
Bernd Stiegler
Fotografische Kolonialpolitik
Jeff Rosen liest Julia Margaret Cameron
Jeff Rosen: Julia Margaret Cameron. The Colonial Shadows of Victorian Photography. London: Paul Mellon Centre for Studies in British Art, 2024, 292 S., 22 x 27 cm, zahlreiche Abb. in Farbe und S/W, £ 45,00.
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 175, 2025
Jeff Rosen, der bereits 2016 mit Julia Margaret Cameron's 'fancy subjects': Photographic allegories of Victorian identity and empire eine subtile Lektüre einer besonderen Werkgruppe von Julia Margaret Cameron vorgelegt hat, unternimmt in seinem neuen Buch The Colonial Shadows of Victorian Photography ein ebenso überraschendes wie erhellendes close reading einer Handvoll Bilder, die auf höchst subtile Art und Weise auf politische Ereignisse im imperial-kolonialen Kontext reagieren. Der Kolonialismus war mitsamt den weltanschaulichen Grundüberzeugungen einer Herrschaftspolitik des Empire Julia Margaret Cameron nachgerade in die Wiege gelegt und bestimmte ihr gesellschaftliches Leben, wurde sie doch in Kalkutta als Tochter eines leitenden Angestellten der „East India Company“ geboren, die seinerzeit die ökonomische Ausbeutung Indiens organisierte. Da Camerons Mann Charles Hay Cameron zudem ein hohes Mitglied des „Supreme Council of India“ war, dürfte der politische Alltag der indischen Kolonie auch jener der Familie Cameron gewesen sein. Diese besaß zudem eine Plantage auf Ceylon, dem heutigen Sri Lanka, die auch dem Anwesen auf der Isle of Wight ihren Namen gab. Nach Sri Lanka, genauer nach Kalutara an der Westküste der Insel, kehrte die Familie auch 1875 zurück. Heute kann man dort eine Führung auf den „Spuren von Julia Margaret Cameron“ buchen.
In Kalutara entstanden bis zu ihrem Tod noch gut zwei Dutzend Aufnahmen von Einheimischen, die zwar nicht auf eine rassisch motivierte Darstellung von Fremdheit zielen, wohl aber unübersehbar von einem kolonialen Blick zeugen. Quantitativ wie qualitativ kann diese Werkgruppe allerdings auch nicht mit der Fülle an Aufnahmen konkurrieren, die an den verschiedenen Wohnorten der Camerons in England entstanden sind. Es ist ein alles in allem unbedeutendes Spätwerk, das keinen neuen Blick auf Sri Lanka eröffnet, aber auch nicht durch einen imperial-kolonialen Blick schockiert. Für diese Fotografien interessiert sich Rosen allerdings nicht und erwähnt sie auch nicht weiter. Ihm geht es um deutlich früher entstandene Aufnahmen, die prima facie keinen Bezug zum tagespolitischen Geschehen und zum Kolonialismus aufweisen. Daher wurden sie bisher allenfalls am Rande in einem kolonialen Kontext gelesen. Anders als bei den späten Aufnahmen auf Sri Lanka geht es nun allerdings um handgreifliche politische Konflikte und gewaltsame Auseinandersetzungen.
Alles beginnt mit einem zwar anrührenden, aber vermeintlich politisch unschuldigen Bild, das jedoch ein weiteres zeigt. Im Hintergrund einer Post Mortem-Aufnahme von Camerons Großnichte Adeline Grace Clogstoun, die durch einen Unfall zu Tode gekommen war, hängt nämlich, wie Rosen herausfand, eine Darstellung des Kampfes zwischen Indern und Briten, genauer eine photographische Kopie eines Aquarells von Orlando Norie, unter dem sie im Abzug handschriftlich vermerkt hat: „Her father’s charge at Madras / for which he won the / Victoria Cross”. Bei dem Bild im Hintergrund handelt es sich um eine im viktorianischen England durchaus verbreitete Darstellung mit dem Titel: „Capt Herbert M Clogstoun, 19th Madras Native Infantry winning the Victoria Cross when he Charged with Eight Men on the 2nd Hyderabad Cavalry against Rebels at Chichunbah, 15 January 1859“. Clogstoun verlor bei dieser Auseinandersetzung sieben der acht Männer seiner Abteilung und starb drei Jahre später in Indien. Konkret ging es um einen Kampf im Zuge des sogenannten „Indischen Aufstands“ [„Indian Mutinity“], der zwei Jahre vorher begonnen hatte und bei dem sich indische Soldaten gegen ihre britischen Befehlshaber auflehnten. Ein für England traumatisches Ereignis war dabei das sogenannte Massaker von Kanpur, bei dem nach einer Belagerung einer englischen Garnison die englischen Truppen getötet und ihre über 200 Frauen und Kinder erst verschleppt und dann umgebracht wurden. Für England war das der Anlass, umso unbarmherziger zurückzuschlagen.
