Paul Mellenthin
Fotografie als kollektives Unternehmen
Editorial
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 168, 2023
Fragen zum Verhältnis von Fotograf*innen und Bildern beschäftigen die Fotoliteratur seit jeher – und verkomplizieren auch heute noch jeden Versuch, zu (er)klären, was Fotografien bedeuten und wie sie Bedeutung herstellen. André Adolphe-Eugène Disdéri, Fotopionier des 19. Jahrhunderts und Autor des Standardwerk L’Art de la photographie, weigerte sich der damals geläufigen Ansicht zu folgen und apparativ erzeugte Bilder ausschließlich als Zufalls- und Naturerscheinungen zu deuten. Stattdessen stellte er das Subjekt, die psychische Verfassung und Absicht der Produzent*innen, an erste Stelle: „Aber das Ziel des Fotografen ist nicht nur die willkürliche Reproduktion der Natur: Die Wahl muss sein Handeln bestimmen, und diese Wahl wird durch die Ideen und das Temperament jedes Einzelnen bestimmt. Aus diesem Grund werden wir in den Produktionen der verschiedenen Fotografen immer das besondere Wesen wiederfinden, das die Persönlichkeit des Lichtbildners offenbart und das einen besonderen Stempel trägt, der sie ohne Unterschrift wiedererkennen lässt.“[1] Ein anderer Zeitgenosse fasste denselben Gedanken in folgender Sentenz: „Die Fotografie ist wie die Handschrift, sie vermittelt eine grobe Idee ihres Autors.“[2]
Ist das fotografische Bild folglich ein Werk, dem ein persönlicher Stil zu eigen ist? Konstituiert es einen Korpus, den eine individuelle Signatur zusammenhält? Und wie ist eine Fotografie mit der Psyche der Produzent*innen verbunden? Disdéri scheute den Vergleich mit Kunstwerken nicht. Im Gegenteil: ihm diente die These einer wiedererkennbaren Bildsprache gerade als Argument dafür, die Fotografie in die Gesellschaft der Kunst zu rücken, um sie innerhalb von Konzepten wie Originalität, Authentizität und Autorität bewerten zu können. Inzwischen ist es üblich, die Fotografie nach Maßstäben der Kunstgeschichte zu beurteilen und die Intention als Erkenntniskategorie zu berücksichtigen. Die Kehrseite ist jedoch, dass sich insbesondere im Ausstellungswesen der Trend durchgesetzt hat, Fotograf*innen des 19. und 20. Jahrhunderts als künstlerische Positionen aufzuwerten und sie an der Spitze einer vom Markt diktierten Wertehierarchie zu positionieren, denn „Legenden haben sich als ausgesprochen verkaufsfördernd erwiesen.“[3]
Aber auf diese Weise werden nicht nur die Differenzen verschiedener Produktionsfelder ignoriert; auch bleibt der Mehrwert unberücksichtigt, der durch eine interdisziplinäre Forschung entsteht, die Erkenntnisse aus dem fotografischen Gegenstandsfelds auch auf andere Bereiche überträgt – zum Beispiel um mit dem kunsthistorischen Mythos kreativer Schöpfung aufzuräumen und stattdessen ein Modell kunstwissenschaftlich-situierter Autor*innenschaft im Dialog mit den Visual Culture Studies durchzusetzen.[4] DAnliegen des vorliegenden Themenhefts ist es, transhistorische Konzepte kollektiver Autor*innenschaft zu untersuchen und ihre Verantwortlichkeiten in der ästhetischen Sinnbildung und materiellen Hervorbringung von Bildern zu bestimmen.
Neben dem zu Beginn wiedergegebenen Zitat, das uns Disdéris Stimme näherbringt, ist hier auch eine Abbildung abgedruckt, in der wir den Körper des Fotografen in sechsfacher Wiederholung sehen. Zwar mag die Serialität der ungeschnittenen Carte de Visite-Fotografie dazu einladen, Mutmaßungen über die multiplen Persönlichkeiten ihres Erfinders anzustellen, aber wir wollen in ihr vielmehr die Auflösung künstlerischer Autor*innenschaft selbst suchen. Denn durch eine kulturhistorisch informierte Betrachtung ließe sich der Name Disdéris womöglich als ein weiterer Kollektivsingular aufdröseln, in Analogie zum Fall Braun.[5] Unter der Regie dieses Fotografen ist ein professionalisiertes Gewerbe mit dem Vorbereiten, Auswählen, Aufnehmen, Kopieren, Entwickeln, Retuschieren, Kolorieren, Verarbeiten, Beschriften und Übersetzen von Bildern beschäftigt gewesen. Man arbeitete anonym unter fremder Feder, selbst nachdem der Namensgeber aus der Welt getreten war. Disdéris Carte de Visite-Porträt ist somit nichts anderes als der zur Bildmetapher gewordene Kollektivsingular der Fotografie.
