Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Gisela Parak

Der Fotograf Felix von Luschan

Katarina Matiasek (Hg.): Überleben im Bild. „Rettungsanthropologie“ in der fotografischen Sammlung Emma und Felix von Luschan (=Beiträge zur Geschichte der Fotografie in Österreich, Band 21), Salzburg: FOTOHOF edition 2021, 21 x 21,5 cm, 192 Seiten mit 163 Abb. in Farbe und S/W, 19,90 Euro  

 

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 164, 2022

Die Biografie Felix von Luschans (1854–1924) führt den pulsierenden Herzschlag anthropologisch-ethnologischer Forschung des ausgehenden 19. Jahrhunderts vor Augen. 1882 als erster Anthropologe an der Universität Wien habilitiert, wurde Luschan 1885 von Adolf Bastian ans Museum für Völkerkunde in Berlin berufen. In der Schnittmenge ethnologischer Feldforschung, musealem Sammeln und akademischer Theoriebildung spiegeln sich in Luschans Arbeit die Prämissen, aber auch die Kontroversen seiner Zeit wider. Zudem gehen auf ihn einige der strittigsten Sammlungskonvolute der Berliner Häuser zurück wie die Benin-Bronzen und Teile der Schädelsammlungen der Berliner Charité. Die Publikation Überleben im Bild stößt somit mit einem unbekannten Materialkorpus, einem federführenden Protagonisten und der Kontextualisierung der Auseinandersetzung mit und über die Fotografie ins Zentrum des anthropologisch-ethnologischen Erkenntnisstrebens im Zeitalter der Kolonialismus vor.   

Der Textteil des Bandes gliedert sich in sechs Beiträge: Nach einer Einführung der Kuratorin Katarina Matiasek folgen fünf kurze Aufsätze, welche die Verwendung fotografischer Bilder und die an sie angelagerten wissenschaftlichen Thesen im Kontext der völkerkundlichen ‚Rassenlehre‘ rekonstruieren. In ihrer Einleitung verbindet Katarina Matiasek die Biografie Luschans mit einem kenntnisreichen Blick in die Geschichte der Entwicklung der anthropologischen Fotografie. Ihr besonderes Verdienst ist es hierbei, die Erörterung des Mediums Fotografie im führenden Fachjournal, der Zeitschrift für Ethnologie, dem Publikationsorgan der „Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte“ nachvollzogen und ausgewertet zu haben. Für den deutschsprachigen Kontext legte der Anthropologe, Anatom und Afrika-Reisende Gustav Fritsch 1875 Vorschläge bezüglich der methodischen Standards für die anthropologisch-ethnologische Fotografie vor.[1] Matiaseks quellenreiche Ausführungen lassen interessante Details zu Tage treten wie beispielsweise den gezielten, von Seiten der Marine angeleiteten Wissenstransfer, der sich nicht nur an Wissenschaftlern wandte, sondern zugleich an Kolonialbeamte, Marineangehörige und einen diversen Adressatenkreis von Reisenden. Sowohl Forscher wie auch politische Verantwortungsträger vertraten die Meinung, dass jede Fotografie einen Wert als Aufzeichnung der ‚im Verschwinden‘ begriffenen indigenen Kulturen besäße und regten zum Sammeln und eigenen Fotografieren an. Ihnen war dabei wohl bewusst, dass die Auswertung des auf diese Weise zusammengetragenen bildlichen Sammelsuriums die Forschenden vor große Herausforderungen stelle (S. 46). Neben schriftlichen Ausführungen wie denen von Fritsch leiteten auch Luschans Berliner Vorlesungen einen diversen Kreis von Reisenden zur Materialsammlung an.   

Der rund 6.000 Aufnahmen umfassende Bestand der fotografischen Privatsammlung Luschans enthält neben Aufnahmen aus dem Familienkontext die im Verlauf seiner Forschungstätigkeit erworbenen, auch selbst angefertigte Fotografien. Emma von Luschan wird von Matiasek in ihrer Bedeutung als kongeniale Partnerin und eigenständige Fotografin entsprechend gewürdigt. Nach dem Tod ihres Mannes sollte die Sammlung in Berlin verbleiben, wurde von Emma von Luschan dann jedoch an einen Schüler ihres Mannes übergeben, da ihren Auflagen nicht entsprochen wurde. Mit Otto Reche gelangte die Sammlung zwischen 1924 und 1927 an die Universität Wien. Die bildwissenschaftliche Erkundung der Genese dieses Sammlungskorpus sowie das Nebeneinander unterschiedlichster Bildgattungen vernachlässigt der Katalog jedoch.

