Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Steffen Siegel

Nadar trifft Chevreul, Director’s Cut

Paul Nadar, Félix Nadar, Eugène Chevreul: Die Kunst, hundert Jahre alt zu werden, übersetzt von Horst Brühmann, hg. von Bernd Stiegler, Köln, London: Koenig Books, 2020, 171 Seiten, 20,5 x 13,3 cm, 29 Schwarz/Weiß-Abbildungen, broschiert, 16,80 Euro.

 

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 160, 2021

 

Dieses Interview wäre in jedem Fall ein Ereignis gewesen: Einer der bedeutendsten Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts, der Chemiker Eugène Chevreul, stand im Jahr 1886 einem der bedeutendsten Fotografen jener Zeit, Félix Nadar, ausführlich Rede und Antwort. Gewiss aber erregte das Gespräch auch deshalb großes Aufsehen, da Chevreul nur wenige Tage vor der Publikation im Journal illustré einhundert Jahre alt geworden war.[1] Dem Künstler-Erfinder-Flugpionier-Schriftsteller-Tausendsassa Nadar war ein echter journalistischer Coup gelungen. Dass wir das bis heute nicht vergessen haben, liegt allerdings an etwas anderem: Nadar kam zu Chevreul nicht allein. Mit dabei war sein Sohn Paul, der das legendäre Fotostudio des Vaters lange schon übernommen hatte und nun das Gespräch der beiden alten Herren mit der Kamera begleitete.

Sogleich aus mehreren Gründen ist dies eine erstaunliche Feststellung: Zum einen hatte sich Chevreul, wie er im Interview erzählt, bis in sein 97. (!) Jahr erfolgreich jedem Versuch widersetzt, fotografiert zu werden. Dabei war er am 19. August 1839, als Arago in der Pariser Akademie der Wissenschaften die Erfindung Daguerres vorstellte, nicht allein anwesend, sondern amtierte sogar als Präsident dieses Hauses.[2] Nun jedoch ließ er die Arbeit des Fotografen ruhig über sich ergehen, die zu gut siebzig Aufnahmen führte. Zum anderen aber brachte Paul Nadar das allerneueste Filmmaterial mit. Nur diese Eastman-Filme erlaubten Verschlusszeiten von 2/1000 (!!) Sekunden und damit eine der lebendigen Gesprächssituation angemessene Darstellung.

Längst gehören Paul Nadars Aufnahmen aus dem Journal illustré zum kanonischen Teil der Fotogeschichte.[3] In Lehrbüchern ist von der ersten Fotoreportage die Rede, einer vollkommen neuen Form des Bildjournalismus. Das ist gewiss nicht falsch, wirklich richtig ist es aber dennoch nicht. Denn weder handelt es sich um eine Reportage im strengen Sinn – in allen Bildern wird die immer selbe Aufnahmesituation variiert; noch konnten die Illustrierten aus technischen Gründen unmittelbar an Nadars Pioniertat anknüpfen – bis zum regelmäßigen Einsatz von Fotografien in der gedruckten Presse sollten noch Jahre vergehen. Warum es sich aber lohnt, über dieses Interview nachzudenken, zeigt ein vom Konstanzer Literatur- und Medienwissenschaftler Bernd Stiegler herausgegebener Band. Er ergänzt Stieglers bereits zuvor erschienene Monografie Nadar. Bilder der Moderne.[4]

Die kleine mediengeschichtliche Sensation wird auf Seite 9 mit einer Signatur und in zwei nüchternen Sätzen ausgesprochen: In der Bibliothèque nationale de France befindet sich ein Buchmanuskript, das Nadar im Jahr 1886 zum Druck vorbereitet hatte. Unter dem Titel „L’art de vivre cent ans“ war es bereits zur Auslieferung angekündigt. Erschienen ist es jedoch nie. Nachgeholt wird dies nun mit dieser deutschen, von Horst Brühmann besorgten Übersetzung, die den bislang bekannten Zeitungstext auf nicht weniger als 150 Seiten erweitert – sozusagen der Director’s Cut.[5] In insgesamt fünf Gesprächen unterhalten sich Chevreul und Nadar über die Kunst des langen Lebens, über die Fotografie, über das Fliegen (es handelt sich um Nadars lebenslanges Lieblingsthema) und über die Farbgesetze – Chevreuls wohl wichtigster naturwissenschaftlicher Beitrag, der nicht zuletzt für die Pointillisten überaus einflussreich war. Für Foto-Interessierte wird dabei vor allem das zweite Gespräch zur Fotografie von besonderem Interesse sein. Mit ganzer Vehemenz bricht Chevreul eine Lanze für den seinerzeit nur noch wenig bekannten Nicéphore Niépce, den er gegenüber Daguerre als den eigentlich maßgebenden Fotopionier verteidigt.

Dennoch wird man nicht lange drum herum reden müssen: Interessant sind diese Gespräche nur in eingeschränktem Maß wegen ihres Inhalts; auch wenn es da gewiss Ausnahmen gibt und sich der hundertjährige Chemiker immer wieder als hinreißender Humorist beweist. Es ist vielmehr die von den beiden Nadars eingerichtete Versuchsanordnung, die hier zum Ereignis wird. Nach ihrem Willen sollte es ganz auf Authentizität verpflichtet sein: ein lebendiges Gespräch, das Nadar am liebsten durch einen „Daguerreotypen der Töne“ – einen Phonographen – aufgezeichnet gesehen hätte. Das jedoch ließ sich technisch noch nicht umsetzen, so dass das gesprochene Wort eben stenografiert werden musste. Die Fotografie hingegen war zu diesem Zeitpunkt schon weiter: Die Reihe von mehreren Dutzend Bildern soll einen Live-Effekt erzeugen, der das Spiel aus Fragen und Antworten auch visuell direkt an das Publikum weiterträgt.

