Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Julia Secklehner

Lucia Moholy neu gedacht

Jordan Troeller (Hg.): Lucia Moholy: Exposures, mit Beiträgen von Oliver A. I. Botar, Annie Bourneuf, Hana Buddeus, Özge Baykan Calafato, Meghan Forbes, Christelle Havranek, Michelle Henning, Rolf Sachsse, Robin Schuldenfrei, Steffen Siegel, Jan Tichy und Jordan Troeller, Berlin: Hatje Cantz, 2024, 29 x 22 cm, 300 S., zahlreiche Abb. in Farbe und S/W, gebunden, 48 Euro.

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 174, 2024

 

Lucia Mohly (1894–1989) ist wahrscheinlich die bekannteste Fotografin, deren Beiträge zur Geschichte der Fotografie von den Männern, mit denen sie zusammenarbeitete, bewusst übergangen wurde. Ihre Fotografien vom Dessauer Bauhaus, seiner Architektur und seinen Objekten, wurden ihr lange Zeit nicht zugeschrieben, ebenso wenig wie die Zusammenarbeit mit ihrem Ehemann Lászlo Moholy-Nagy, zu dessen Fotoexperimenten sie einen wichtigen Beitrag leistete. Die Ausstellung „Lucia Moholy: Exposures“, die 2024 in der Kunsthalle Prag zu sehen war und 2025 in Winterthur (Fotostiftung Schweiz) gezeigt wird, macht mit ihrer begleitenden Publikation, die hier rezensiert wird, nicht nur auf dieses Unrecht aufmerksam, sondern auch darauf, dass Moholys Beiträge zur Geschichte der Fotografie weit über ihre berühmten Bauhaus-Porträt- und Architekturaufnahmen hinausgehen. Von Gesellschaftsporträts über Reisereportagen bis hin zum Einsatz neuer Medientechnologien in Form des Mikrofilms war Moholy in ihrer Karriere von den 1920er bis in die 1980er Jahre eine vielseitige Fotografin, Fotohistorikerin und Dokumentaristin, die unter anderem in Deutschland, Großbritannien und der Schweiz tätig war. Der Katalog Lucia Moholy: Exposures bringt diese Facetten ihres Werks zum Vorschein. Mit einer Reihe von kürzeren und längeren persönlichen und wissenschaftlich-analytischen Beiträgen wird Moholys Werk aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet.

Besonders bemerkenswert ist die Auseinandersetzung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten, die feministische Ansätze in den Mittelpunkt stellt. Einerseits nehmen die meisten Aufsätze – mit Ausnahme eines Kapitels über Moholys Prager Herkunft – einen bewusst distanzierten Blick auf private Details ein und beschränken solche Einblicke auf jenes Maß, das wesentliche Hintergrundinformationen für die Analyse ihres Werks liefert. Damit wendet sich die Publikation bewusst von einer Überbetonung von Moholys Biografie ab und vermeidet so die oft unkritisch angewendete Verflechtung von Biografie und Werk, die insbesondere dann Anwendung findet, wenn es um das Schaffen von Frauen geht. In der vorliegenden Publikation wird vielmehr das Gegenteil angestrebt: Unter Umkehrung der Tatsache, dass Moholys Geschlecht eine wesentliche Rolle zu ihrer späten Anerkennung in der Fotografiegeschichte beitrug, behandelt die Publikation sie als eine hochtalentierte und ehrgeizige Fachfrau, die ihre Praxis mit einem scharfen Bewusstsein für zeitgenössische Entwicklungen immer wieder neu erfand. Einschließlich der Art und Weise, wie sich Moholy in späteren Jahren präsentierte, ihres Engagements in der deutschen Jugendbewegung in den frühen 1920er Jahren, und ihrer Zusammenarbeit mit dem Isotype Institute von Otto und Marie Neurath im englischen Exil, wird Moholys Rolle als treibende Kraft in der Entwicklung der modernen Fotografie beleuchtet. Dabei wird deutlich, dass ihr eigenes Handeln und nicht persönliche Umstände (wie die Beziehung zu einem Bauhausmeister) den Ursprung ihres Schaffens bildeten.  

In den kürzeren Aufsätzen im Buch, wie zum Beispiel jenen zu Moholys Reise nach Jugoslawien im Jahr 1932 und einer Serie von Aktfotografien aus den 1920er Jahren, kommt hingegen das zum Tragen, was man als „affektive Wissenschaft“ bezeichnen könnte. Durch die Einbeziehung der persönlichen Reflexion über die Forschung und die Gedankengänge bei der Begegnung mit dem Werk und den Tagebüchern Moholys bringen diese Beiträge persönliche Aspekte aus Sicht der Forschenden in der Begegnung mit Moholy ans Licht. Besonders lesenswert wird die damit einhergehende visuelle Analyse dabei durch die Verwendung eines kreativen und poetisch-bedachten Sprachgebrauchs. Im Zusammenspiel mit formelleren und längeren Beiträgen entstehen somit neue Wege des Schreibens über Fotografie, die persönlicher als bisherige Beiträge sind, ohne dabei ihre wissenschaftliche Ernsthaftigkeit zu verlieren. So werden nicht nur die umfangreichen Recherchen unterstrichen, die in ein solches Projekt einfließen, sondern es wird auch der kreative Prozess beim Zusammentragen, Auswählen und Arrangieren von Materialien und Erkenntnissen zur Präsentation von Moholys Œuvre hervorgehoben. In diesem Zusammenhang verdient auch die Gestaltung des Buches Erwähnung: Es zeigt eine große Anzahl von Moholys Werken, ohne dabei erdrückend zu wirken, und es präsentiert diese durchwegs in ganz- und halbseitiger Größe zwischen den Beiträgen. Ein zusätzlicher Vorteil dieser Entscheidung besteht darin, dass ganze Seiten von Moholys eigenen Artikeln vollständig lesbar sind, wodurch ihre eigene Stimme Eingang in das Werk findet.

