Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Miriam Zlobinski

Henri Cartier-Bresson politisch

Ein Klassiker im Kontext

Kathrin Baumstark/ Ulrich Pohlmann: Watch! Watch! Watch! Henri Cartier-Bresson, mit Beiträgen von Nadya Bair, Kathrin Baumstark, Clément Chéroux, Ulrich Pohlmann, Valérie Vignaux, Deborah Willis, München: Hirmer Verlag, 2024, 288 Seiten, 22,5 x 28 cm, 245 Abbildungen in Farbe und S/W, gebunden,39,90 Euro.

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 174, 2024

 

Zwei Männer schultern eine Dame auf einem belebten Platz, ihre Blicke kann der Fotograf nicht auf sich konzentrieren, ihre volle Aufmerksamkeit gilt anderen Vorgängen. Die undurchdringlichen Brillengläser der Dame und der kritische Blick eines ihrer Träger lassen die eigenen Blicke auf dem Bild verweilen. Die schwarz-weiß-Aufnahme mag amüsieren, wirkt beiläufig wie aussagekräftig und passt zum Titel der jüngst im Münchner Hirmer Verlag erschienenen Publikation über einen der wohl international berühmtesten Fotografen Henri Cartier-Bresson (1908– 2004). „Watch! Watch! Watch!“, ein Zitat des Fotografen,[1] dient als Titel der Ausstellung im Bucerius Kunstforum in Hamburg sowie der begleitenden Publikation und zugleich als einprägsame Aufforderung, genau hinzusehen. Die vorliegende Publikation wurde von Kathrin Baumstark, der Direktorin des Bucerius Kunst Forum, und Ulrich Pohlmann, dem ehemaligen Leiter der Sammlung Fotografie im Münchner Stadtmuseum, herausgegeben. Der Katalog mit über 240 Schwarz-Weiß Abbildungen zeigt, gegliedert in zwölf Kapitel, Fotografien aus den Dreißiger- bis Achtzigerjahren und begleitet anhand von Texten einschlägiger Expert*innen das fotografische Leben von Cartier-Bresson.

Die Aufforderung „Watch! Watch! Watch!“ lässt sich in zwei Richtungen lesen. Bereits in der Einleitung nimmt sich Ulrich Pohlmann selbst in die Pflicht und stellt die Frage, welchen Beitrag die Publikation „über das Auge des Jahrhunderts“ noch an neuen Erkenntnissen leisten kann. Ebenso wendet sich das „Watch!” an ein breites Publikum, das die Möglichkeit erhält, sich mit dem vielseitigen Spektrum an Motiven und Motivationen auseinanderzusetzen, welches Cartier-Bresson in seinem Werksschaffen abdeckt. Damit ist zugleich die Herausforderung für eine Ausstellungspublikation formuliert, Fach- wie Breitenpublikum anzusprechen.

Wenn man nicht am Anfang des Buches startet, sondern am Ende, spiegelt sich das enorm breite Spektrum der Rezeption des Fotografen allein schon in der umfangreichen Auswahlbibliografie wider. In den letzten Jahren ist eine Vielzahl an Aufsätzen, Katalogen und Monografien über das Werk von Henri Cartier-Bresson erschienen. Pohlmann bezieht sich im Vorwort vor allem auf die Untersuchungen von Clement Cheroux, Michel Frizot, Peter Galassi, Anne de Mondenard und Agnes Sire mit einem Fokus auf das kulturgeschichtliche Profil des Fotografen. Ausgehend von dieser Bandbreite der Beschäftigung mit dem Leben und Werk Cartier-Bressons argumentiert Pohlmann, dass sich kein einheitlicher Stil durch das Leben von Cartier-Bresson zieht, „sondern mehrere, die der Fotograf in den unterschiedlichen Phasen seiner Karriere entwickelte, ebenso wie sich seine politischen Überzeugungen im Laufe der Zeit veränderten”. Die biografische Einleitung geht genauer auf die Zeitumstände ein ebenso wie auf die fotografischen Einflüsse ein. Zu Beginn der Dreißigerjahre hatte sich der künstlerisch interessierte Sohn aus der Fabrikantenfamilie Cartier-Bresson eine Leica-Kleinbildkamera zugelegt. Seine Arbeiten werden mit Blick auf den Surrealismus und seine Rolle bei der Gründung der Fotoagentur Magnum als hinlänglich bekannte biografische Pfeiler begleitet. Ein zentrales Anliegen des vorliegenden Buchs und der Ausstellung ist es, den Wandel im gesellschaftlichen, künstlerischen und publizistischen Kontext exemplarisch sichtbar zu machen.

