Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Carolin Görgen

Fotografie als Zusammenarbeit

Anstöße für eine andere Fotografiegeschichte

Ariella Aïsha Azoulay, Wendy Ewald, Susan Meiselas, Leigh Raiford, Laura Wexler (Hg.): Collaboration: A Potential History of Photography, London: Thames & Hudson, 2023, 288 S., 724 farbige Abb., gebunden, 85 US-Dollar.

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 174, 2024

 

Dieser reich bebilderte Band, herausgegeben von drei Fotohistorikerinnen und zwei Fotografinnen, beginnt mit einer überraschenden Feststellung – mit dem „was offensichtlich scheint: dass Menschen miteinander zusammenarbeiten, insbesondere durch ein Medium, das registriert, wie wir die Welt wahrnehmen“. In der Fotogeschichte Europas und Nordamerikas scheint diese Beobachtung weit weniger offensichtlich, bildeten doch jahrzehntelang (zumeist männliche) Einzelfotografen den Schwerpunkt von Forschung und musealem Raum. Der Band Collaboration: A Potential History of Photography macht unmissverständlich klar, dass Fotografie und Kollaboration eng miteinander verbunden sind. In mehr als 100 Beiträgen führen verschiedene AutorInnen durch die Geschichte der fotografischen Zusammenarbeit – gewollt, ungewollt, übersehen, verweigert – vom 19. Jahrhundert bis heute, und erweitern somit radikal unsere Definitionen von „Kollaboration“ und fotografischer Autorschaft aus einer globalen Perspektive.

Der Band – das Resultat einer zehnjährigen, kollektiven Arbeit – ist Teil einer blühenden Forschung, die MacherInnen, Praxis, Archive, Umwelt und das Nachleben von Fotografien miteinander verbindet. Die Fotogeschichte, die innerhalb der letzten fünf Jahre vielfach neu erzählt und erforscht wurde, hat das Feld des Fotografischen erweitert und damit Raum geschaffen für viele bisher kaum beachtete AkteurInnen, die am „fotografischen Ereignis“ (wie es die Autorinnen nennen) beteiligt sind. Untersucht wurden etwa die Wechselwirkungen des Mediums mit dem Kapitalismus und seinen imperialen Machtstrukturen, die Praxis „hinter dem Bild“, aber auch die vielen menschlichen Tätigkeiten und nicht-menschlichen Elemente, die im fotografischen Objekt aufscheinen.[1]

In der Fotoforschung der letzten fünf Jahre hat es eine deutliche Abkehr vom Blick auf individuelle FotografInnen gegeben, parallel dazu wurde auch der kollektiven Dimension des Fotografischen neue Aufmerksamkeit zuteil, wie erst kürzlich in dieser Zeitschrift ausgeführt wurde.[2] Im Buchprojekt Collaboration wird das „Potenzial“ solcher kollektiven Geschichten erforscht und in unterschiedliche Richtungen ausbuchstabiert. Die Autorinnen verstehen das Konzept der fotografischen Zusammenarbeit als produktive, kritische Anregung, um das Verständnis von Fotografie zu erweitern. Ein derartig plurales Konzept der Fotografie umfasst ein breites Spektrum von Handlungen und Beziehungen, von Zustimmung und Gewalt, von Kampf und Souveränität. Diese Auffächerung der Blickwinkel trägt wesentlich dazu bei, das „lange Leben von Fotografien“ angemessener zu rekonstruieren.

Die Autorinnen laden die LeserInnen in acht thematischen Abschnitten („clusters“) dazu ein, sich mit einer Vielzahl von Quellenmaterialien zu beschäftigen, darunter Bilder, Zeugenaussagen, Archivmaterial und Kommentare, die Momente der Zusammenarbeit thematisieren. Die Erkundung kollaborativer Momente reicht von der „klassischen“ Beziehung zwischen FotografIn und fotografierter Person und der Frage der Autorschaft, über das Nachdenken über ikonische Fotografien als Ergebnis von Zusammenarbeit, bis hin zum Potenzial der Fotografie, Gewalt und Machtstrukturen zu verfestigen, die jedoch durch kollektives Engagement aufgebrochen werden können. Auf diese Weise werden verschiedene Blickwinkel erprobt und durchgespielt. Der Band beinhaltet außerdem ein Glossar, in dem das Vokabular der fotografischen Zusammenarbeit dargestellt ist und das dazu anregt, die Praxis der Fotografie auch sprachlich neu zu überdenken.

Die einzelnen Abschnitte des Buches zeigen neue Möglichkeiten auf, einige der „klassischen“ Paradigmen der Fotogeschichte aufzubrechen. Unter anderem tauchen bisher ungehörte Stimmen auf, die neu und überraschend über die Fotografie berichten, wie beispielweise die der Gräfin de Castiglione, deren Gesicht und Körper in der frühen Fotokultur des französischen Second Empire endlos inszeniert, reinszeniert und reproduziert wurden. In der neuen Sichtweise entpuppt sich die Gräfin selbst als eifrige Nutzerin der Fotografie, insbesondere um ihre Unabhängigkeit als alleinerziehende Mutter zu sichern. Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen: In Bieke Depoorters Serie Egyptian Citizens kehrt die belgische Fotografin fünf Jahre nach dem Beginn des arabischen Frühlings nach Ägypten zurück und bittet ihre damaligen Modelle – sowie völlig Fremde – um Kommentare zu den Porträts, die 2011 aufgenommen wurden. Es entsteht nicht nur eine große Vielfalt von Stimmen, die den Fotos neue Bedeutungen verleihen und damit die Beziehung zum Anderen („Other“) in Frage stellen, sondern auch ein neues Zeitgefühl, das die Porträts innerhalb einer langen Geschichte verortet, die bis in die Gegenwart reicht.