Auf der formalen Ebene erweist es sich in diesem Zusammenhang als problematisch, dass die gängigen Formen der Kennzeichnung von Bildtiteln, Bildbeschriftungen und Bildbeschreibungen nicht eingehalten wurden. Die wie Bildtitel wirkenden Bildbeschreibungen aus Hand der Bestandsbearbeitenden weisen unterschiedlichste Bildtraditionen und Bildgenres unisono als “Typenporträts“ aus. Selbst japanische Genrebilder des österreichischen Fotografen Wilhelm Burgers (S. 45) dienen im Textteil hierfür als Belege (S. 42). Historisch überliefert ist die Terminologie ‚Typenfotografie‘, ‚Typendarstellung‘ oder ‚Typenaufnahme‘. Da der ‚Typus‘ im Gegensatz zum ‚Porträt‘, das sich auf die individuelle Persönlichkeit der Dargestellten bezieht, die abgebildete Person als statischen Durchschnitt oder ‚charakteristischen‘ Vertreter eines Volkes behauptet, ist das neugebildete Wort-Komposit „Typen-Porträt“ in sich widersprüchlich. Kritik an der fragwürdigen Aussagekraft der Typenfotografie äußerte bereits Gustav Fritsch im Jahr 1881, der sie als unwissenschaftlich und „[...] bis zur Lächerlichkeit unbrauchbar“ bezeichnete.[2] Auch Elizabeth Edwards hat auf die vielfältigen Darstellungsmodi der Erstellung fotografischer Typen verwiesen.[3] Sie verwendet abschließend die kritisch gebrochene Schreibweise „‘type‘-portraits“,[4] also „‘Typen‘-Porträt“, um die Problematik des Begriffes sichtbar zu machen. Fritsch selbst spricht in seinen bereits  genannten Anleitungen von 1875 von „physiognomischen Aufnahmen“ und führte die zweiteilige Gegenüberstellung metrischer Vorder- und Seitenansichten ein,[5] die Luschan auch für seine eigene Fotopraxis inspirierte. Man hätte sich aus diesen Gründen eine editorische Notiz gewünscht sowie eine Differenzierung der sich entwickelnden, die physische Anthropologie begleitenden fotografisch-vermessenden, anthropometrischen oder physiognomischen Darstellungsformen und -formate.

Als unglücklich erweist sich zudem die Hypothese der „Rettungsanthropologie“, welche die Aufsätze auch nicht diskutieren oder kritisch historisieren. Vom selbstgegebenen Anspruch einer „Rettungsmission“ (Bastian),[6] die glaubte, die westlichen Zivilisationen würden den im Zuge der Industrialisierung und Modernisierung nicht mehr ‚überlebensfähigen‘ indigenen Kulturen einen großen Dienst erweisen, die nicht-europäischen Kult- und Alltagsobjekt  per Transfer in ihren Museen zu sichern und damit zu erhalten, leitete die wissenschaftliche Disziplin der Anthropologie/Ethnologie lange Zeit das titelgebende Paradigma ab. In seinen Ausführungen über das Berliner Prachtboot hat Götz Aly jüngst am Beispiel einer absichtlich falschen wissenschaftlichen Tradierung die Legende des selbstgewählten Aussterbens der Luf-Insulaner dekonstruiert, welche die ‚Erwerbsgeschichte‘ des Bootes legitimierte.[7] Der Mythos der ‚Rettungsanthropologie‘ veredelte den Akt der Überführung des Prachtboots nach Berlin, verschleierte andere Intentionen und rechtfertigte letztendlich das System der Kolonialwissenschaften. Maria Six-Hohenbalken hat die Widersprüchlichkeiten in Luschans Forschungsansatz zudem bereits weitaus differenzierter dargestellt als ihn der Terminus der „Rettungsanthropologie“ suggeriert. Sie verweist auf die kulturrelativistischen Ansätze im Umfeld Luschans und darauf, dass der Berliner Professor durchaus Zweifel an einer eindeutigen Grenzziehung zwischen ‚primitiven‘ Völkern und ‚Kulturvölkern‘ artikulierte.[8] Mit Götz Aly gesprochen sollte man heute folglich sehr vorsichtig sein bei der Übernahme der Argumente einer wissenschaftlichen Selbsthistorisierung der Jahrhundertwende. In diesem Zusammenhang ist es zugleich bedauerlich, dass der Katalog Luschan nicht als ethnografisch Forschenden und Fotografierenden nachgeht. Angeboten hätte sich hierzu beispielsweise das abgebildete Tableau der Beobachtung von Körperpraktiken im Gebiet des heutigen Namibias, das ebenfalls als „Typenporträt“ ausgewiesen wurde. Der Titel der Wiener Ausstellung hat die Hypothese der Rettungsanthropologie zu „Wege aus der Anonymität anthropologischer ‚Typenfotografien‘ in der Sammlung Emma und Felix von Luschan“ modifiziert. Katalog und Ausstellung legen wichtige Argumente vor, deren Thesenbildung aber noch nicht final abgeschlossen ist.

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[1] Gustav Fritsch: Praktische Gesichtspunkte für die Verwendung zweier dem Reisenden wichtigen technischen Hülfsmittel: das Mikroskop und der photographische Apparat, in: Georg von Neumayer (Hg.): Anleitung zu wissenschaftlichen Beobachtungen auf Reisen. Mit besonderer Rücksicht auf die Bedürfnisse der kaiserlichen Marine, Berlin 1875, S. 591–625.

[2] Thomas Theye: Photographie, Ethnologie und physischen Anthropologie im 19. Jahrhundert: Ein Überblick für den deutschen Sprachraum, in: Revista de Dialectologia y Tradiciones Populares, vol. LIII, n° 1, (1998), S. 49–78, hier S. 52.  

[3 Elizabeth Edwards: Photography and Anthropological intention in Nineteenth Century Britain, in: Revista de Dialectologia y Tradiciones Populares, vol. LIII, Nr. 1, (1998), S. 24–48, hier S. 28.

[4] Edwards, (Anm. 2), S. 41.

[5] Fritsch, (Anm. 1), S. 609.

[6] Adolf Bastian, zitiert nach H. Glenn Penny: Im Schatten Humboldts: eine tragische Geschichte der deutschen Ethnologie, München 2019, S. 12.

[7] Götz Aly: Das Prachtboot: wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten, Frankfurt a. M. 2021.

[8] Vgl. Maria Six-Hohenbalken: Felix von Luschans Beiträge zur Ethnologie. Zwischen Imperialem Liberalismus und den Anfängen des Sozialdarwinismus, in: Peter Ruggendorfer / Hubert D. Szemethy (Hg.): Felix von Luschan (18541924). Leben und Wirken eines Universalgelehrten, Wien, Köln, Weimar, 2009, S. 165–193, hier S. 177.

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