Ulrich Pohlmanns Einführung (und seine kurzen Kapiteleinleitungen) bilden im Ausstellungskatalog den roten Faden durch die unterschiedlichen Abschnitte des Werks und der Lebensstationen. Die Retrospektive betont Cartier-Bressons linke Vergangenheit für das Verständnis seiner Arbeit und ergänzt damit konkretisierend die populären Darstellungen, die den Fotografen vor allem unter dem Begriff der „humanistischen Fotografie“ beschrieben. Damit legt die Ausstellung grundlegend nahe, dass sich Cartier-Bressons Autorenschaft nicht nur im überlieferten Motiv, sondern auch in seinen persönlichen Auffassungen und mit seinem individuellen, politischen Engagement begründen lässt.

Das umfangreiche und vielseitige Schaffen eines der einflussreichsten Fotografen weltweit erscheint, so eine der Thesen des Katalogs, in öffentlichen Kontexten. Wie sich das politische und gesellschaftliche Engagement Cartier-Bressons verändert hat, wird an unterschiedlichen Beispielen durchgespielt: der Phase des Surrealismus etwa, dem politischen Engagement im Zuge des Antikolonialismus, dem Abenteuer des Kinos und den Reportagen für die kommunistische Presse. Thematisiert werden auch die dunklen Schatten des Krieges, die Karriere als Fotojournalist, ebenso wie die Farbfotografie als berufliche Notwendigkeit und als Epilog ‚Das Verlangen zu Sehen‘. Vertieft werden die gesetzten Themen mit Texten von Kathrin Baumstark über die Porträts von Cartier-Bresson, welcher dafür als „aufgeregte Libelle“ oder „stiller Beobachter“ agierte.  Auf der Straße wurde er dabei beobachtet, wie er mit mehreren Kameras um den Hals baumelnd umhertänzelte. Bei Begegnungen im Privaten bemühte sich Bresson hingegen, die zu porträtierende Person möglichst unauffällig, wie auf Samtpfoten, zu beobachten. Clément Chéroux, Direktor der Fondation Henri Cartier-Bresson und Valérie Vignaux, Professorin an der Université de Caen Normandie, mit ihrem Interessensschwerpunkt Kino, widmen sich den Kriegserfahrungen des Fotografen und seinem Film „Le Retour“ (1945). Cartier-Bresson pflegte enge Verbindung mit der Kommunistischen Partei und arbeitete an einem Dokumentarfilm über seine Gefangenenerfahrung. Die französische Regierung versuchte die zwischen Résistance und Kollaboration gespaltene Bevölkerung der Nachkriegszeit zu einen. Vignaux betont, dass der Film keine Parteienstellung einnimmt und sich auf diese Weise „ganz in diese politische Rhetorik ein(schreibt)“. Die Kunsthistorikerin Nadya Baier, die über das Netzwerk der Fotoagentur Magnum promovierte,[2] bettet Cartier-Bresson mit einer Kurzfassung ihres bereits 2016 veröffentlichten Artikels in das fotografische Netzwerk seiner Zeit ein.[3]

