Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Markus Bauer

Massen von Texten und Bildern

Digitale und händische Betrachtungen von Ansichtskarten

Heiko Hausendorf, Joachim Scharloth, Kyoko Sugisaki, Noah Bubenhofer (Hg.): Ansichten zur Ansichtskarte. Textlinguistik, Korpuspragmatik und Kulturanalyse, Bielefeld: transcript Verlag 2023, 301 Seiten, 24 x 15,5 cm, 81 Abb., broschiert, 49 [open access: https://www.transcript-verlag.de/media/pdf/21/c7/6a/oa9783839466346IQDJMS5sPE778.pdf]

 

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 173, 2024

 

Ob es mit ihrem vielfach angenommenen Verschwinden zu tun hat? Mit dem Aufkommen der ubiquitär erscheinenden digitalisierten Bild-Text-Kommunikation wurde das Ende der alten „Correspondenzkarte“, der Ansichtskarten, Bildpostkarten, vorhergesagt – mit dem kleinen Makel, dass dieses aber bisher nicht eingetreten ist. Vielmehr werden immer noch bebilderte Papppostkarten massenhaft versendet und vor allem in den beiden vergangenen Dezennien widmet sich eine zunehmende Zahl von wissenschaftlichen Untersuchungen dem Phänomen der Postkarten aus unterschiedlichsten Blickwinkeln, was unmittelbar bereits auf die offensichtliche Komplexität dieses Mediums der Fernkommunikation und seiner Funktionalität hinweist. Und dazu gesellt sich noch die historische Dimension, die Bildpostkarten zu einer wertvollen Quelle von mitunter vom Fluss der Zeiten hinweggespülten Ortsansichten erhebt. Dies gilt nicht nur für ihre nostalgische Variante, obwohl diese Emotion möglicherweise immer eine Rolle zumindest im Zusammenhang mit historischen Bildpostkarten spielt.

Lässt sich zudem das Medium auch in Sammlungen überführen, so birgt der so zusammengetragene Korpus als Massendatenspeicher noch einmal besondere Eigenschaften. Das Schweizer Projekt [anko](Zürcher Ansichtspostkartenkorpus) entstand durch die in der Presse bekanntgemachte Bitte des Linguisten Heiko Hausendorf, Postkarten und entsprechende Sammlungen an das Zürcher Deutsche Seminar zu senden. Es kamen über die Jahre mehr als 12.000 „geschriebene, versandte und gelesene“ Ansichtskarten zusammen, die in dem Projekt Textsortenentwicklung zwischen Standardisierung und Variation: Das Beispiel der Ansichtskarte. Text- und korpuslinguistische Untersuchungen zur Musterhaftigkeit privater Fern- und Alltagsschriftlichkeit des Schweizer Nationalfonds und der Deutschen Forschungsgemeinschaft erforscht und aufgearbeitet wurden. Eine solche Masse an Ansichtskarten musste zunächst einmal handhabbar gemacht – was heutzutage heißt: digital aufbereitet werden. Wie einige der Beiträge des Bandes zeigen, dienen hierzu Annotationen, Taggings, Schreibmasken, etc., so dass die einzelne Karte im Original nur selten in die Hand genommen werden muss, wenn es um die Suche nach bestimmten sprachlichen Merkmalen in dem weitläufigen Korpus geht. Eine eigene Dokumentation wie auch einzelne Beiträge im ersten Teil „Ansichtskarten als Gegenstand: Methodologische Aspekte“ beschreiben sehr präzise, wie dieser Korpus digitalisiert wurde und wie damit gearbeitet werden kann (Naef, Sugisaki,Wiedmer,Calleri; Bender/Müller, Widmer).

Diese digitale „Zurichtung“ richtet das Augenmerk vor allem auf den Text auf der Schriftseite der Karten. Dessen Merkmale sind naheliegenderweise für die SprachwissenschaftlerInnen von vordringlichem Interesse. Im Zusammenhang mit dem Zürcher Projekt gehen die ForscherInnen vor allem von einer Musterhaftigkeit (Hausendorf) und Ritualität der Texte und ihrer Abfassung/Versendung aus (Scharloth). Im Detail finden sich in den Beiträgen des zweiten Kapitels „Was auf Ansichtskarten geschrieben steht“ dann komplexe linguistische Aspekte der sprachlichen Gestaltungsmanöver. Vielfach wird dabei ganz basal den Lesenden überhaupt klar gemacht, was eine Ansichtspostkarte ist, wenn etwa die Frage gestellt wird, wie kurz diese sei (Langenhorst). Es ergibt sich allerdings die nicht triviale Einsicht, die die Grundannahme einer kleinen Textform bestätigt, dass der Text zwar kurz sei, aber nicht im engeren Sinne komprimiert. D. h. entsprechend seiner Gattungsmerkmale lasse sich im Ansichtskartentext das Gewünschte sagen – und bestehe der Text auch nur aus „Klaus grüsst Martin!“ (wenn auch Anett Holzheid in ihrer großen, auch die linguistischen Aspekte betrachtenden Studie historisch Formen von Mikrografie entdeckte, in denen bis zu 8.777 – in Stenographie 33.363 – Wörter auf einer Postkarte untergebracht wurden, vgl. die Rezension in der Fotogeschichte, Heft 125, 2012). Ein weiterer Aspekt stellt das Codeswitching zwischen Hochdeutsch und dialektalem Schweizerdeutsch dar (Sugisaki), dessen Anteil im [anko] parallel zum wachsenden Gebrauch auch in den neuen Medien seit den 1970er bis 2000er Jahren von ein auf 10 Prozent gestiegen ist. Wobei sich in den Texten unterschiedliche Gelegenheiten und Funktionen dieses Sprachenwechsels feststellen lassen.

