Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Anna Gielas

Eine Botanikerin in der Arktis

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 168, 2023

Hanna Resvoll-Holmsen (1873–1943) war die erste Frau, die alleine botanische Studien in der Arktis durchführte. Die Norwegerin verbrachte den Sommer des Jahres 1908 mit Gewehr, einer Pflanzenpresse, einem Botanikerkasten und einer Fotokamera auf dem arktischen Archipel Spitzbergen (siehe Abb.). Das Gewehr brauchte sie, um sich gegen Eisbären zu schützen – die Fotokamera, um die arktische Flora zu dokumentieren. Resvoll-Holmsen war unter den norwegischen BotanikerInnen die erste, die die im Jahr zuvor auf dem Markt erschienene Farbfotokamera der Gebrüder Lumière als ein Forschungsinstrument einsetzte. Die Pflanzenkundlerin hatte den Umgang mit der Kamera von Anders Wilse gelernt, dem damals führenden norwegischen Fotografen.

Die norwegische Pionierin der wissenschaftlichen Farbfotografie wurde im Ort Vågå geboren. Resvoll-Holmsen war als Jugendliche häufig krank, was den Schulbesuch nach ihrem 12. Lebensjahr unmöglich machte. Erst 1902 – mit knapp 30 Jahren – legte sie ihr Abitur ab. Anschließend nahm sie das Studium der Naturwissenschaften auf. Als Hauptfach wählte Resvoll-Holmsen die Disziplin Botanik – eine Entscheidung, die mit ihrer älteren Schwester Thekla (1871–1948) zusammenhing. Thekla hatte Botanik studiert und wurde für ihre Forschungsverdienste als eine der ersten Frauen zum Mitglied der norwegischen Akademie der Wissenschaften berufen. Doch während Thekla ihre botanische Forschung in Südostasien – primär auf der indonesischen Insel Java – durchführte, entschied Hanna sich für die Arktis.

Ihre erste Reise nach Spitzbergen unternahm Resvoll-Holmsen im Jahr 1907. Die im Kontext ihrer arktischen Forschungsreisen gewonnenen Beobachtungen publizierte sie in ihrer Abschlussarbeit und erhielt im Jahr 1910 ihr Diplom. Auch nach ihrem Studienabschluss unternahm Resvoll-Holmsen zahlreiche Forschungsreisen, darunter in die Bergwelt Norwegens, der Schweiz, Südfrankreichs und in die Pyrenäen. Ihre ehemaligen Professoren an der Universität von Kristiania (heutiges Oslo) verfolgten Resvoll-Holmsens botanische Studien mit Interesse und beriefen die Pflanzenforscherin im Jahr 1921 zur Dozentin für Pflanzengeografie. Damit hatte Resvoll-Holmsen die erste norwegische Dozentur in diesem Feld der Botanik inne.[1] Sie unterrichtete bis zu ihrem Ruhestand im Jahr 1938.

Farbfotografie in der Arktis

Im Juli 1908 reiste Resvoll-Holmsen das zweite Mal in die Arktis – das erste Mal mit einer Fotokamera. Sie verbrachte ihre Zeit in Colesbukta, der Südseite des Isfjordes auf Spitzbergen, einem der artenreichsten Gebiete des Archipels. Eine feste Unterkunft stand ihr nicht zur Verfügung. Die Botanikerin übernachtete in einem Zelt. In ihren Artikeln für die norwegische Zeitung Aftenposten sowie persönlichen Briefen schwärmte sie von dem wundervollen Zeltleben.[2] Dank der finanziellen Unterstützung seitens der Universität sowie privater Spender stand Resvoll-Holmsen nunmehr die Lumière-Fotokamera zur Verfügung.  Das Autochrom-Lumière-Verfahren war ein frühes Farbfotografieverfahren, das 1903 von den Gebrüdern Auguste and Louis Lumière in Frankreich patentiert und im Juni 1907 erstmals öffentlich präsentiert und vermarktet worden war. Autochrom war ein additives Farb-Mosaik-Rasterplatten-Verfahren. Es war das wichtigste Farbfotografieverfahren, das vor dem Aufkommen des subtraktiven Farbfilms Mitte der 1930er Jahre Verwendung fand.