In der Forschung verfügen wir nur über wenig Möglichkeiten, um die Namen und Funktionen von Mitarbeiter*innen im fotografischen Prozess retrospektiv zu identifizieren und auszuwerten. Aber womöglich wäre es zulässig, ein Gerüst zu entwerfen, indem wir die fotografische Produktion mit anderen Produktionsarten in Beziehung setzen, wie es etwa Erwin Panofsky für den Filmgetan hat: „Man könnte sagen, daß ein Film, der in Teamarbeit hergestellt wird und bei dem alle einzelnen Arbeiten ungefähr den gleichen Grad an Endgültigkeit aufweisen, am ehesten ein modernes Gegenstück zu einer mittelalterlichen Kathedrale ist: die Rolle des Produzenten entspricht mehr oder weniger der des Bischofs oder Erzbischofs, die des Regisseurs der des leitenden Architekten, die des Drehbuchautors der jener scholastischen Berater, die das ikonographische Programm aufstellen, und die anderen Techniker sind vergleichbar mit jenen, die mit ihrer Arbeit zur Fertigstellung des Gesamtwerkes beitrugen, von den Bildhauern, Glasmalern, Bronzegießern, Zimmerleuten und geschickten Maurern bis hinunter zu den Steinhauern und Holzfällern.“[6]
Das Ziel besteht demnach zuallererst darin, die soziale Ordnung der Fotografie sichtbar zu machen. Dazu müssen wir nicht nur den Akt, also die Aufnahme samt vorläufiger Bildtraditionen und Techniken, in Betracht ziehen, sondern ein Modell entwickeln, das die Produktion und Postproduktion ebenso berücksichtigt wie die Distribution und die Präsentation. Wie beim Film würde theoretisch auch jedes fotografische Objekt von einem Abspann begleitet werden, der die objektgebundenen Handschriften auflistet. Erst dann ließe sich in einem folgenden Schritt das wechselseitige Verhältnis abbilden, das Fotograf*innen mit der Welt verbindet und fotografische Objekte mit ihren Betrachter*innen. Freilich gehen wir dabei von der Prämisse aus, dass Bilder bestimmte Auffassungen über ihre Herstellung voraussetzen und sich die Bedeutung von Bildern mit Bezug auf die Produktion erschließt.
Nicht zwangsläufig, so beweisen es die folgenden Beiträge von Nadya Bair, Megan Luke und Steffen Siegel, endet diese Perspektive in einem naiven Biografismus. Die drei Fallstudien zeichnen ein differenziertes Bild kollektiver Autor*innenschaft anhand von Robert Capas Tätigkeit im Markt internationaler Illustrierter, Albert Renger-Patzschs Versuch einer Retrospektive und der Herstellung des Fotobuchs Ich liebe Dich von Dirk Alvermann. Abschließend ergänzt werden diese Beiträge durch einen Exkurs von Douglas R. Nickel in das Feld der Bild- und Wahrnehmungstheorie, in dem Besonderheiten bei der Rezeption von Fotografien aufgespürt werden. Dass man die Relevanz fotografischer Autor*innenschaft in den internationalen Photographic Studies augenblicklich wieder energisch debattiert, ist unter anderem dem Erscheinen eines Bands zum Fotografen Walker Evans geschuldet (siehe hierzu Fotogeschichte, Heft 164, 2022). Svetlana Alpers hat in der Künstlermonografie Walker Evans: America. Leben und Kunst eine Methode weiterentwickelt, die sie bereits in ihrer Studie Rembrandt als Unternehmer. Sein Atelier und der Markt darlegte, denn ebenso wie Rembrandts bleibe auch Evans Handschrift trotz geteilter Autor*innenschaft uneingeschränkt bestehen. Mit der Autorin konnten wir für dieses Heft ein Gespräch über all jene Parallelen führen, die vom Verfassen von kunst- zum Verfassen von fotohistorischen Texten führen. Der Text stellt das Festhalten an Autor*innenschaft grundsätzlich in Frage und erweitert die Debatte mit neuen Fragen hinsichtlich der Alltagshermeneutik der Fotografie.
Wir bedanken uns bei Svetlana Alpers, dass sie unsere Fragen zum Projekt so bereitwillig beantwortet hat. Weiterhin gebührt den Beitragenden der allergrößte Dank für die Bereitschaft, ihre gegenwärtige Forschung auf diese Kritik der Autor*innenschaft zu beziehen. Im Namen aller Autor*innen sei zuletzt Anton Holzer, dem langjährigen Herausgeber der Zeitschrift Fotogeschichte, und seinem Team ein herzlicher Dank dafür ausgesprochen, der Idee, sich heuristisch der „Autor-Funktion“ (Michel Foucault) im Feld der Fotografie anzunähern, hier einen Raum zu geben und die Herausgabe von der Konzeption an ausgezeichnet zu lenken. Dass die Texte von Bair, Luke und Nickel schließlich termingerecht in deutscher Sprache vorliegen, ist der akribischen Arbeit von Maleen Schwinger zu verdanken, die binnen kürzester Zeit die anspruchsvollen englischen Originalfassungen ins Deutsche übersetzt hat.
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[1] André Adolphe-Eugène Disdéri: L’art de la photographie, Paris 1862, S. 297.
[2] Marc-Antoine Gaudin: Exposition de la Société française de photographie, in: La Lumière, 15. Juni 1861, S. 41–42. Gaudin war ein französischer Chemiker und Autor früher Beiträge zur fotografischen Handbuchliteratur.
[3] Isabelle Graw, Wie viel Person steckt im Produkt? Über die metonymischen Wechselbeziehungen zwischen künstlerischen Arbeiten und ihren Urheber*innen, in: Texte zur Kunst, 32. Jg., Heft 128: Art History Update, 2022, S. 57–71, hier S. 63.
[4] Ernst Kris und Otto Kurz haben in einer kritischen Revision der Kunstgeschichte verschiedene Gesellschaftsbilder von Künstler*innen seit der Antike analysiert und in ihrer Studie Die Legende vom Künstler (Wien 1934) eine bis heute wegweisende Methode ins Leben gerufen.
[5] Paul Mellenthin, Ulrich Pohlmann (Hg.): Adolphe Braun. Ein europäisches Photographie-Unternehmen und die Bildkünste im 19. Jahrhundert, München 2017.
[6] Erwin Panofsky, Stilarten und das Medium des Films (1959), in: Alphons Silbermann (Hg.): Mediensoziologie, Bd. I: Film, Wien 1973, S. 106–122, hier S. 119.
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