Innerhalb dieses Themenspektrums fragt Nicolas Wiedmer nach der Präsenz der Freizeitaktivität Sport als einem wichtigen Slot des Urlaubsframes in den Texten der Ansichtskarten. So wie häufig beschrieben wird, was man/frau im Urlaub tut, ist nicht selten Sport Teil des Urlaubs, dessen Erwähnung neben der Berichterstattung vor allem auch der Kontaktpflege dient (1.200 Karten in [anko]). Die Zeit- und Räumlichkeit des Urlaubs verweist auf Beiträge, in denen der Verlauf der Zeit thematisiert wird (Gansel), aber auch der Ort und der Ortswechsel textuell erscheint. Zeit taucht auf 607 Karten auf (das Wetter 2.324 mal), Entschleunigung oder das schnelle Vergehen des Urlaubs gibt meist den Anlass der Verschriftlichung dieses Slots im Urlaubsframe ab.

Geht es hingegen um den Ort, tritt eher das Bild in den Fokus. Zunächst zeigt Marie-Luis Mertens die textliche Exploration des Urlaubsraumes auf, in der die Postkarte als Stancetaking-Praktik fungiert, also als Positionierung – was konkret geografisch, vor allem aber auch sozial gemeint sein kann: Mit dem Versenden von Ansichten lässt sich auch Prestige gewinnen. Da spielen die gedruckten Abbildungen eine nicht geringe Rolle. Bei der Untersuchung der Konstruktion des Urlaubsraums in den Karten, die von TouristInnen aus Afrika versandt wurden, verlässt sich David Koch eher auf die Texte, in denen das Fremd-Exotische und die möglichen Schwierigkeiten zur Sprache kommen und bezieht die Aussagekraft der Fotos der Afrika-Ansichten nur eher marginal in seine Argumentation. Die auf die Bedingungen in Afrika gemünzte Phrase „man gewöhnt sich an alles“ könnten auch Marcus Müller und Michael Bender in ihre Beispielreihe mit „kontragenerischen Textpraktiken“ einbauen: „Negatives, Betrübliches und Beklagenswertes“ als Störungen des im Urlaub prototypisch vorausgesetzten Schönen und Angenehmen – angefangen natürlich wieder beim Wetter. Ihre sehr präzise Textanalyse erwähnt allerdings die Bilder kaum.

Sehr viel ernster nimmt Maaike Kellenberger den Verbund von Bild und Text, wenn sie die Bildansichten als Ressourcen für die Textproduktion und das Hineinschreiben in die Bilder (das Kreuzchen am Hotelfenster) oder die Verweise im Text auf das Bild wahrnimmt. Damit ist vielfach der Text ohne Bild nicht zu lesen, wenn das Bild dann „kein B‘schiss ischt“. Ebenso erfüllen solche Verweise temporale und örtliche Informationsfunktionen, es besteht eine Praktik des Hin- und Herwendens zwischen Bild und Text, die wiederum auf die Textproduktion rückwirkt – Zusammenhänge, die elektronische Formen kaum reproduzieren können. Der Rekurs auf die digitale Basis von [anko] lässt sich hier methodisch insoweit hinterfragen, als Kellenberger ihre etwa 500 Beispielkarten händisch untersucht, gedreht und gewendet hat, um zu ihren Ergebnissen zu gelangen.

Methodologisch ist die Korpuslinguistik auf Datenmassen und ihre Verarbeitung angewiesen, das Gesamtphänomens Ansichtskarte lässt sich damit allerdings nur zum Teil bewältigen. So hat bereits im ersten, methodologischen Teil des Bandes Stephan Wolff darauf hingewiesen, dass in seinem Bereich der ethnomethodologischen Selbstreflexion „das Interesse an Bildern und anderen visuellen Phänomenen als Datenmaterial gestiegen“ sei und daher die Auswahl des Bildmotivs als „implizite Selbstkategorisierung der Absender“ im Sinne der Stancetaking-Praktik einer der wesentlichen Faktoren des Phänomens „Ansichtskartesenden“ sei. Entsprechend wendet sich Wolff den Bezugnahmen zwischen Kartenbild und Kartentext zu, denn bereits die Zusendung einer Karte kann als Zeichen lesbar werden. Die historische Genese der Verbindung von Bild und Text sieht auch Hajo Diekmannshenke als entscheidend an, wenn es um die Popularität der Ansichtskarte geht und stellt in mehreren Beispielen „die Bildseite als Einflussfaktor für die Gestaltung des Ansichtskartentextes“ vor.

Es wird deutlich, dass das Projekt [anko] einen spezifischen Blick auf das historisch umfassendere Phänomen Ansichtskarte wirft. Die über 12.000 Karten an meist schweizer-süddeutsche AdressatInnen, zirkulierten in dem Zeitraum der 1950er bis 2010er Jahre. Hierfür bieten sie aber korpuslinguistisch ein fantastisches Datenmaterial, das in dem Band in subtilen Textanalysen produktiv gemacht wurde. Zudem bietet der Band über diese Basis und das angewandte Verfahren hinausweisende Aussichten auf das faszinierende und unerschöpfliche Phänomen des Mediums Bildpostkarte. Anschlussforschungen am [anko] wären durchaus vorstellbar.

 

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