Dieses Geschehen beschäftigte, wie andere Fotografien zeigen, Julia Margaret Cameron weit über den biografischen Anlass der nun in der Fotografie dargestellten doppelten Trauer um die Verwandten hinaus. Nicht zuletzt aufgrund ihrer eigenen Geschichte schaute Cameron, wie Rosen pointiert feststellt, „immer Richtung Osten“ und verfolgte ebenso beunruhigt wie intensiv das politische Geschehen in der für sie nahen Ferne. Einige ihrer Aufnahmen zeugen von den von ihr angenommenen und miteinander „verflochtenen Verpflichtungen gegenüber der Familie, der Nation und dem Imperium“. Konkret bedeutete das, dass sie Waisenkinder von gefallenen Soldaten aus ihrer weiteren Familie aufnahm, aber auch dass sie einige ihrer Aufnahmen bewusst mit einem neuen politischen Subtext versah und mitunter auch nach neuen Motiven suchte. Rosen bringt das auf die Formel eines „narrative history writing“ (8), das Cameron mittels ihrer Bilder umzusetzen sucht. Diese reagieren seismografisch auf die aktuelle politische Situation und übersetzen sie in Bilder, die Geschichten erzählen. So entstehen mittels der Fotografie Narrative. Und einige von ihnen müssen angesichts der aktuellen Ereignisse umgeschrieben werden. Auch vermeintlich zeitlose Bilder dienen, wie Rosen schlagend vor Augen führt, dazu “to narrate contemporary history“ (9). Oder noch einmal pointiert formuliert: „Photographic storytelling became Cameron’s mission“ (8).
Das „Rewriting“ bereits vorhandener Bilder, das Cameron mitunter praktizierte, geschah, wie Rosen überzeugend darlegt, zum einen Teil dadurch, dass sie in ihren Augen passende Bilder mit für Zeitgenossen vermutlich sprechenden Titeln versah, und zum anderen dadurch, dass sie andere überarbeitete und so neu kontextualisierte. Beides geschieht mitunter in einem Zug. Eines der zusammen mit Rejlander aufgenommen Fotos, das, scheinbar ohne jede politische Implikation, Frauen an einem Brunnen zeigt, erhält erst 1864 den Titel „Farewell“, der dann drei Jahre später noch einmal umbenannt wird und den heute enigmatischen „At the Well, A Farewell“ zugewiesen bekommt. Rosen bringt das in einen schlagenden Bezug mit einem Denkmal für die Opfer in Kanpur, dessen Entwürfe bei der Weltausstellung 1862 in London gezeigt wurden. Im öffentlichen Bewusstsein wurde das Massaker mit einem Brunnen („Well“) assoziiert, in das man die Leichen der ermordeten Kinder und Frauen geworfen hatte. Das vermeintlich idyllische Bild verwandelt sich so mittels des neuen Titels in eines der Trauer und des Gedenkens – so wie nun auch bei Tennysons „Idylls of the King“ ein politisch-heroischer Subtext lesbar wird, wenn man den Text im Zusammenhang des Kolonialismus liest. Julia Margaret Cameron verschlüsselte solche Anspielungen auf extrem subtile Weise. So wird etwa erst durch eine Kopfbedeckung, die seinerzeit Witwen trugen, eine porträtierte Frau als Witwe erkennbar und so der Titel, der auf Kriege verweist, als einer entzifferbar, der deutlich macht, dass es hier um Trauerarbeit geht. Die Wahrnehmung der vermeintlich idyllisch-pastoralen Szene als „Slaughterhouse Well“ (171) ist Teil einer imperial-kolonialen Bildpolitik: „The symbolic representation of British women and children as innocent victims helped the British empire comprehend the reprisals committed in its name as necessary to restore order in the colony” (172).