Auch Institutionen – trotz ihrer maßgeblichen Präsenz in der Geschichte der Fotografie – bekommen durch das Motiv der Zusammenarbeit eine neue Wirkungsmacht. Auf den ersten Blick rücken natürlich institutionelle Beziehungen in den Blick, die von Zwang und Kontrolle geprägt sind, wie diese etwa die Fahndungsfotos afroamerikanischer Freedom Riders oder die pseudomedizinische Dokumentation der „Hysterie“ bei Frauen im 19. Jahrhundert zeigen. Institutionen werden unter dem Blickwinkel der Kollaboration in imperiale Regimes eingebettet, ebenso werden ihre dokumentarischen Prioritäten hinterfragt. Es ist dies ein Aspekt, den beispielsweise Ariella Azoulay in ihrer Auseinandersetzung mit Daguerreotypien versklavter Personen aufgreift, deren Nachkommen die Rückgabe der Bilder fordern. Auf diese Weise wird ein großer Bogen institutioneller Machtstrukturen aufgespannt, der zugleich ein Bogen der fotografischen Verwendungsweisen, Nutzungen und Überlieferungen ist. Der Band bietet auch Raum für eine neue Ethik des Sammelns und Archivierens, die, so die Autorinnen, viel stärker als bisher von kollektiven Praktiken und weniger von Hierarchien geprägt sein sollte. Ein Beispiel dafür ist etwa das Archiv, das die Mitherausgeberin Susan Meiselas mit Personen aus der kurdischen Diaspora gestaltete, die keine Heimat und kein eigenes Archiv haben; oder das digitale Archiv der Innu-Nation in Kanada, in dem Mitglieder ihre Bilder kommentieren, beschriften und für sich beanspruchen können und so die jahrhundertelange koloniale Nomenklatur ablegen. Solche innovativen Netzwerke erweisen sich als besonders wertvoll für vom Krieg gezeichnete Gemeinschaften, deren Bilder oft verloren gehen, wie die Beispiele der Ukraine und Palästinas anschaulich zeigen.

Letztlich erhält auch die Kamera ihren Platz als kollaborativer Apparat. Die Polaroid-Kamera wurde von den Apartheid-Behörden in Südafrika benutzt, um Sofortbilder für die Pässe schwarzer Südafrikaner zu machen, wodurch sie zu einem Werkzeug des rassistischen Systems wurde. Andererseits schaffte es eine kritische Gruppe in den USA, nämlich das „Polaroid Revolutionary Workers Movement“, Druck auf das Unternehmen auszuüben, damit es sich aus Südafrika zurückzieht. So fanden die Bilder der Sofortkameras letztlich auch ihren Weg in die Literatur des panafrikanischen Freiheitskampfes in den USA. Es scheint allerdings zuweilen, als seien die Autorinnen mit der neuen Konzeptualisierung des Begriffs des Kollektivs derart stark beschäftigt, dass sie die kollektive Praxis selbst vernachlässigen. Da der Band Lesende dazu auffordert, neue Beispiele der Zusammenarbeit aufzuzeigen, denke ich hier vor allem an die vielen Foto-Clubs und fotografischen Gesellschaften, die sich ab 1900 bildeten. Spätere Gruppen wie der 1963 gegründete Kamoinge Workshop (ein Kollektiv afroamerikanischer FotografInnen) werden zwar erwähnt, jedoch kommen die Autorinnen erstaunlich wenig auf den kollektiven Wert solcher Gruppierungen zu sprechen. Die aufmerksame Betrachtung dieser kollektiven fotografischen Praktiken wäre eine wertvolle Ergänzung zum Überdenken der Konzepte von Autorschaft und Gemeinschaft. Die zahlreichen japanisch-amerikanischen Kameraclubs an der Westküste der Vereinigten Staaten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind beispielsweise lange Zeit unbeachtet geblieben.[3] Und doch bieten sie, bei genauerer Analyse, einen wichtigen Einblick in „communities of practice“, um den Begriff von Etienne Wenger zu verwenden.[4]

Der besprochene Band zeigt, dass kollektive Geschichten das Potenzial haben, einige klassische Paradigmen und Narrative der Fotogeschichte aufzubrechen und zu hinterfragen. Dieser Band bietet zudem Anregungen dafür, die (bislang zu wenig beachteten) kollaborativen Dynamiken der Fotografie weiter zu erforschen, er gibt aber auch Impulse, die Gespräche und Debatten über die kollektiven Dimensionen des Fotografischen in Museen, Archiven und Sammlungen, ebenso wie in Universitäten und in der Forschung weiterzuführen. 

 

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1] Siehe Kevin Coleman, Daniel James (Hg.): Capitalism and the Camera. Essays on Photography and Extraction. New York: Verso 2021; Ariella Aïsha Azoulay: Potential History. Unlearning Imperialism, New York: Verso 2021; Siobhan Angus: Camera Geologica. An Elemental History of Photography, Durham: Duke University Press 2024; siehe auch Marie-Eve Bouillon, Laureline Meizel (Hg.): Derrière l’image, Photographica, Heft 4 (2022).

[2] Siehe Paul Mellenthin (Hg.): Kritik der Autorschaft: Fotografie als kollektives Unternehmen, Fotogeschichte, Heft 168, 2023.

[3] David F. Martin, Nicolette Bromberg: Shadows of a Fleeting World. Pictorial Photography and the Seattle Camera Club. Seattle: University of Washington Press, 2011; Dennis Reed, Making Waves: Japanese American Photography, 1920–1940, Los Angeles: Japanese American National Museum, 2016. 

[4] Siehe Etienne Wenger: Communities of Practice: Learning, Meaning and Identity. Cambridge: Cambridge University Press 1998.

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