöglichte, aber zugleich auch als bewährtes Vehikel, um das – oft als bedroht empfundene – Gegenwärtige und Vergangene festzuhalten, zu schützen.
Möglicherweise steht die Fotografie zurzeit wieder an einer entscheidenden Weggabelung. Wohin sie sich entwickeln wird, werden wir in den nächsten Jahren sehen. Manches, vielleicht sogar vieles wird anders kommen als wir es aus heutiger Perspektive erwarten. Nicht nur, weil die gegenwärtige globale Gesundheitskrise noch unabsehbare Folgen haben wird. Sondern auch, weil die gesellschaftlichen Systeme, die auf uns zukommen werden, neue, vielleicht radikal andere Formen des Fotografischen hervorbringen werden – möglicherweise jenseits von Digitalisierung und Internet. Vor vier Jahrzehnten, als diese Zeitschrift gegründet wurde, war ebenfalls vieles im Auf- und Umbruch. Wir haben im ersten Jubiläumsheft nachgezeichnet, welche gesellschaftlichen, politischen und ästhetischen Konjunkturen zu Beginn der 1980er Jahre eine Zeitschrift wie die Fotogeschichte hervorgebracht haben. Auch damals war die Zukunft nicht absehbar. Wer hätte 1981 gedacht, dass in wenigen Jahren der Kalte Krieg zu Ende sein würde, dass die Berliner Mauer fallen und die kommunistischen Staaten Europas zusammenbrechen würden. Es kam eben ganz, ganz anders als erwartet.
Ich habe das Editorial des vergangenen Heftes mit folgenden Zeilen beendet, die mir auch für dieses Themenheft zur „Zukunft der Fotografie“ noch passend scheinen. Eine fotohistorische Zeitschrift, die nicht nur eine lange Vergangenheit, sondern auch eine Zukunft haben will, muss, Heft für Heft, das Vertrauen, das – insbesondere von den Abonnentinnen und Abonnenten – in sie gesetzt wird, rechtfertigen. Gewiss, sie darf sich manchmal irren, der eine oder andere Fehler (auch Tippfehler) wird ihr wohl verziehen, wenn die grundsätzliche Richtung stimmt: fundiert und kritisch über die Entwicklungen der Fotografiegeschichte zu berichten. Ob dieses Vorhaben auch in Zukunft gelingt, darüber entscheiden letztlich die Leserinnen und Leser, also Sie. Bleiben Sie uns bitte weiterhin gewogen!
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