Walter Delabar
Stückwerk?
Ein biografischer Versuch zu August Sander
Annette Deeken: August Sander. Eine Biografie, Dresden: Kunstblatt-Verlag, 2024, 397 S., 22 x 17 cm, 130 Abb. in Farbe und S/W, 29,95 Euro.
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 176, 2025
Der Fall August Sander ist bemerkenswert, und zwar deshalb, weil sein Werk zwar heute ikonografischen Status weit über die Fotografie als Kunstgattung hinaus gewonnen hat, Sander als Person jedoch bislang kaum in den Fokus gerückt ist, man viel mehr als seine Fotos eigentlich nicht kennt und bislang (faktisch) nicht kennen will. Anders als bei anderen Künstlerinnen und Künstlern des 20. Jahrhunderts, die mit August Sander gleichrangig sind, hat er kaum zu biografischen Arbeiten Anlass gegeben. Zentrale Quelle ist bis heute ein biografischer Aufsatz des Sohnes Gunther aus dem Jahr 1971 (erneut veröffentlicht 1976), der immer wieder ausgeschrieben wird, da er die Nähe zum biografischen Objekt für sich in Anspruch nehmen kann und zudem Lebensweltliches bis Anekdotisches zu bieten hat. Darüber hinaus gehende intensivere Bemühungen sind anscheinend nicht gestartet worden. Der Katalog August Sander. Linzer Jahre 1901–1909 (2005) ist davon nur bedingt als Ausnahme anzusehen, weil er im wesentlichen werkbiografisch vorgeht. Im Grunde ist die Biografie Sanders deshalb nur in Grundzügen bekannt, zumal die ungesicherten oder falschen Informationen abgezogen werden müssten.
Soviel Zurückhaltung in Sachen Biografie ist bemerkenswert. Dabei fand noch der Enkel Sanders, Gerd, – selber Fotograf und anscheinend ein rühriger Nachlassverwalter des Großvaters – den „Lebensweg“ des Altvorderen „interessant genug, erhalten zu bleiben“, so zitiert ihn wenigstens Annette Deeken zu Beginn ihrer August Sander-Biografie, die im Herbst 2024 erschienen ist. Und die, wie gleichweg vorab zu bemerken ist, einen Teil der noch offenen historiografischen Arbeit in Sachen August Sander leistet.
Deekens Arbeit ist ein Meilenstein in der Sander-Forschung und markiert zugleich vor allem den Startpunkt, von dem aus weitere Recherchen folgen müssten, gerade weil Deeken eine ganze Reihe der bislang unhinterfragt übernommenen Informationen zu Sanders Biografie kassieren muss, da sie einer Überprüfung nicht standhalten. Dennoch bleibt ein Vorbehalt.
Denn Annette Deeken hat zum einen anscheinend überaus viel investiert, um die kurrenten biografischen Stationen und Daten zu prüfen und zu ergänzen. Zum anderen aber hat sie nicht den Schritt zu einer konsistenten, sich entwickelnden biografischen Schilderung getan, sondern hat sich auf einzelne Lebensstationen, deren Kontext und auf Wegbegleiter fokussiert, insbesondere auf Auszubildende, Mitarbeiter/innen und Partner. Sander als Person wird deshalb nur skizzenhaft erkennbar, sein Leben geht in der Abfolge der Stationen fast unter. Soweit Fakten nicht weiterführen, verwehrt Deeken weitergehende Überlegungen, wenn nicht Spekulationen, was auf die Lücken, die sie – vielleicht zwingend – lässt, besonders hinweist.
In insgesamt neun Stationen gliedert Deeken ihre Arbeit, beginnend eben nicht mit der Kindheit, sondern mit den Jahren, in denen Sander seinen Militärdienst in Trier absolvierte und dort lebte (1897 bis 1901), es folgen die ersten Berufsjahre in Linz (1901 bis 1909), dann drei große Kapitel zur Kölner Zeit (1910 bis 1944) und der Abschluss in Kuchhausen (1944 bis 1963), wohin sich Sander während des Kriegs zurückgezogen hatte. Werkfotos Sanders finden sich im Band nicht, stattdessen wird auf deren Onlinepräsenz hingewiesen, Bildmaterial anderer Provenienz ist aber mitgegeben, womit man leben kann. Eine Bibliografie der Publikationen Sanders zu Lebzeiten sollte als Arbeitshilfe noch lange Wirkung haben, da hier auch und vor allem verstreute Pressedrucke seiner Fotografien zu finden sind.