Die Lumière-Brüder benutzten Stärkekörnchen (aus Kartoffeln) von annähernd gleichmäßiger Größe und färbten sie rot, grün und blau. Sie mischten sie so gründlich wie möglich in einem Verhältnis, das für das Auge ein neutrales Grau ergab und verteilten sie auf einer vorbereiteten Platte, sodass sie in einer Schicht hafteten, „die dann gepresst oder mit schwarzen Kohle-Pulver bestäubt wird, um die kleinen Zwischenräume zwischen den Körnchen auszufüllen“, schrieb Chapman Jones (1854–1932), ein Dozent des britischen Royal College of Science, der sich auf Fotografie spezialisierte.[3] Anschließend wurde ein wasserfester Schutzlack aufgetragen, darauf eine orthochromatische Emulsion, „sodass die Platte in sich vollständig ist - fotografische Platte und Farbplatte in einem“.[4] Im Gegensatz zu früheren Verfahren musste die Farbe hierbei nicht im Nachhinein oder durch zusätzliche Prozesse zugeführt werden. Die Platte wurde wie gewohnt in der Kamera belichtet, mit dem Unterschied, dass die Glasseite der Platte dem Objektiv zugewandt ist, sodass das Licht die Schicht aus farbigen Stärkekörnern durchdringen musste, bevor es auf die empfindliche orthochromatische Emulsion traf. „Diese Platten müssen als ein Triumph der Fertigungskompetenz angesehen werden“, urteilte Jones. „Mit ihnen sind einige sehr gute Ergebnisse erzielt worden.“[5] Aber die Farben waren anfällig für Fehler. Der Grund dafür war die Körnung dieser Platten: Sie war nicht so fein, wie man aufgrund der Verwendung von Stärkekörnchen vermuten könnte, denn es war den Gebrüdern Lumière nicht möglich, die verschiedenfarbigen Körnchen gründlich genug zu mischen: Sie traten auf den Platten in Gruppen von bis zu einem Dutzend oder mehr einer Farbe auf. Das war für Resvoll-Holmsen als Botanikerin eine Herausforderung, da sie in ihrer Pflanzendokumentation auch die Farbe möglichst realitätsnah einfangen musste. Ein weiterer, wenn auch weniger problematischer Umstand war die Tatsache, dass die Kamera „nicht sehr lichtempfindlich war, was selbst bei Sonnenschein zu langen Belichtungszeiten führte“.[6] Resvoll-Holmsen kam der arktische Sommer (Polartag) gelegen: Da die Sonne auch nachtsüber am Himmel stand und entsprechend helle Verhältnisse herrschten, konnte sie entsprechend lange Belichtungszeiten gewährleisten.

Wissenschaftlicher Fokus und politische Wirkung

Resvoll-Holmsen war die erste unter den Pflanzenforschenden, die Spitzbergens Flora komplett verzeichnete, darunter 133 Arten von Gefäßpflanzen (Tracheophyta). Bei ihrer Feldarbeit bediente sie sich der statistischen Probenahmemethode des dänischen Botanikers Christen Christensen Raunkiær (1860–1938), die sie jedoch zunächst abwandelte und an die norwegische Flora anpasste.[7] Damit leistete Resvoll-Holmsen Pionierarbeit in ihrer Heimat und veröffentlichte sie – mitsamt ihren Farbfotografien – in ihren Forschungswerken. Eine populärwissenschaftliche und reich bebilderte Ausgabe ihres arktischen Hauptwerkes erschien im Jahre 1927 unter dem Titel Svalbards Flora - med en del om dens plantevekst i nutid og fortid. In Svalbards Flora wie auch in ihren Fachpublikationen betonte Resvoll-Holmsen immer wieder die Gemeinsamkeiten der arktischen und der nordnorwegischen Pflanzenwelt. Sie beschrieb diese Ähnlichkeiten auch in journalistischen Artikeln und widmete ihnen sogar eine Reihe von Gedichten. Damit – und mit ihren wiederholt veröffentlichten Farbfotos von Spitzbergen – förderte Resvoll-Holmsen ein Gefühl der Zugehörigkeit des arktischen Archipels zu Norwegen.[8] Ihre wissenschaftliche wie journalistische Arbeit kann als politisch betrachtet werden: Resvoll-Holmsen gilt in Norwegen bis heute als eine der zentralen AkteurInnen in den Bemühungen, Spitzbergen unter norwegische Souveränität zu bringen.[9]

