Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Susanne Regener

Andere Sehen

Fotografische Wahrnehmung und Inszenierungen. Editorial

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 174, 2024

 

Eine Frau hält beide mit voluminösen Ringen bestückte Hände an ihre Schultern neben ein glänzendes Geschmeide, das aus drei metallenen Scheiben zusammengesetzt und als Kette um ihren Hals gelegt ist. Vor einem dunklen Hintergrund heben sich hell und plastisch Gesicht, Hände und Kette heraus. Die Augen sind auf die Kamera gerichtet, der Gesichtsausdruck wirkt ernst, die Pose artikuliert Selbstbewusstsein: ‚Das bin ich mit meinem Schmuck‘. Diese Fotografie ist die Selbstinszenierung einer besonderen, aristokratischen Dichterin, Edith Sitwell, die seit den 1920er-Jahren bereits in der Öffentlichkeit Aufsehen erregte und hier im Alter – 72-jährig – der Fotografin Jane Bown Modell stand. Die Fotografie wurde in einem Artikel über Sitwell 1959 als Abschluss einer Serie über Frauen und deren Haltung zur Mode im englischen Observer abgedruckt. Sitwell nutzte die Fotografie, um ihrem Selbstverständnis Ausdruck zu verleihen, anders zu sein und um den Normen der Gewöhnlichkeit nicht zu entsprechen. Ihre enorm großen Ringe und ihre exzentrische Kleidung sind legendär. An diesem Beispiel kann man nachvollziehen, dass die Fotografie eine Geste des Kenntlichmachens ist, eine offensive Geste der Kommunikation. Sitwell ist nicht das Objekt der Fotografin, vielmehr Regisseurin ihrer selbst.

Von vollständig gegensätzlicher Anlage sind die Fotografien, auf denen indigene Frauen und Männer aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aus Vancouver Islands abgebildet sind. Die Inszenierung folgt dem sachlichen Stil des polizeilichen Erkennungsdienstes, mal werden die Personen en profil, mal en face gezeigt, die Mimiken bleiben durchgängig ausdruckslos. Allerdings handelt es sich nicht um ein Fahndungsalbum, sondern um ein Verkaufsalbum für Touristen. Die Brustporträts der Native Americans wurden als exotische Items verkauft, wie Bernd Stiegler in diesem Heft ausführt. Die kommerzialisierte Fotografie von Fremden folgt dem Muster symbolischer Unterwerfung und der Erzeugung des Anderen – des interessanten Fremden. Eine ähnliche Strategie der Erfassung und Präsentation wurde im ethnologischen und kolonialen Kontext verfolgt. Neben Fotografien wurden auch Gesichtsabformungen vorgenommen, und diese skulpturalen Objekte wurden wiederum als Fotografien für die anthropologische Forschung benutzt. Diesen Aspekt behandelt Gesine Krüger in ihrem Beitrag.

Mit diesen wenigen Beschreibungen wird das Anliegen dieser Textsammlung umrissen. Der Hefttitel „Andere sehen“ ist mehrdeutig: Wie die beiden angeführten Beispiele exemplarisch belegen und in den einzelnen Beiträgen ausgeführt wird, stehen sowohl Fremdbilder als auch Selbstbilder zur Debatte. Die Visualisierung von Menschen kann unterschiedliche Funktionen erfüllen: Das Objekt wird projektiv einer Vorstellung unterworfen und unter Umständen stereotypisierend zur Darstellung gebracht. Oder das Medium der Fotografie wird zur ikonografischen Selbststilisierung und Differenzmarkierung verwendet. „Andere sehen“ schließt sowohl den Akt des Fotografierens als auch den Akt der Rezeption der Bilder ein. Für Prozesse der erkenntnishaften, begrifflichen, vorurteilsbehafteten und ikonografischen Zurichtung des Nicht-Identischen wurde der Begriff des Othering etabliert.

Vorranging wird Othering in den postkolonialen Studien benutzt, um die Labeling-Macht einer dominanten, hegemonialen Gruppe zu bezeichnen. Nach philosophischen Überlegungen von Edward Said und Johannes Fabian prägte die Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak 1985 den Begriff, um den Prozess zu beschreiben, durch den ein Individuum oder eine Gruppe von einer anderen ausgeschlossen wird. Dieser Vorgang kann die gesellschaftliche Stellung, rassifizierende und genderspezifische Zuschreibungen umfassen, was späterhin als intersektional bezeichnet wird. Mitzudenken ist die Selbstaffirmation und die Selbstzuschreibung von Eigenschaften, die von anderen als nicht adäquat, nicht-normal, queer oder exzentrisch adressiert werden.