Was sagt uns, von diesen durchaus anregenden Ansätzen abgesehen, die Publikation Lucia Moholy: Exposures tatsächlich über die Fotografin Moholy? Die Liste der diesbezüglichen Essays in dem Werk ist umfassend und reicht von kurzen Einführungen zu Moholys Arbeit am Bauhaus, in denen betont wird, wie entscheidend die angewendeten Techniken der Neuen Sachlichkeit für die Verbreitung des Bauhauses in den Vereinigten Staaten nach 1933 waren, bis hin zu weniger bekannten Kapiteln in Moholys Karriere, wie etwa ihrer Arbeit als wissenschaftliche Expertin der UNESCO. Ein immer wiederkehrendes Problem ist, dass ihr viele Fotografien nur vermutlich zugeschrieben werden können, bzw., dass viele nur schwer genau zu datieren sind. Mit der Betonung dieser Umstände wird der Einblick in Moholys Beiträge zur Fotografiegeschichte gleichzeitig erweitert und destabilisiert: Sie eröffnen Interpretationsspielraum über das Wirken der Fotografin und ihrer Beteiligung an mehreren öffentlichkeitswirksamen Projekten, bei denen im Einklang mit zeitgenössischen Forschungsschwerpunkten eher ihre Position als Expertin als die der kreativ Schaffenden in den Mittelpunkt rückt.

Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang Moholys Tätigkeiten als Dokumentationsfachfrau ab den 1940er Jahren. Die diesbezüglichen Beiträge unterstreichen, wie neue Interpretationsmöglichkeiten für das Werk der Künstlerin geschaffen werden können: Während ein Beitrag das Bewusstsein der Fotografin für die Problematik der Privatisierung wissenschaftlicher Informationen hervorhebt, stellt ein anderer Moholys unveröffentlichte „Notes from Turkey“ in den Kontext der von Mustafa Kemal Atatürk eingeleiteten Modernisierungsprozesse in der Türkei. Ein Aspekt, der in der Ausstellung eine wichtige Rolle spielt, in der Publikation jedoch etwas deplatziert scheint, ist die Verbindung zwischen Moholys Werk und dem von Jan Tichy, einem in der Tschechoslowakei geborenen, zeitgenössischen Künstler und Professor an der Chicago School of Art. Während in der Ausstellung seine Installationen einen Dialog mit Moholys Werk unterstreichen, sind diese Verbindungen für die LeserInnen des Buches schwer zu erfassen, vor allem, wenn sie nicht mit der Ausstellung vertraut sind. Ein besonders aufschlussreicher Beitrag ist dagegen Rolf Sachsses Gespräch mit Moholy, das er 1985 in Vorbereitung auf ihre erste Monografie führte. Platziert am Ende des Buches, gibt es einen persönlichen Einblick aus der Perspektive der Künstlerin. Dies bringt uns zurück zum bemerkenswerten Ansatz der Publikation im breiteren Sinn, in der so viele AutorInnen ihre persönlichen Überlegungen über die „Entdeckung“ der Fotografin in den Archiven offenbaren und ihre persönlichen Ansichten zu Moholy und ihrem Werk in die Beiträge einbinden. Dies verleiht der Publikation eine bemerkenswerte persönliche Note. Gleichzeitig stellt sich aber auch die Frage, ob dieser Ansatz nicht auch eine geschlechtsspezifische Komponente hat: Würde jemand über einen männlichen Fotografen auf dieselbe Art und Weise schreiben? Dies mag eine unfaire Frage sein. Letztlich zeigt die sensible Art und Weise, in der sich der Band Lucia Moholy: Exposures Moholys Karriere auf so umfassende Weise nähert, dass es sich lohnt, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie man heute über Fotografinnen schreibt, und dass dies dazu genutzt werden kann, die etablierte Praxis, Frauen einfach in etablierte Geschichten hineinzuschreiben, in Frage zu stellen. Lucia Moholy: Exposures zielt darauf ab, das vielfältige Werk der Fotografin als Ausgangspunkt zu nehmen und ihre experimentellen und ambitionierten Ansätze in der Publikation zu präsentieren. Allein dieser Aspekt macht das Buch zu einer wertvollen, informativen und unterhaltsamen Quelle, die zeigt, was zu gewinnen ist, wenn verborgene Aspekte der Fotografiegeschichte ans Tageslicht treten.

 

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