Mira Anneli Naß, Steffen Siegel
Vermessene Bilder. Von der Fotogrammetrie zur Bildforensik
Editorial
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 172, 2024
Der New York Public Library ist es zu danken, dass wir jederzeit durch ein Exemplar von Francis Friths Lower Egypt, Thebes, and the Pyramids (1862) blättern können – in seiner digitalisierten Version. Die verantwortlichen Bibliothekar:innen haben nicht allein auf eine qualitätsvolle Reproduktion geachtet, sondern die online gebotene Fassung des Buches mit Sorgfalt eingerichtet. So unterschiedlich die Ausgabebildschirme hinsichtlich äußerem Maß und Darstellungsqualität sein mögen, die wir beim Browsen anwenden und so fluide damit das angezeigte Ergebnis ist, im Fall dieses konkreten Digitalisats erinnert uns ein an die untere Bildkante gesetztes Lineal an das originale Buchformat. Allerdings kann es nicht zum Ausdruck bringen, dass wir mit diesem auf die Buchseite montierten Albumin-Abzug von 16 mal 22 cm nur eine von mehreren Versionen des Motivs zu sehen bekommen. Frith legte es, mehr als doppelt so groß, auch als Mammut-Print in den Maßen 38 mal 49 cm auf.[1]
Wie sensibel Frith bereits bei der Aufnahme für Fragen des Maßstabs war, unterstrich er in einem Bildkommentar. Über den abgebildeten Ort heißt es dort: „The desert is here a slightly-raised rocky tract, high enough above the valley to give the Pyramids a commanding position, but not so high as to dwarf their size.“[2] Für den Fotografen bedeutete dies eine Herausforderung: Wie lässt sich die majestätische Erscheinung eines solchen Weltwunders auf der fotografischen Bildfläche vermitteln, die im Vergleich notwendigerweise winzig sein muss? Anders gefragt: Wie lässt sich mit einer Fotografie ein Sinn für äußere Maße des dargestellten Objekts erzeugen? Frith griff zu einer, bildgeschichtlich betrachtet, traditionsreichen Antwort: durch die Einführung eines Maßstabs, der in das Bild verlegt wird. An eine geläufige Ikonografie der Architekturdarstellung anschließend, rückte Frith mehrere Staffagefiguren in sein Bild und sorgte mit einem übergroßen Maßstabskontrast, der sich zwischen Vorder- und Hintergrund abzeichnet, dass die Erhabenheit der Pyramiden umso mehr ins Auge fällt.
Allerdings tat er es in einer Form, die bei fotohistorisch kundigen Betrachter:innen eine Frage aufwerfen dürfte: Könnte es sich bei dieser Inszenierung um eine Fotomontage handeln? Wurde also der gesuchte ästhetische Effekt erst in Form einer Nachbearbeitung des fotografischen Materials erzielt? Für den konkreten Fall von Friths Aufnahme mögen wir einer solchen Vermutung widersprechen. Doch kennt die fotografische Darstellung der Pyramiden einen anderen und ebenfalls prominenten Fall, bei dem die Dinge komplizierter liegen. Im Februar 1982 publizierte National Geographic eine Aufnahme des Fotografen Gordon Gahan, die ebenfalls in Gizeh entstanden war, jedoch nicht nur dort. Es dürfte kaum der Rede wert sein, dass ein Bild für die illustrativen Zwecke eines Magazins beschnitten wird. Doch wunderte sich Gahan über das, was auf dem Titelblatt weiterhin sichtbar war. Mit seiner ursprünglichen Aufnahme hatte es nur noch mittelbar zu tun. Unter Einsatz einer frühen Form von Bildbearbeitungssoftware waren die beiden Pyramiden deutlich zueinander gerückt worden.
Nicht zufällig handelt es sich um einen berühmten ‚Fall‘ der Fotogeschichte. Mit ihm verbindet sich – von National Geographic zwar unter der Hand eingeführt, aber doch auf einem Titelblatt ausgestellt – ein Medienumbruch, der nicht allein die Produktion und Nachbearbeitung fotografischer Bilder betrifft, sondern auch auf der Seite der Rezeption bemerkenswerte Konsequenzen nach sich zog und weiterhin zieht. Bereits früh wurde dies auf eine eingängige Formel gebracht: „The End of Photography as Evidence of Anything“.[3] Deutlich sichtbar wurde dies nun ausgerechnet anhand der Darstellung von Pyramiden – den „Symbolen für Unveränderlichkeit und Kontrolle.“[4] Nicht erst seitdem, aber doch erst recht seither steht die Evidenz des fotografischen Zeigens in ganz grundlegender Weise in Zweifel. Positiv gewendet: Die von Fotografien schon immer aufgeworfene Aufgabe, die ihnen zugeschriebene Evidenz überhaupt erst herstellen zu müssen,[5] erfährt im digitalen Zeitalter eine weitere Steigerung. Mit diesem Themenheft wollen wir vorschlagen, solche Akte der Bildprüfung, die sich zwischen dem Zweifeln an und der Beglaubigung von fotografischen Aussageformen ereignen, als Praktiken fotografischer Vermessung zu diskutieren.
