Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Anton Holzer

Wer war Vivian Maier?

Ann Marks: Das Leben der Vivian Maier. Die Nanny mit der Kamera, Göttingen: Steidl Verlag, 2023, 368 S., 22 x 14,5 cm, Abb. in Farbe und S/W, gebunden, 38 Euro.

 

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 173, 2024

 

Die Geschichte beginnt irgendwann im Jahr 2007 in Chicago. Im Norden der Stadt wurden in einem Lagerhaus fünf Schließfächer aufgebrochen, weil die Miete nicht mehr gezahlt wurde. Hunderte Kisten waren darin gestapelt. Da die Besitzerin, die damals 81-jährige Vivian Maier (1926–2009), nicht erreichbar war, wurden diese Kisten um insgesamt 260 Dollar an einen lokalen Altwarenhändler versteigert. Dieser teilte den Inhalt der Schachteln, darunter Kleider und Schuhe, Haushaltsgeräte, Bücher, Zeitschriften und viele, viele Fotos, in einzelne Lose auf und versteigerte sie. Nach einiger Zeit war der anonyme „Nachlass“ verkauft. Und die Geschichte könnte hier schon wieder zu Ende sein. Wenn nicht die tausenden Fotografien, die sich in den Kisten befanden und die über eBay und andere Verkaufsportale veräußert wurden, ein merkwürdiges Eigenleben entwickelt hätten. Nach und nach wurden Fotosammler auf die außergewöhnlichen Bilder aufmerksam, von denen einige bald im Netz kursierten. Allmählich setzte ein Wettrennen um das verstreute fotografische Erbe ein – und zugleich begann die Suche nach der bis dahin vollkommen unbekannten Fotografin. Innerhalb weniger Jahre verwandelte sich der anonyme Altwarenfund zu einer Goldgrube für Fotoenthusiasten, Galerien aber auch Geschäftemacher. Und Vivian Maier, die 40 Jahre lang als Kinderbetreuerin und Haushälterin gearbeitet und nebenbei stets fotografiert hatte, wurde fast über Nacht zum Star der amerikanischen Fotoszene. Ihre Bilder, die sie zeitlebens nie jemandem gezeigt geschweige denn ausgestellt oder veröffentlicht hatte, wurden weltweit zu Ikonen der Street Photography, die von Kunstmuseum zu Kunstmuseum weitergereicht wurden und viel Geld einspielten.

Es gehört zum bitteren Schicksal der Fotografin, dass dieser Boom just in ihrem letzten Lebensjahr einsetzte, ohne dass sie davon Kenntnis nahm oder gar profitierte. Sie starb, aufgrund eines Sturzes monatelang bettlägerig, vereinsamt am 21. April 2009 in Chicago. Der sprichwörtliche amerikanische Traum, der vom Tellerwäscher zum Millionär führt, ging für Vivian Maier nicht in Erfüllung. Aber etliche der neuen Besitzer ihrer Bilder, die diese am Beginn um einige weniger Dollar erworben hatten, wurden tatsächlich reich – und weltbekannt. Zu ihnen gehört der Chicagoer John Malouf, der Ende 2007 eine der Fotoschachteln mit Negativen Vivian Maiers ersteigert hatte, ohne den genauen Inhalt zu kennen. Der damals 26-Jährige arbeitete in der Immobilienbranche, interessierte sich für Stadtgeschichte, bereitete ein Fotobuch über die Architekturgeschichte seines Viertels vor und verdiente zusätzliches Geld mit eBay-Verkäufen. Unter anderem versetzte er über das Internet alte Designer-Jeans, Handtaschen, Keksdosen – und nun auch Fotos von Vivian Maier. Je mehr er sich in die Fotos vertiefte, desto mehr wurde aus dem kleinen nebenher betriebenen Online-Handel eine regelrechte Passion. Er begann selbst im Stil Maiers zu fotografieren, und nutzte das Internet, um die Fotografin und ihre Bilder auf alle möglichen Arten zu promoten. Er baute eine Website auf, richtete einen Blog ein, lud ausgewählte Bilder auf Flickr, vernetzte sich mit Fotoexperten und der boomenden amerikanischen Street-Photography-Szene. Malouf verbiss sich immer mehr in sein „Vivian“-Projekt, immer besessener verfolgte er seine Idee, die unbekannte Fotografin zum wiederentdeckten Star der amerikanischen Fotoszene zu machen.