Erkennbar wird daran, dass für Sander die Pressearbeit nicht im Vordergrund stand, sondern die Atelier-Fotografie. Sander gehörte zudem nicht zur Kunstboheme der 1920er Jahre, selbst wenn er in diesen Jahren in Kontakt mit der Avantgardekunst kam. Soll heißen: Beim Atelier August Sander in Köln-Lindenthal handelte es sich – aus heutiger Sicht – um einen ambitionierten Handwerksbetrieb, der vor allem von Auftrags- und sogenannten Gelegenheitsarbeiten lebte, von Fotografien, die aus Anlass von Hochzeiten, Geburten, Jubiläen und Todesfälle, aber auch auf den zahlreichen Fahrten gemacht wurden, bei denen Sander seine fotografischen Dienste anbot. Dass dabei außergewöhnliche Fotografien entstanden und er aus seiner Erwerbsarbeit ein spezifisches Konzept entwickelte, bleibt davon unberührt.
Die Biografie Sanders vor allem der frühen Jahre nicht zuletzt über die ausführliche Präsentation seines Umfeldes zu erzählen, wie dies Deeken vor allem zu Beginn der Biografie verfolgt, ist konzeptionell begründet – ein Hinweis Gerd Sanders, den Deeken zu Beginn ihrer Arbeit zitiert, weist wenigstens darauf hin. Allerdings ist zugleich offensichtlich, welche Lücken Deeken in Sanders Biografie hat lassen müssen. Im Kapitel über die Jahre in Trier, mit dem sie die Biografie eröffnet und das immerhin 90 Seiten umfasst, also fast ein Drittel des Textes, finden sich etwa auffallend wenige belegte biografische Daten und Informationen. Mit dem Wissen um den Eindruck, den die Jahre in Trier bei dem gerade 20 Jahre alt gewordenen Bergmann und späteren Fotografen gemacht haben sollen, arbeitet sich Deeken stattdessen intensiv an den Erfahrungen ab, die Sander in Trier gemacht haben könnte oder sollte. Sie schildert mögliche Kontaktleute, porträtiert Fotografen in Trier und kommt auf Ereignisse zu sprechen, die in diese Trierer Jahre fallen. Sie muss dabei aber immer wieder eingestehen, dass es nicht gesichert ist, ob Sander diese Ereignisse geteilt und all jene Fotografen, die in dieser Zeit in Trier tätig waren, gekannt hat.
Was auf den ersten Blick wie eine scharfe Kritik an Deekens Arbeit erscheinen mag, lässt sich auf den zweiten als ihre eigentliche Stärke kennzeichnen. Denn auch wenn sie nicht alles bestätigen kann, was gerade zu Sanders früher Zeit kolportiert worden ist, kann sie doch vor allem für diese biografischen Stationen mehr Klarheit schaffen. So kassiert sie die vorgebliche Tätigkeit Sanders im Atelier Georg Jung schon während der Militärzeit, also etwa von 1899 bis etwa 1901 – Gunther Sanders berichtet davon, wenngleich beiläufig. Die Kurzbiografien anderer Publikationen nehmen diesen Faden auf. Die Fakten, die zum angeblichen Eigentümer des Ateliers bekannt sind und die Deeken referiert, machen jedoch eine Anstellung Sanders nicht plausibel: Jung, der wie Sander 1876 geboren wurde, muss wohl gleichzeitig mit ihm nach Trier gekommen sein, um dort gleichfalls den Militärdienst zu leisten, heiratetet eine Ortsansässige (wie später Sander) und ließ sich vorläufig in Trier nieder, mit wechselnden Tätigkeiten. Das Unternehmen Jungs wird wohl, ist Deekens Bericht zu entnehmen, auf den Weg gebracht worden sein, und das unter Mitarbeiter August Sanders. Immerhin kennt Deeken zwei Fotopostkarten mit Motiven aus dem Geburtsort Sanders, die den Stempel Jungs tragen. Über Anfänge wird das alles aber nicht hinausgekommen sein. Die Fotografie, die 1971 in von Gunther Sander im Zusammenhang seiner Biografie des Vaters publiziert wurde und die eine „Photographische Kunstanstalt von Georg Jung“ zeigt, hält Deeken für eine Fotomontage.
