Johanna Hilari
Moderner Tanz und Fotografie
Bilder, Bewegungen und Übertragungen in der Tanzgeschichtsschreibung
Isa Wortelkamp: Bilder von Bewegung. Tanzfotografie der Moderne, Ilmental-Weinstraße: Jonas Verlag, 2022, 400 S., 17 x 24 cm, 70 Abb. in Farbe und S/W, gebunden, 38 Euro.
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 168, 2023
Auf dem Buchdeckel tanzt eine Frau. So wie Falten auf ihrem Kleid eine schwungvolle Bewegung andeuten, lässt die körnige Ästhetik der Abbildung vermuten, dass es sich um eine Fotografie aus dem letzten Jahrhundert handelt. Als ob die Tänzerin in einem Sprung verharren würde, sind ihre Arme nach hinten gestreckt und ihre Beine ohne Bodenkontakt abgebildet. Der Blick der Tänzerin ist auf den Boden gerichtet. Auf diesem Cover erweckt er jedoch auch den Anschein, als würde sie auf den Titel der jüngsten Studie der Tanzwissenschaftlerin Isa Wortelkamp schauen: Bilder von Bewegung. Tanzfotografie der Moderne. Zudem lädt die Ausrichtung des Sprungs – vom linken Bildrand hin zum Rechten – die Leser*innen gewissermaßen gleich zum Aufschlagen des Buchs ein. So beinhaltet dieses Bild die Bewegung auf zweierlei Weisen: in der abgebildeten Fotografie einerseits, aber auch in der (Lese-)Bewegung, die das Bild bei den Leser*innen evoziert. Damit wird gleich auf dem Cover auf das titelgebende Konzept dieser Studie verwiesen. Die Autorin erläutert in der Einleitung, dass die von ihr untersuchten Fotografien „Bilder von Bewegung [sind], insofern sie von ihr durchdrungen, durch sie getragen sind und in Rahmen ihrer Möglichkeitsbedingungen als Bild Bewegung nicht nur sichtbar werden lassen, sondern auch perpetuieren“ (S. 35, Herv. i. O.).
In Bilder von Bewegung. Tanzfotografie der Moderne untersucht Isa Wortelkamp zahlreiche Tanzfotografien, die in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Europa entstanden sind. Dabei wählt die Autorin bewusst einen Zeitraum, in dem der Begriff ‚Tanzfotografie‘, als eigener Bereich in der Fotografie, der durch bewegliche Kameras auch fotoästhetische Neuerungen mit sich bringt, noch nicht etabliert war. Dahingegen versteht Wortelkamp Tanzfotografie als Phänomen, das sich aus der Begegnung der Kunstformen Fotografie und Moderner Tanz mit ihren jeweiligen Eigenschaften und medialen Möglichkeiten generiert – beide Kunstformen bilden sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts heraus. Dementsprechend bezieht sich der Begriff der Moderne nicht nur auf den ‚Modernen Tanz‘ als Sujet der Fotografien, noch allein auf die technische Entwicklung der Fotografie. Vielmehr zeigt die Autorin auf, wie sich in der Begegnung von Tanz und Fotografie der Moderne auch kulturelle und medientechnische Veränderungen ihrer Zeit spiegeln. Wortelkamp tut dies, indem sie zweierlei tanzfotografische Erscheinungsformen untersucht, denen sie jeweils einen Teil der Studie widmet. Im ersten Teil analysiert sie Fotoserien spezifischer Motive von Choreografien der Tänzer*innen Vaslav Nijinsky und Loïe Fuller. Der zweite Teil legt den Fokus auf zeitgenössische Publikationen zum modernen Tanz. Beide Schwerpunkte werden aus einer Perspektive diskutiert, die Tanzfotografie als Dokument innerhalb eines spezifischen medialen Kontexts begreift, wobei die Autorin jeweils auch die eigene tanzhistoriografische Forschung als performative und bewegte Praxis versteht.
Damit schließt Wortelkamps Publikation eine wichtige tanzhistoriografische Lücke, die auf der konstruierten Binarität von der technisch fixierenden Eigenschaft der Fotografie einerseits und der ephemeren Aktualität der tänzerischen Bewegung andererseits beruht. Während in der äußerst produktiven Forschung zu Tanz und Film allgemein davon ausgegangen wird, dass das verbindende Element beider Kunstformen die Bewegung ist, wird gegenüber der Fotografie als tanzhistoriografischer Untersuchungsgegenstand, gerade wegen des spannungsvollen Verhältnisses von fixiertem Augenblick und Bewegung, zuweilen eine skeptische Haltung eingenommen. Allerdings sind – wie in dieser Studie eindrücklich dargelegt und ausschnitthaft abgebildet – Anfang des 20. Jahrhunderts viele Publikationen erschienen, deren zentrales Element Tanzfotografien sind. Unter dem Titel „Tanzfotografie im/als Bild der Bücher“ untersucht Wortelkamp im zweiten Teil dieser Monografie insgesamt 16 dieser Publikationen, die der Tanzfotografie zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer weiten Verbreitung verholfen haben und das noch heute währende Bild des Modernen Tanzes prägen.