Und der Plan ging auf. Allmählich lichtete sich der Nebel um die Person der Fotografin. Puzzlestein um Puzzlestein fügte sich aneinander. Wer aber war Vivian Maier? Eine Nanny, die nebenher fotografierte oder eine überaus talentierte Fotografin, die ihren Lebensunterhalt als Kinderbetreuerin finanzierte? Beides und noch viel mehr. Geboren 1926 in New York als Tochter einer französischen Mutter und eines österreichstämmigen Vaters, war sie in jungen Jahren zwischen Frankreich und den USA hin- und hergerissen. Mit 25 zog sie 1951 endgültig nach New York, im Jahr darauf erwarb sie ihre erste Kamera, 1956 zog sie weiter nach Chicago, wo sie vier Jahrzehnte lang als Kinderbetreuerin und Haushälterin in unterschiedlichen Familien tätig war. Maier galt als etwas verschrobene Einzelgängerin, sie war aber auch eine überaus belesene und kultivierte Frau, die gern in Ausstellungen und häufig ins Kino ging. Auf all ihren Wegen hatte sie die Kamera dabei, beim Einkaufen, auf Reisen und auch wenn sie mit Kindern oder dem Kinderwagen unterwegs war. Mit ihrer Kamera tauchte sie ein in das Getümmel der Großstadt, zuerst in New York, später, nach 1956, in Chicago oder auf Reisen.

Als die Fotografin und ihr Leben nach und nach bekannt wurden und die Resonanz auf ihre Fotos wuchs, wurde aus dem unbekannten Amateurin das Œuvre einer Künstlerin, die nun einen geradezu triumphalen Einzug in die Kunst- und Galerieszene hielt. Diese Verwandlung erfolgte unter Federführung von Malouf und anderen Sammlern, die weitere Teile ihres fotografischen Nachlasses erworben hatten. Die amerikanische Fotohistorikerin Pamela Bannos hat die Stationen dieser fulminanten künstlerischen Wiederentdeckung 2017 ihrem Buch Vivian Maier. A Photographer’s Life and Afterlife präzise und anschaulich und mit reflektierter Distanz zum überhitzten Marktgeschehen nachgezeichnet.

Gänzlich anders konzipiert ist die 2021 auf Englisch und nun auch auf Deutsch erschienene Biografie von Ann Marks, einer Autorin, die beruflich lange Zeit nichts mit Fotografie zu tun hatte, bevor sie sich vor etlichen Jahren in die Familiengeschichte Vivian Maiers verbiss. Ihr Buch erhebt den Anspruch, die erste umfassende Biografie der Fotografin zu liefern, einen Anspruch, den es, zumindest gemessen an der der Fülle der Details, die darin angehäuft werden, in Grundzügen auch einlöst. Aber die Fotografin Vivian Maier versteht man nach der Lektüre dieses Werks nicht besser. Im Gegenteil: Das biografische Projekt der Autorin muss als gescheitert gelten. Das beginnt schon beim distanzlosen Über-die-Schulter-Blicken, mit dem Marks sich ihrer Heldin, die sie stets beim Vornamen nennt, nähert. Das setzt sich bei bei der besessenen und oft wahllosen Anhäufung einer unglaublichen Menge biografischer Details fort, von denen mache unbekannt und bedeutsam sind, viele andere für die Biografie und das Verständnis des fotografischen Werks uninteressant und unwichtig und es endet bei der etwas seltsamen Rechtfertigungsargumentation, mit der die Autorin die gegenwärtigen Inhaber des Werks vor Angriffen und Vorwürfen, sich ungerechtfertigterweise des Werks der Fotografin bemächtigt zu haben, in Schutz nimmt.