Selbstbewusst erhebt Nadar den Anspruch, den Journalismus der Zukunft erprobt zu haben. Damit lag er gewiss nicht falsch, auch wenn er zu erwähnen vergaß, wie stark er am Ende eben doch in den Wortlaut redaktionell eingegriffen hat. Mehr als ein Jahrhundert später ist das längst Allgemeinwissen: Bild und Text – getrennt voneinander oder auch zusammen – können den Anschein von Authentizität erzeugen, dennoch bleibt es immer nur dies: ein Anschein. Noch heute, mehr als 130 Jahre später, lohnt es, sich diese das Gespräch umrankende mediale Ordnung ganz genau anzusehen. Leider wird das in dieser wichtigen Erstausgabe des Textes durch die mäßige Abbildungsqualität erschwert. Gewiss kann der Griff zu einem der vielen Nadar-Kataloge oder aber ganz einfach eine Recherche in der Datenbank der Wellcome Collection[6] schnell Abhilfe schaffen.

Dennoch hat der Verlag bei der Ausstattung von Bernd Stieglers Edition leider an der falschen Stelle gespart. Denn so wenig befriedigend die vom Journal illustré seinerzeit erreichte Druckqualität für unsere heutigen Augen sein mag, im Jahr 1886 war die Präsenz einer gedruckten Fotografie auf einer ephemeren Zeitungsbeilage ein Ereignis. Zweifellos spekulierte Nadar mit seinem Interview auf einen Coup, der sich nicht allein dem Interview-Text verdankt, sondern eben auch der Tatsache, dass die Bilder nicht länger als grafische Reproduktionen nach fotografischen Aufnahmen präsentiert wurden, sondern – als Heliogravüren – vielmehr ihren unmittelbaren Auftritt hatten. Der Anschein von Authentizität, auf den Nadar hier zielt, vermittelt sich in ganz wesentlicher Weise durch einen visuellen Effekt, der den Leser*innen (und eben nicht zuletzt Betrachter*innen) des Journal illustré 1886 unvertraut gewesen ist.

Dass er ihnen auch nach Nadars erstaunlicher Pioniertat noch für eine ganze Weile unvertraut bleiben würde, darauf hat der in Toronto lehrende Fotohistoriker Thierry Gervais in einer lesenswerten Fallstudie zu Fotografien aus L’Illustration hingewiesen.[7] Denn gerade das, was Nadar mit seiner Abbildungsstrategie als Live-Effekt im Sinn hatte, das schien für die alltägliche Ausstattung der Illustrierten noch bis zur Jahrhundertwende eher keine Option: In den Bildredaktionen mochte die unverstellte Direktheit der Fotografie als ein Ausgangspunkt willkommen sein, nicht jedoch als druckfertiges Ergebnis. Eine aufwändige Bearbeitung, die die Vorzüge grafischer und fotografischer Bildlichkeit kombinierte, blieb zunächst einmal die journalistische Regel.

Doch wie wird man nun einhundert Jahre alt? Chevreul hat eine ganze Reihe von Tipps zur Hand: keinen Wein und kein Bier trinken, keinen Tabak rauchen, das Essen gründlich kauen und bei Tisch alle politischen Diskussionen unbedingt vermeiden!

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[1]          L’Art de vivre cent ans. Trois entretiens avec Monsieur Chevreul. In: Le Journal illustré, 23. Jg., Nr. 36 vom 5. September 1886, S. 284–288.

[2]          Comptes rendus hebdomadaires des séances de lAcadémie des Sciences, 9. Bd, 1839, Sitzung vom 19. August 1839, S. 249–267.

[3]          Siehe etwa zuletzt den entsprechenden Eintrag in einem mit kanonisierender Absicht verfassten Sammelband: Thierry Gervais: Interview of Chevreul, France, 1886. In: Jason E. Hill, Vanessa R. Schwartz (Hg.): Getting the Picture. The Visual Culture of the News, London 2015, S. 35–37.

[4]          Bernd Stiegler: Nadar. Bilder der Moderne, Köln, London 2019.

[5]          Eine von Michèle Auer herausgegebene Neuausgabe des Interviews beschränkte sich auf eine Wiedergabe des Textstands der Journal-Fassung, bietet allerdings zugleich einen umfangreichen Kommentar sowie zahlreiche weitere Reproduktionen, nicht zuletzt als eingebundene Falttafel einen Reprint der Bildseiten des Journal illustré. Paul Nadar: Le premier interview photographique. Chevreul, Félix Nadar, Paul Nadar, hg. von Michèle Auer, Neuchâtel, Paris 1999.

[6]          Sylvie Aubenas, Anne Lacoste (Hg.): Les Nadars. Une légende photographique, Paris 2018, S. 289, 295. www.wellcomecollection.org

[7]          Thierry Gervais: De part et d’autre de la „garde-barrière“. Les errances techniques dans l’usage de la photographie au sein du journal L’Illustration (1880–1900), in: Études photographiques, Nr. 23, Mai 2009, S. 30–50.

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