In den 1900ern und 1910ern war das Archipel ein Niemandsland, das von mehreren europäischen Mächten kommerziell genutzt wurde. Zunächst waren Tierfelle und Walfang die zentralen Ressourcen auf und um Spitzbergen gewesen, im 20. Jahrhundert kamen mineralische Rohstoffe dazu. Mit dem zunehmenden wissenschaftlichen Interesse seitens der NorwegerInnen und ihren wiederholten Expeditionen nach Spitzbergen etablierte sich ihre Präsenz auf der arktischen Inselgruppe.[10] Im Jahre 1920 wurde schließlich der internationale Spitzbergenvertrag aufgesetzt, in dem Norwegen die Souveränität über Spitzbergen zugesprochen wurde. Resvoll-Holmsen und ihren MitstreiterInnen setzten sich dafür ein, dass das Abkommen den Schutz der Flora und Fauna auf Spitzbergen einbeziehen würde. Die Bemühungen fanden politisches Gehör und flossen in den Artikel 2 des Spitzbergenvertrags ein: „Es ist Sache Norwegens, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, zu erzwingen oder festzulegen, um die Erhaltung und - falls erforderlich - die Wiederherstellung des tierischen und pflanzlichen Lebens in den genannten Gebieten und ihren Hoheitsgewässern zu gewährleisten“.[11] Heute sind mehrere Teile der arktischen Inselgruppe nach Resvoll-Holmsen benannt.[12]

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[1] Eva Fuglei, Helle Goldman: Hanna Marie Resvoll-Holmsen: a pioneer in Svalbard, in: Polar Research, 25. Jg, Heft 1, 2006, S. 1–13, hier S. 11.

[2] Ebenda, S. 6–7.

[3] Chapman Jones: The Photography of Colour, in: Science Progress in the Twentieth Century, 2. Jg., Heft 7, 1908, S. 349–368, hier S. 363.

[4] Ebenda.

[5] Ebenda, S. 364.

[6] Trond Erik Bjorli: Et fotografisk gjennombrudd: Fotografisk og nasjonal modernisering i fotografen Anders Beer Wilses bildeproduksjon ca. 1900 – 1910, Dissertation an der Universität Bergen, Bergen 2014, S. 318.

[7] Finn-Egil Eckblad: Thekla Resvoll og Hanna Resvoll-Holmsen, to glemte? - pionerer i norsk botanikk, in: Blyttia, 49. Jg., Heft 1, 1991, S. 3–10, hier S. 8.

[8] Interview mit Professor Anka Ryall (Arctic University of Tromsø), durchgeführt am 28. April 2022 am Norwegischen Polarinstitut in Tromsø.

[9] Ebenda.

[10] Peder Roberts, Eric Paglia: Science as national belonging: The construction of Svalbard as a Norwegian space, in: Social Studies of Science, 46. Jg., Heft 6, 2016, S. 894–911.

[11] The Svalbard Treaty, 9.2.1920, https://www.jus.uio.no/english/services/library/treaties/01/1-11/svalbard-treaty.xml (Zugriff am 13.3.2023).

[12] Norsk Polarhistorie: Hanna Resvoll-Holmsen 1873–1943,  https://www.polarhistorie.no/personer/Resvoll-Holmsen%2C%20Hanna.html (Zugriff am 13.3.2023).

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