Das Hauptproblem dieser biografischen Annäherung aber ist, dass es der Autorin nicht gelingt, Biografie und Werk vor dem gesellschaftlichen Hintergrund der Zeit zu einer geschlossenen und kohärenten Erzählung zu verbinden. Ann Marks ist zwar eine ausgezeichnete Hobby-Genealogin, der keine verwandtschaftliche Detailfrage zu entlegen ist und die für ihre biografischen Recherchen alle Register der Recherche zieht und auf diese Weise zahlreiche Details aus der weit verzweigten Familiengeschichte zum Vorschein bringt, die bisher unbekannt gewesen waren. Aber eine gute Autorin ist sie nicht. Wenn das Ergebnis ihrer Arbeit ein lückenloser, detailliert beschriebener Stammbaum oder eine biografische Datenbank im Netz gewesen wären, hätte sie ihre Arbeit gut und gründlich erledigt. Aber die über weite Strecken hölzerne Schreibweise des Buches, der auf unerträgliche Weise psychologisierende Duktus ihres Textes, der die Lebensgeschichte der Fotografin immer wieder zur psychiatrischen Fallgeschichte macht, und das Unvermögen, Leben, Werk und Zeit in einen gut lesbaren, erhellenden Zusammenhang zu setzen, machen die Lektüre zur Qual.

Daher wollen wir das Buch an dieser Stelle schließen und zurückkehren zum faszinierenden Werk der Fotografin, dessen internationale Rezeption aufs engste mit der skizzierten Publikations-, Ausstellungs- und Sammelgeschichte zusammenhängt. Man kann sogar sagen, dass die Entdeckungs- und Erfolgsgeschichte Vivian Maiers bis heute auf vielfältige Weise mit den diversen – und oft konkurrierenden – kommerzielle Interessen verquickt ist. 2010 fand die erste kleine Vivian Maier Ausstellung statt, bald folgten größere und immer größere Präsentationen in Galerien, Kunst- und Fotomuseen, in den USA, und weit darüber hinaus. Ein weltweiter Vivian Maier-Hype begann. Einem ersten Fotoband Maloufs aus dem Jahr 2011 folgen viele weitere Publikationen, die alle möglichen Facetten ihres Werks vorstellten. Malouf wurde zum hauptberuflichen Vivian-Maier-Promoter. Die Vermarktung übernahmen nun sukzessive kommerzielle Fotogalerien, die die Fotografin in die Sphäre der Kunst hievten und die Sammler und Museen auf die Bilder ansetzten. Die Folge war, dass die Preise explodierten. Hatte Malouf anfänglich im Netz für seine Prints noch knapp 10 Dollar pro Stück verlangt, so wurden bei Auktionen nun teilweise bis zu 30.000 Dollar pro Abzug erzielt. Die fotografische Goldgräberstimmung schürte die Gier, aus Konkurrenz wurde Neid. Es kam zu erbitterten Grabenkämpfen unter den Sammlern, inklusive teurer Rechts- und Urheberrechtsstreitigkeiten, die jahrelang die Gerichte beschäftigten.

Hinter all diese Querelen droht das herausragende Werk der Fotografin zu verschwinden. Die Amateurfotografin, die nie eine Fotoausbildung genossen hat, hatte ein unglaubliches Gespür für Kompositionen, ihre Bilder sind präzise und kunstvoll komponiert und von überragender Qualität. Gekonnt wählte die Fotografin Ausschnitte und Blickwinkel, nutzte geschickt das Spiel zwischen Licht und Schatten, immer wieder griff sie Details heraus, verknüpfte souverän Szenen im Vorder- mit Geschichten im Hintergrund und ließ sich von der Magie der Schatten inspirieren. Mit ihren Kameras (sie besaß stets viele davon, zunächst vom Typ Rolleiflex, später wechselte sie zur Leica) gelang Maier die Aufzeichnung flüchtiger Impressionen und zugleich die poetische Verzauberung des großstädtischen Alltags. Mit atemberaubender Sicherheit fing die Fotografin, ganz im Stil der schnellen, direkten amerikanischen Street Photography, das Gesicht der Großstadt ein: angeschnittene Autos, verwunderte Blicke, hastende Passanten, Schlafende, Liebende und Träumende, Kinder und Bettler, Beine und Köpfe, Emotionen und Erschöpfung. Die Art und Weise, wie sie Gewöhnliches und Skurriles, Humor und Frechheit miteinander verband, macht sie zur großen Fotografin, die sie freilich nie sein wollte. Maier hortete ihre Bilder in Schachteln und Kuverts, ohne dass sie jemals daran dachte, sie öffentlich zu zeigen. Dass ihr fotografischer Schatz, bestehend aus über 150.000 Bildern, nach ihrem Tod ein derartiges Echo auslösen würde, hätte sie sich vermutlich nie träumen lassen. Der amerikanische Traum ging schließlich doch noch in Erfüllung, ganz anders als erwartet.

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