Anhand der beiden berühmten Buchproduktionen Cartier-Bressons, „The Decisive Moment“ und „Images à la sauvette“, demonstriert sie, wie essenziell die Zusammenarbeit mit dem gesamten „Magnum“-Team für den Fotografen war. Diese war, so die Autorin, letztlich der Schlüssel für die Entwicklung und Präsenz Cartier-Bressons als reisender Fotograf sowie als einflussreicher Buchautor. Die Fotohistorikerin Deborah Willis blickt in ihrem Text „America in passing“ auf das Schwarze und das Weiße Amerika und schafft mit ihrer assoziativen, emotionalen Tonalität eine wertvolle Erweiterung in der historischen Betrachtung des Protagonisten. Für Willis fühlt sich die Verbindung zu Cartier-Bresson „persönlich“ an, „so vertraut ist mir seine Art zu sehen und wohin er schaute“. In seinen Fotografien thematisiert er sowohl einen Alltag voller Ungerechtigkeit ebenso wie Menschenrechtsbewegungen in den USA.  In seinen Bildern manifestiert sich jedoch für Willis stets ein Blick auf die Schönheit und den Stolz der Schwarzen Bevölkerung. Sie beschreibt, dass ihm bereits im Jahr 1947 sein Ruf als Fotograf vorauseilte. Schwarze Models einer bekannten Agentur liefen nicht nur zur Ostersonntagsparade auf der Seventh Avenue, sondern hielten sich dort im öffentlichen Raum auf, in der Annahme, „dass ein berühmter Fotograf sie dokumentierte“.

Die Fotografien werden im vorliegenden Katalog im publizistischen Gebrauchskontext verortet, in den Abbildungstableaus ergänzen sich einzelne Fotos mit gedruckten Zeitungs- und Magazinlayouts aus internationalen Zeitschriften. Die Fotografien sind in einer separaten Werkliste im Anhang zusammengetragen. In dieser Zusammenstellung fällt der in Ausstellungen und Publikationen beliebt gewordene Blick auf Kontaktbögen weg. Die Zeitungslayouts erscheinen ganzseitig oder auf Doppelseiten und ermöglichen einen direkten Vergleich zwischen der Präsentation vorheriger Entscheidungen in der Zeitschrift und der jetzt getroffenen Auswahl und Anordnung im Katalog. Der Vorliebe Cartier-Bressons für Schwarz-Weiß folgend, werden die Farbfotografien in den Texten thematisiert jedoch nicht mit in die Bildbeispiele in die Publikation aufgenommen.

Der Blickwinkel dieses Katalogs ist keine komplett neue Erzählung der Figur Cartier-Bresson, dies kann, vor dem Hintergrund der vielen Vorarbeiten, schwerlich erwartet werden. Vielmehr handelt es sich bei der Publikation um einen hervorragend ziselierten Zuschnitt. Selbst eine Retrospektive muss sich mit guten Argumenten der Forderung nach Vollständigkeit entziehen, dies geschieht in diesem Fall durch die Betonung auf die politische Einbettung, das Netzwerk und die Ebene der Rezeption. Wenn überhaupt, so sei der Wunsch formuliert, hinter wuchtigen Überschriften wie “Rituale der Macht” mehr zu finden als einen einseitigen Teaser für den Bildteil. Henri Cartier-Bresson erklärte, als er die Fotografie längst aufgegeben hatte und gefragt wurde, wie er seine Tage verbringe, mit dem simpel anmutenden Satz: „Ich schaue“. Sich Zeit nehmen zum Sehen, dem Blick folgen – (neu-)modern ausgedrückt: Achtsamkeit für den Augenblick entwickeln. „Watch! Watch! Watch!“ schafft eine kontemporäre Erzählung der prägenden Figur Henri Cartier-Bresson unter Einbeziehung politischer und bildnerischer Aspekte, für die es sich lohnt, Zeit zu nehmen.

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[1] Das Zitat „I watch, watch, watch“ stammt aus Henri Cartier-Bressons Reportage über Kuba: An Island of Pleasure Gone Adrift, Life, 15. März 1963, S. 42.

[2] Nadya Bair: The Decisive Network. Magnum Photos and the Postwar Image Market, Oakland, CA, 2020.

[3] Nadya Bair: The Decisive Network: Producing Henri Cartier-Bresson at Mid-Century, in: History of Photography, Vol. 40, 2016, S. 146–166.

 

 

 

 

 

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