Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Anton Holzer

Verletzte Bilder

Editorial

 

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 171, 2024

Liebe Leserinnen und Leser der FOTOGESCHICHTE, beim Aufblättern haben Sie es gleich bemerkt: dieses Heft ist anders. Es enthält keine der üblichen Rubriken, keinen Hauptblock mit Fachbeiträgen zur Fotografiegeschichte, keine Berichte aus der Forschung und keine Rezensionen. All diese Textformate, die Ihnen in dieser Zeitschrift vertraut sind, weil sie zum festen Repertoire eines jeden Heftes gehören, wurden für dieses Themenheft auf die Seite geräumt, um Platz zu machen für Bilder, für viele Bilder. Im Zentrum steht ein langer Bildessay, den der Künstler und Bildforscher Elmar Mauch eigens für diese Ausgabe konzipiert hat. Unter dem Thema „Verletzen – Verbergen – Verschwinden“ unternimmt Mauch eine Reise durch das viele tausende Fotos umfassende Archiv des „Instituts für künstlerische Bildforschung“, das er 2011 in Dortmund gegründet hat. Er begibt sich darin auf die Spuren verletzter Bilder.

Was sind eigentlich verletzte Bilder? Das sind, in der Konzeption dieses Heftes, Fotografien, die gezeichnet sind von den Einflüssen des Lichts, der Chemie und der Physik, von den Folgen der Lagerung und der individuellen und sozialen Handhabung. Verletzte Bilder trüben unseren Blick auf Szenen und Motive. Das ursprünglich „heile“ Bild tritt durch die – oft irritierenden – Interventionen hinter einem Schleier materieller Spuren zurück. Plötzlich sehen wir nicht mehr nur das glückliche Liebespaar, das einst vor der Kamera Aufstellung genommen hat, sondern wir nehmen auch den Kaffeefleck wahr, der sich über das Jackett des Herrn gelegt hat. Wir sehen nicht mehr nur den Kopf einer geliebten Person, sondern auch die Kratzer und Knicke, die sein Gesicht überziehen. Wir sehen nicht nur das mehrfach vervielfältigte Passbild-Porträt eines Schnellbild-Automaten, sondern auch die Schnitte der Schere, die einzelne Aufnahmen aus dem Bildensemble herausgelöst haben. Neben solchen – manchmal durchaus pragmatischen, manchmal zufälligen – Eingriffen in das Fotopapier gibt es aber auch Verletzungen, die ganz anders zustande gekommen sind. Es gibt Bilder, die nicht unabsichtlich im Laufe der Zeit durch Handhabung und Lagerung Schaden genommen haben, sondern die gezielt und absichtlich „verletzt“ wurden, etwa wenn Augen und Münder am Fotopapier mit Farbe oder Stift nachgezeichnet wurden, wenn Körperteile ausgeschnitten oder entfernt, wenn Augen ausgestochen, zerkratzt oder übermalt wurden.

Mauchs Bildessay kommt ganz ohne kommentierenden Text aus und stellt bei genauerem Hinsehen dennoch zentrale Fragen an die Fotografie und ihre Geschichte: Wie verändert sich ein Foto durch seine Handhabung und den sozialen Gebrauch? Wie sehr ist das fotografische Motiv von seiner materiellen Gefasstheit abhängig, seiner Verankerung im Trägermaterial (seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die digitale Ära ist das meist Papier), seiner „Rahmung“ durch Form, Format und Größe? Wie verändert sich der Blick auf die Fotografie, wenn diese nicht ausschließlich als Reproduktion eines Wirklichkeitsausschnitts, sondern (zumindest in der analogen Ära) auch als handhabbares Objekt, als Gegenstand mit einer begreif- und handhabbaren Vorder- und Rückseite gesehen wird? Was passiert, wenn wir den Blick vom Motiv hin zur Bildoberfläche lenken, die glatt oder rau sein kann, unversehrt oder verletzt? Gibt es überhaupt „reine“, von Zeit und Handhabung unberührte und ungetrübte Bilder? Ist das verletzte Bild nicht eigentlich die „Normalform“ der Fotografie? Und schließlich: Was erzählen die oft subtilen, oft massiven Eingriffe in die Materialität des Bildes, wenn wir sie nicht als Störungen oder Trübungen sehen, die „eigentlich“ nicht zum Bild gehören, sondern als genuinen Teil seiner Geschichte? Beginnen die verletzten Bilder oft nicht ganz neue und andere Geschichten zu erzählen, wenn wir diese Verletzungen und Eingriffe ins Zentrum der Betrachtung rücken?

Der Bildessay Mauchs beschäftigt sich mit den bewusst herbeigeführten oder nebenbei entstandenen Interventionen in das „heile“ Bild. Er rückt Kratzer, Risse und Flecken, Löcher und Farbkleckse ins Bild. Er folgt den Spuren von Pinseln, Bleistiften und Kugelschreibern, die die Bildoberfläche kommentieren und überschreiben. Kurz, er beschäftigt sich mit jenen „optischen Nebengeräuschen“, die zwar das Medium von Anfang an begleiteten, aber als Themen der Fotoforschung häufig ausgeblendet wurden. In seinen großzügig ausgelegten Bildtableaus lässt Mauch die Bilder selbst zu Wort kommen. Er tut dies, indem er Fotografien in neue Kontexte und Nachbarschaften bringt, indem er assoziative Gegenüberstellungen einrichtet oder Details herauszoomt. In seiner assoziativen und offenen Form regt dieser Bildessay an, Fragen zu stellen: Wie können wir die oft beiläufigen, oft aggressiven Interventionen in die Bilder interpretieren? Wie können verletzte Bilder als Teil einer neuen und anderen Fotografiegeschichte gelesen werden?

All diesen Fragen geht das vorliegende Themenheft in einer Verschränkung zwischen analytischer und künstlerischer Annäherung nach. Im einleitenden Essay wird das Phänomen der verletzten Bilder in den Horizont der Fotografiegeschichte und -theorie gestellt. Im abschließenden Gespräch mit Elmar Mauch werfen wir einen Blick hinter die Kulissen der bildanalytischen Arbeit des Künstlers und das Zustandekommen des vorliegenden Bildessays. Im Kern umkreist der Künstler und Bildforscher immer wieder die Frage, was denn die Fotografie, dieses rätselhafte Medium, das bereits so viele Transformationen erfahren hat und immer noch erfährt, und das mit immer neuen Bedeutungsschichten aufgeladen wurde, eigentlich ist. Endgültige Antworten darauf, das sei vorab bemerkt, gibt dieses Heft keine.

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