Rosen macht in seinem Buch auf ähnliche subtile Weise den kolonialen Subtext einer ganzen Reihe von Aufnahmen lesbar. Manchmal – wie bei Camerons Portraits des indischen „Ex-King of Oude by Right of Birth” von 1865 oder jenem von William Holman Hunt in einem Osterkostüm aus Jerusalem – ist der Bezug offenkundig; bei anderen ist er hingegen für heutige Betrachter:innen kaum zu erahnen. Das gilt etwa für die von Rosen vermuteten Bezugnahmen auf Tom Taylors Stück „A Sister’s Penance”, das zur rasch vorübergehenden Mode der “Mutinity Novels” zählte, oder vor allem für die Entwürfe für ein “Memorial Well” bzw. ein “Mutinity Memorial” an der Stelle des Massakers von Kanpur. Das Denkmal sollte dafür sorgen, „to establish the site of Cawnpore as sacred ground” (159). Es ging daher explizit nicht um ein militärisches Denkmal; Unschuld, Hilflosigkeit, Opfer waren die Themen. Rosen rekonstruiert filigran die Debatten, die, so seine überzeugende Argumentation, wohl auch im Hause der Camerons geführt wurden. Erst wurde 1858 in Kanpur ein Kreuz aufgestellt, das von einem Zaun umgeben war. Dieses war aber in den Augen der Öffentlichkeit ein – angesichts des schrecklichen Geschehens – deutlich zu kleines s Denkmal und sollte daher durch ein ungleich bedeutenderes Monument ersetzt werden. Die Ausschreibung, deren Entwürfe auch in der Öffentlichkeit breit diskutiert wurde, gewann schließlich Marochetti mit einem großen steinernen Engel. Ein 1865 von Samuel Bourne aufgenommenes Foto sorgte schließlich für die Verbreitung. Auch wenn mir dann die von Rosen vermutete motivische Nähe von Camerons Fotografien von Engeln, die in ihrem Werk in großer Zahl zu verzeichnen sind, zu jenem des Denkmals etwas spekulativ zu sein scheint, ist der von ihm rekonstruierte Resonanzraum gleichwohl plausibel. Hier ca. Abb. 1
Rosen verknüpft nun eine ganze Serie seiner Decodierungen solcher Hinweise in Gestalt einer subtilen Relektüre der Überarbeitung eines Albums. Dieses bündelt ihre fotografisch-koloniale Bildpolitik. Es handelt sich um das sogenannte „Herschel-Album“, das Julia Margaret Cameron ihrem Freund und, wie man nun erkennt, nicht nur fotografischen Mentor John Herschel übereignet hatte. Dieses erbittet sie nämlich von ihm drei Jahre, nachdem sie es ihm geschenkt hatte, zurück, um in es eine politische Neucodierung hineinzumontieren. In diesem Album ergänzt sie u.a. eine Seite, auf der sie nach dem Vorbild einer Gedenkstele der Renaissance drei aus dem ursprünglichen Kontext herausgeschnittene Bilder so präsentiert, dass diese als Gedenken an das Massaker von Kanpur ersichtlich werden. Herschel wird das überarbeitete Album deshalb vorgelegt, da dieser als Aufgabe des britischen Kolonialismus formuliert hatte, „die Einheimischen aufzuklären und zu erziehen, bis zu dem Punkt, dass sie befähigt und ermutigt werden, ihre Position als Regierte mit der unseren als Regierende zu vergleichen.“ Wer Augen hat zu sehen, der lese. Rosens Lektüren, die weit ausholen und eine Fülle von biografischen Details mit der viktorianischen Kultur-, Literatur- und Theatergeschichte, aber auch dem damaligen politischen Geschehen verzahnen, sind durchaus mäandernde, aber durchweg brillante Rekonstruktionen von Resonanzräumen, in denen sich die Bilder bewegen und die für uns heute ohne solch nachgerade detektivische Recherchen unlesbar blieben. Es ist ein großes Verdienst, den kolonialen Subtext von Camerons Fotografie auf solch subtile Weise weder lesbar gemacht zu haben.
Was aber leisten nun die umgearbeiteten und mit neuen Titeln versehenen Fotografien? Sie führen, so Rosen, die Möglichkeit vor Augen, die Lücke zwischen „der kolonialen Mission und dem repressiven Regime in Indien“ (S. 83), das auch Cameron erkennt, zu schließen. Diese Lücke machte der Aufstand offensichtlich und verwandelt nun die Überarbeitung des Albums zum Denkbild. Rosens Buch ist als Ganzes eine Art von close Reading des Herschel-Albums, dessen Verkauf an einen amerikanischen Bieter 1975 verhindert wurde. Es konnte dank der Unterstützung des Art Fund in England bleiben. Auf der Website heißt es stolz: “Art Fund supports the acquisition of photographic work for the first time, as the Herschel album by pioneering 19th-century photographer Julia Margaret Cameron joins the National Portrait Gallery's collection.”[1] Dass es nun zum nationalen Kulturgut geworden ist, macht die Rekonstruktion des kolonialen Subtextes umso wichtiger. Herschel wird, so Rosens Deutung der fotografischen Inszenierung des Albums, als „Paterfamilias“ (S. 212) inthronisiert, und irgendwie ist die Familie der Camerons und Herschels darüber hinaus ohnehin so etwas wie eine Synekdoche oder Metonymie jener vorgestellten und imaginierten Familiengemeinschaft des britischen Imperiums.
Im Herschel-Album findet sich nicht zuletzt auch der einzige überlieferte Abzug eines der berühmtesten und zugleich enigmatischsten Bilder von Cameron, das den Titel „Iago, Studie eines Italieners” trägt. Iago ist bekanntlich eine Figur aus Shakespeares Drama „Othello“. Was aber ist die politische Bedeutung von Iago für einen Betrachter des Jahres 1867? Iago repräsentiert als prototypischer Anti-Held, so die Lektüre von Rosen, eine besondere Art der kolonial-imperialen Macht: Er „sät Chaos, um die Ordnung wiederherzustellen.“ Das ist in nuce die letzte Volte des kolonialen Blicks, mit dem Julia Margaret Cameron ihre Fotografien neu codiert: Die Fotografien bilden ab, was sie politisch erhofft.
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[1] Online unter: https://www.artfund.org/our-purpose/news/art-fund-celebrates-120th-anniversary (letzter Zugriff am 16.12.2024).
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