Die Autorin diskutiert die Tanzfotografien einbindenden Publikationen hinsichtlich ihrer medialen Gesamtgefüge. Dabei vergleicht sie nicht nur die reproduzierten Fotografien zum Beispiel hinsichtlich ihrer Anordnung, Formate, Ausschnitte, Motive und in Bezug auf die vertretenen Tänzer*innen und Fotograf*innen, sondern diskutiert darüber hinaus die Publikationen als materielle Artefakte, die – jeweils unter Miteinbezug von Tanzfotografien – durch auktoriale, verlegerische oder grafische Konzepte geformt werden sowie ihrerseits formend auf den Diskurs über den Modernen Tanz wirken. Wortelkamp zeigt gelungen und kritisch auf, wie einzelne Repräsentant*innen (zum Beispiel Mary Wigman) durch diese Publikationen sowohl im zeitgenössischen Diskurs, aber auch in der Tanzgeschichtsschreibung hierarchisiert und kanonisiert wurden. Auch wie das Topoi der (Un-)Darstellbarkeit des Tanzes als Bild- und Bewegungstheoretisches Konzept in diesen Publikationen eingeschrieben, bzw. von ihnen fortgeschrieben wird, sind Forschungserkenntnisse, welche die Tanzgeschichtsschreibung durch die Linse der Tanzfotografie und ihren Erscheinungsformen nochmals neu beleuchten.
In den diesen Teil abrundenden drei Einzelanalysen befasst sich Wortelkamp schließlich mit drei exemplarischen Publikationen und fragt, inwiefern der Moderne Tanz als diskursives Konstrukt verstanden werden kann, „das sich im Kontext und in der Pluralität seiner medialen Erscheinungsformen begründet und generiert“ (S. 218). Obwohl im Ansatz diskutiert, fehlt hier die kritische Stimme in Bezug auf die Geschlechterverhältnisse; waren es doch vor allem Fotografen, die vornehmlich Tänzerinnen fotografierten und Autoren, die besagte Bücher über den Modernen Tanz publizierten. Ebenso offen bleibt die Diskussion über das Verhältnis des europäischen (und hier insbesondere deutschen) Modernen Tanzes mit Exotismus bzw. Tanzinterpretationen und -darstellungen anderer kulturhistorischer und geografischer Kontexte.
Auch im ersten Teil dieses Buches untersucht Wortelkamp Tanzfotografien innerhalb ihres (medialen) Kontexts. Ausgehend von Adolph de Meyers fotografische Serie zu Vaslav Nijinskys Chogreografie L’Après-Midi d’un faune einerseits und Samuel Joshua Beckett zugeschriebenen Serie zur Bewegungsfigur des Serpentinentanzes von Loïe Fuller andererseits macht die Autorin auf die fluiden und jeweils singulären Reproduktionsformate und Rezeptionsformen respektive auf die (mediale) Übertragung von Bewegung aufmerksam. Im Zentrum stehen unterschiedliche Erscheinungsformen von (in der tanzgeschichtlichen Forschung) bekannten tanzfotografischen Serien. Diese werden als fotografische Dokumente des Tanzes, mit verschiedenen methodischen Zugängen ins Verhältnis zur Tanzgeschichtsschreibung gestellt. Auf anschauliche, tanzwissenschaftlich fundierte und höchst selbstreflektierte Weise erläutert und erprobt Wortelkamp, wie tanzfotografische Erscheinungsformen auch von der tanzhistoriografischen Forschung eine Beweglichkeit abverlangen; durch die Bewegung in der Rezeption und Reflexion kann zwischen den Bildern gelesen bzw. jede einzelne Tanzfotografie in ihren spezifischen Kontexten und Konstellationen erkundet werden.
In Bezug auf Adolph de Meyers fotografische Serie zu Vaslav Nijinskys Chogreografie L’Après-Midi d’un faune reflektiert Wortelkamp, wie die Präsentations- und Reproduktionsform – beispielsweise als Overhead-Projektion, YouTube-Video oder Mikrofilm – zu unterschiedlichen Umgangsformen mit dem jeweiligen tanzhistoriografischen Dokument führen, die wiederum bestimmte Informationen beinhalten. Dahingegen steht in der Analyse zur Fotoserie des Serpentinentanzes von Loïe Fuller die Idee der Übertragung im Zentrum, wobei die Autorin choreografische und fotografische Konzeptionen dieses spezifischen Tanzes in Bezug auf deren Verhältnis und der entsprechenden Transformation betrachtet. Wortelkamp macht in diesem Teil über ihre reflektierend methodische Herangehensweise besonders deutlich, wie institutionelle, sozialhistorische und ästhetisch-politische Prozesse tanzfotografische Dokumente in deren verschiedenen Erscheinungsformen und Handhabungsweisen konstituieren. In Bilder von Bewegung. Tanzfotografie der Moderne scheint – zumindest im Moment – Wortelkamps langjährige Forschung zu Tanzfotografie in der Moderne zu kulminieren.[1] Klug verbindet sie methodische, ästhetische, tanzhistorische und medientheoretische Ebenen, die für Tanzfotografien der Moderne von Bedeutung sind und spricht so ein Publikum an, das sich für tanz- und/oder fotogeschichtliche Leerstellen interessiert.
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[1] Siehe neben einigen Artikeln auch die beiden Sammelbände: Tessa Jahn, Eike Wittrock, Isa Wortelkamp (Hg.): Tanzfotografie. Historiografische Reflexionen der Moderne. Bielefeld: transcript, 2016 und Isa Wortelkamp (Hg.): Tanz in Bildern. Plurale Konstellationen der Fotografie. Bielefeld: transcript, 2022.
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