Aus einer solchen Perspektive wird gerade nicht die pauschale Frage gestellt, ob Fotografien die Wahrheit zeigen können. Vielmehr verbindet sich mit einem solchen Vermessen fotografischer Bilder die Erwartung, etwas über die Bedingungen ihrer Zeigekraft zu erfahren, über technologische und diskursive Grundlagen, über Kontexte und Gebrauchsweisen, die auf je eigene Weise in fotografischen Bildern zur Geltung gelangen. In diesem Sinn verbinden wir mit der Praxis des Vermessens den Anspruch, fortgesetzt die Leistungsfähigkeit eines Mediums zu prüfen, das in seiner derzeit – eine Formulierung von Éléonore Challine und Paul-Louis Roubert aufgreifend – jüngsten „fotografischen Generation“[6] so sehr in den Mittelpunkt aller sozialen Handlungen getreten ist wie dies noch nie zuvor der Fall gewesen ist.
Mit den einzelnen Beiträgen dieses Themenheftes spannen wir dabei einen weiten Bogen, der von der Fotogrammetrie zur Bildforensik reicht. Wir wollen damit zum Ausdruck bringen, dass eine für Fragen fotografischer Vermessung aufmerksame Forschung sowohl historisch als auch systematisch weit ausgreifen kann – und muss. Mit Praktiken der Vermessung verbinden sich fotohistorisch zentrale Begriffe und Probleme. Hierzu gehören unter anderem, aber keineswegs nur, das Erfassen, Sammeln, Ordnen und Archivieren,[7] Strategien der Domestizierung[8] sowie, gewiss nicht zuletzt, Imaginationen von Kontrolle und Herrschaft.[9] Auf je eigene Weise sind die hierbei wirksamen Praktiken darauf angewiesen, fotografische Formen und Informationen zu regulieren und normieren.
Mit unterschiedlichem Fokus setzen die sechs Beiträge dieses Heftes bei einer solchen Beobachtung an. Ihnen gemeinsam ist ein Interesse an fotografischen Bildern als Objekten, an denen es Maß zu nehmen gilt und für die ein Maß zu bestimmen ist. Die zwei von Frith produzierten Versionen seiner Ansicht der Pyramiden verweisen dabei nur auf den offenkundigen Fall der äußeren Abmessungen eines fotografischen Bildes. In unserem eigenen, digital verfassten Zeitalter werden wir fortlaufend mit weit komplexeren Aufgaben der Vermessung konfrontiert. Gewiss nicht zuletzt gehört hierzu auch die Frage, wie weit wir jenen Umkreis überhaupt bemessen wollen, den wir mit dem Begriff der Fotografie adressieren.
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[1] Douglas R. Nickel: Francis Frith in Egypt and Palestine. A Victorian Photographer Abroad, Princeton 2004.
[2] Francis Frith: Lower Egypt, Thebes, and the Pyramids, London 1862, nicht paginiert. (Kommentar zum Motiv „The Pyramids of El-Geezeh, from the South-West“).
[3] Stewart Brand, Kevin Kelly, Jay Kinney: Digital Retouching. The End of Photography as Evidence of Anything, in: Whole Earth Review, 47. Jg., 1985, S. 42–50.
[4] Martha Rosler: Bildsimulationen, Computermanipulationen: einige Überlegungen, in: Hubertus von Amelunxen, Stefan Iglhaut, Florian Rötzer (Hg.): Fotografie nach der Fotografie, Dresden, Basel 1995, S. 36–57, hier S. 41.
[5] Diane Dufour (Hg.): Images of Conviction. The Construction of Visual Evidence, Paris 2015.
[6] Éléonore Challine, Paul-Louis Roubert: Générations photographique, in: Photographica, 1. Jg., Heft 1, September 2020, S. 6–8.
[7] Allan Sekula: The Body and the Archive, in: October, Nr. 39 (Winter 1986), S. 3–64.
[8] Susanne Regener: Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen, München 1999.
[9] Joan M. Schwartz: „Records of Simple Truth and Precision“: Photography, Archives, and the Illusion of Control, in: Archivaria, Heft 50, Herbst 2000, S. 1–40.
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