Auch hält Deeken es für wenig wahrscheinlich, dass Sander im Anschluss an seine Militärzeit, die 1899 endete, bis 1901 auf Wanderschaft durch Deutschland gegangen sei, da es ihm mit den geringen Mitteln, die er besaß, wohl nicht möglich gewesen sein dürfe, seine Mietwohnung in Trier über den gesamten Zeitraum zu finanzieren. Sie nimmt stattdessen an, dass Sander in dieser Zeit gelegentlich als Bergmann gearbeitet habe, um seinen Lebensunterhalt zu sichern. Hinweis darauf ist, dass Sander zeitweise seinen Geburtsort Herdorf als Postadresse für seine Braut angibt. Auch die nachfolgenden Lehr- und Wanderjahre, die er auf den Stationen „Magdeburg, Halle, Leipzig, Dresden und Berlin“ – so erneut Gunther Sander – absolviert haben soll, kann sie nicht bestätigen. Sander selbst habe, so Deeken, lediglich die Stationen „Hagen, Chemnitz, Dresden“ angegeben, was sie mit den Meldedaten belegen kann.
Deeken hinterfragt auch die Linzer Jahre Sanders, die als erste erfolgreiche Station des Fotografen gelten. Fakt ist wohl, dass Sander im Jahre 1901 nach Linz ging, zuerst als Angestellter, dann als Eigentümer eines Fotostudios Greif. Seine Frau folgte ihm nach der Eheschließung Ende 1902, die beiden Söhne sind in Linz geboren. Allerdings sind die Umstände, die zu der Anstellung Sanders geführt haben, durchaus ungeklärt, denn die „Photographische Kunstanstalt Greif“ wurde, so Deeken, anscheinend mit der Ankunft Sanders überhaupt erst gegründet. Ihr Eigentümer, ein gewisser Karl Pochlatko (und nicht Helmut Gruber, wie Gunther Sander berichtet), war nicht einmal Fotograf, sondern, so Deeken, in Oberösterreich als Agitator und Publizist der Alldeutschen, deutsch-nationalen und völkischen Bewegung der Jahrhundertwende aktiv. Sein Studio teilte sich mit der Druckerei des „Deutschen Michel“, einer der zahlreichen alldeutschen Publikationen, die Adresse. Sander inserierte in den folgenden Jahren intensiv gerade in einschlägigen Blättern, was Vermutungen über seine frühen politischen Haltungen zuließe, wenn denn kein halbwegs bedingungsloser (und unideologischer) Opportunismus hinter der Nähe des jungen Sander zu den Alldeutschen steht.
Rätselhaft ist auch das überraschende Angebot an Sander, das Fotoatelier Greif bereits nach kurzer Zeit für den stattlichen Preis von 20.000 Kronen (was etwas mehr als 170.000 Euro entspricht, wie dem historischen Währungsumrechner der Österreichischen Nationalbank zu entnehmen ist) zu übernehmen. Der Verkauf gelingt, was misstrauisch macht, denn immerhin handelt es sich bei Sander zu diesem Zeitpunkt um einen fast mittellosen Berufsanfänger, der also mit wenig mehr als seinem Können bürgen konnte. Dass Sander, wie auch Deeken berichtet, einen Makler hätte bewegen können, die Hälfte des Kaufbetrags auszuzahlen und die andere für ein Jahr stunden zu lassen, ist wenig wahrscheinlich – oder wäre sehr teuer gewesen angesichts der erkennbaren Sicherheiten, die Sander bieten konnte, nämlich keine. Ob der spätere Kompagnon Hans Stukenberg, der als Fotograf nicht weiter auftrat, solche Sicherheiten beibringen konnte, ist fraglich. 1904 soll Stukenberg, so Gunther Sander, wieder ausgeschieden sein. Außerdem kann Sanders Ehefrau, Anna, die Bücher des Ateliers kaum geprüft haben (wie Gunther Sander berichtet), denn der Kauf des Ateliers wurde im Mai 1902 angezeigt, die Hochzeit zwischen August Sander und Anna Seitenmacher fand erst im September des Jahres statt. Anna Seitenmacher befand sich demnach aller Wahrscheinlichkeit im Frühjahr des Jahres noch im heimischen Trier. Eine eigenständige Reise der jungen Frau zum Bräutigam ist zumindest in einer Zeit, in der schon allein durch die Stadt promenierende Frauen als Prostituierte gelten konnten, kaum anzunehmen. Vermutlich musste Sander für die Zustimmung des Vaters der Braut ein Gewerbe vorweisen, was ihm ja erst im Frühjahr 1902 gelungen war.