Othering ersetzt den Begriff und das Konzept Outsider/Außenseiter, das Anfang der 1960er-Jahre durch den Soziologen Howard S. Becker beschrieben wurde. Zu jener Zeit wurde die Kriminologie mit diesem Ansatz kritisiert, die jene Menschen als Außenseiter etikettierte, deren Handeln als nicht gesellschaftskonform beurteilt wurde. Othering hingegen beschreibt die historische und soziale Konstruktion von Differenz, von Markierung und von Identität. In diesem Prozess spielt die Fotografie eine herausragende Rolle: Das vorliegende Heft entfaltet exemplarisch Prozesse des fotografischen Othering anhand verschiedener Quellen aus der Zeit vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. In den Blick genommen werden dabei die Machtverhältnisse, die die Grundlage für die Marginalisierung, Rassifizierung, Hierarchisierung und Ausbeutung bilden (Beiträge von Stiegler und Krüger). Die Fotografie übernahm dabei die Funktion visueller Objektivierung: Bereits kurz nach ihrer Erfindung ging sie ein in wissenschaftliche Beschreibungs- und Kategorisierungszusammenhänge – u.a. in der Kriminologie, der Ethnografie und der Medizin.

Die Engführung des Othering im Kontext der kolonialen Visualisierungstechniken wird in anderen Beiträgen des vorliegenden Heftes erweitert. Praktiken des Umgangs mit ethnografischen Objekten in Avantgarde-Medien und der Avantgardekunst der 1920er-Jahre zeigen ein gewandeltes Bild vom Anderen. Museale ethnografische Sammlungen dienten als Inspiration für künstlerische Formprozesse, wie zum Beispiel die Fotocollage von Hannah Höch, die einen traditionellen japanischen Haarschmuck in ihr Porträt mit dem Titel „Deutsches Mädchen“ integrierte. Gesicherte Vorstellungen von Zivilisiertheit wurden durch visuelle Konfrontationen und Collagen unterminiert (siehe den Beitrag von Joseph Imorde).

Die Untersuchungen zeigen, wie Kontextualisierungen die Aussageinhalte der Fotografien beeinflussen. Fotografien einer Roma-Schule in einer journalistischen Reportage der Zwischenkriegszeit werden nach der Rolle und Funktionsweise projektiver Fremdbilder befragt (siehe dazu den Beitrag von Anton Holzer). Mit dem Anliegen, positive, integrativ wirkende Bilder herzustellen, operierte die volkskundliche/ethnografische Laienforschung am Beginn des 20. Jahrhunderts. Diese Bewegung im Randbezirk der Wissenschaften vom Menschen war bemüht, mit Roma-Fotografien eine Annäherung zwischen Stammbevölkerung und einer als fremd wahrgenommenen Ethnie zu bewirken (siehe den Beitrag von Susanne Regener). Die fotografische Aneignung ist daher nicht zwangsläufig auf Stereotypisierung oder Exotisierung ausgerichtet. Das Anliegen, das Anderssein in ein ikonografisches Statement des Stolzes zu verwandeln, wird (im Beitrag von Steffen Siegel) an einem bedeutenden Fotoband aus dem Jahr 1989 verdeutlicht. Die Fotokunst von Frauen aus der DDR war nicht in erster Linie feministisch motiviert, sondern sollte eine eigenständige ästhetische und gesellschaftskritische Haltung gegenüber westdeutschen Positionen darlegen. Ähnlich wie die Fotografien der exzentrischen Dichterin Edith Sitwell sind auch die Fotos der Magnum-Fotografin Susan Meiselas Produkte einer Identitätssuche. Ihr Fotoprojekt in einer portugiesischen Favela lässt den Protagonisten Raum für eine (männliche) Selbstaffirmation (siehe den Beitrag von Dorle Dracklé). In den Bildern wird neben der Ausgrenzung auch die Selbstermächtigung der Menschen zum Thema gemacht. Othering kann im Sinne einer agency etwas sichtbar machen, was nicht dominant und erwartet wird.

Der Titel„Andere sehen“ impliziert ein vielschichtiges Geschehen im Akt fotografischer Erfassung. Diverse Spielarten zwischen Diskriminierung und Differenzierung, Aneignung und Respektbezeugung können damit einhergehen. Othering umfasst mehr als Klage oder Anklage; der Begriff sensibilisiert für ein unausweichliches Problem: Das, was als anders, fremdartig, sonderbar, eigensinnig bestimmt wird, impliziert immer die Frage, welche Stellung der/die Wahrnehmende dazu einnimmt. Insofern können wir Othering mit dem Soziologen Sune Qvotrup Jensen als einen diskursiven Prozess verstehen. Es ist das Anliegen des vorliegenden Heftes, einige der Bausteine dieses Prozesses beispielhaft zu analysieren und sichtbar zu machen.

Hervorgegangen sind die Beiträge aus dem internationalen Symposium „Othering in der Fotografie“, das ich im Juli 2023 zu meinem Abschied an der Universität Siegen veranstaltet habe.

 

Literatur:

Howard S. Becker: Outsiders. Studies in the sociology of deviance, New York 1963.

Johannes Fabian: Time and the Other: How Anthropology Makes Its Object, New York 1983.

Sune Qvotrup Jensen: Othering, identity formation and agency, in: Qualitative Studies, 2 (2), 2011, S. 63–78.

Edward Said: Orientalism, London 1995 [Original 1978].

Gayatri Chakravorty Spivak: The Rani of Sirmur: An essay in reading the archives, in: History and Theory, 24 (3), 1985, S. 247–272.

 

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