Deeken bestätigt nun, dass Sanders Atelier in den folgenden Jahren einigermaßen erfolgreich gewesen sei. Er scheint sich intensiv mit der Entwicklung eines professionell auftretenden Fotoateliers beschäftigt zu haben. Die Autorin weist darauf hin, dass Sander sogar mit der neu entwickelten Farbfotografie experimentiert und mit seinen Kompetenzen geworben hat (zwei Beispiele finden sich im Linzer Katalog). Sander also als einer der Pioniere der Farbfotografie? Gunter Sander erwähnt das Interesse des Vaters nicht einmal, was viele Gründe haben kann.
So rätselhaft Sanders Entree in Linz, so ungeklärt ist sein Abschied: Gerade unter dem Aspekt, dass sich Sander in Linz etabliert hatte und mit seinen Arbeiten seine neu gegründete Familie ernährte, ist es rätselhaft, warum er seine halbwegs sichere Existenz aufgab und ins Deutsche Reich zurückging. Die zahlreichen Kleinanzeigen Sanders, die Deeken recherchiert hat, in denen er unter anderem Gehilfen gesucht habe, weisen jedenfalls darauf hin, dass Sander einiges zu tun hatte. Hinzu kommen die zahlreichen Auszeichnungen, die Sander für das Atelier verbuchen konnte. Warum also recht unvermittelt aufgeben, was man sich in den Jahren seit 1901 aufgebaut hatte? Die ökonomischen Zwänge werden mit den Jahren nicht kleiner geworden sein (immerhin war jetzt eine vierköpfige Familie zu ernähren), mit Anfang 30 einen laufenden Betrieb trotz der finanziellen Zwänge aufzugeben, wirkt wenig nahchvollziehbar.
August Sander selbst begründete den Umzug, so Deeken, damit, dass er wieder zurück nach Deutschland gewollt habe. Gunther Sander sieht den Grund für den Wegzug in einer in Oberösterreich grassierenden Polio-Seuche jener Jahre. Deeken hält dagegen, dass es Polio-Erkrankungen zu jener Zeit auch in Deutschland in den Gegenden gegeben habe, in die Sander anschließend gezogen sei. Sie vermutet stattdessen, dass Sander, wäre er länger in Österreich geblieben, die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen worden wäre. Bleibt die Frage, ob dieser Grund als ausreichend angesehen werden kann.
Fakt ist allerdings, dass Sander Linz verließ: Er hat wohl seinen Betrieb in Linz an einen gewissen Karl Steinparzer veräußern können, der in den Anfangsjahren sogar noch auf Sander als früheren Eigentümer verwies, wie dem Katalog August Sander. Linzer Jahre 1901–1909 (2005) zu entnehmen ist. Merkwürdig bleibt jedoch, dass Sander bei seiner Rückkehr nach Deutschand, so Gunther Sander, eine Restschuld in Höhe von 3.000 Kronen (was etwas mehr als 22.000 Euro entspricht) aus dem Kauf zu bewältigen gehabt habe. Dass er aus dem Verkauf einer erfolgreichen Firma (die als Startup ohne erheblichen Kundenstamm ein Vielfaches gekostet haben soll) nicht einmal seine Schulden hat tilgen können, klingt nicht wahrscheinlich. Deeken spricht deshalb wohl und mit Grund nur von Steinparzer als Nachfolger, nicht als Käufer.
Wie Sander die erste Kölner Zeit ökonomisch überstanden hat, bleibt ein wenig zu unklar. Er hat sich jedoch zweifellos – nach einer möglicherweise kurzen Zeit bei einem Kölner Atelier Blumberg und Herrmann, die mit dem Tod Emil Blumbergs im Dezember 1910 abrupt endete – in Köln als Fotograf etablieren und ein neues Atelier eröffnen können. Eintragen ließ er sich im Kölner Adressbuch im Jahre 1911 jedoch nicht als Fotograf, sondern als „Kunstmaler und Photograph“, was die Engführung von Malerei und Fotografie gerade in der frühen Geschichte der Fotografie, und erst recht im Werk Sanders erkennen lässt. Das geht über die Bedeutung der Retusche hinaus, die in der Fotografie gängige Praxis war und ist. Deeken weist auf die lange Parallelführung beider Kompetenzen bei Sander hin, mit einer denkwürdigen Episode: Eines der ersten Werke Sanders ist keine Fotografie, sondern die Übermalung einer Fotografie eines Grubenkameraden, das dieser in Kiel während seiner Dienstzeit hatte aufnehmen lassen. Sander habe die Fotografie auf ein Format von 40 x 60 cm gezogen, koloriert und – als eigenes Werk gezeichnet, was entweder darauf zurückgeht, dass er die Malerei als der Fotografie überlegen angesehen hat oder dass er einen eher laxen Umgang mit Sachen geistigen Eigentums gepflegt hat. Was auch für andere Werke kolportiert wird, die unter Sanders Namen geführt werden.
Der Kontakt mit der Künstlergruppe Kölner Progressive, die ihm politisch und ästhetisch zu diesem Zeitpunkt eher fremd ist, kommt in den 1920er Jahren zustande. Sander scheint freilich zu diesem Zeitpunkt politisch eher konservativ und (als Aufsteiger aus der Arbeiterklasse) sozial eher bürgerlich orientiert gewesen zu sein (Gesangsverein!), sich aber später anderen Denkwelten und sozialen Bereichen (wieder) geöffnet zu haben. Mit den bekannten Ergebnissen, zu denen nicht zuletzt Sanders wohl bis heute wichtigste Publikation Antlitz der Zeit von 1929 gehört, die sich einerseits durch den Verlag (Kurt Wolff) und den Verfasser der Einleitung (Alfred Döblin) entschieden der Moderne zuordnete. Im Projekt einer fotografischen Dokumentation der sozialen Typologie der deutschen Bevölkerung lässt sich mit gutem Grund auch der Restbestand einer im Grundsatz konservativen Weltanschauung entdecken.
Auffallend ist schließlich die Entscheidung Deekens, auf Sanders Antlitz der Zeit nur am Rande zu sprechen zu kommen. Das Konzept zum Gesamtprojekt soll Sander in den frühen 1920er Jahren entwickelt haben. Dessen Ursprung liegt allem Anschein nach in den Fahrten Sanders in Westerwald, zu denen sich Sander entschlossen habe, da das Kölner Atelier anfangs mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, so Gunther Sander in der Vita des Vaters. Bei Deeken wird diese Initiative eher beiläufig erwähnt, was angesichts der offensichtlichen Bedeutung dieser Fahrten auffallend ist. Auch die Kontakte mit den modernen Kölner Malern werden angesprochen, aber nicht auf das spätere Projekt projiziert, sondern vor allem referiert. Das betrifft auch die Ausstellungsprojekte, von denen die Werkbundausstellung 1914 und die Kölner „Pressa“ aus dem Jahr 1928, die Kurt Wolff auf Sander aufmerksam gemacht habe, die bedeutendsten sind. Denn sie haben Sanders Karriere nicht nur befördert, sondern ihn auch in das Umfeld der modernen Kunst gebracht, in das er bis heute gehört. Für eine Biografie werden diese Abschnitte aber nicht wirklich fruchtbar gemacht. Sie erscheinen als lose, fast beliebige aneinander gereihter Facetten eines gelebten Lebens des frühen 20. Jahrhunderts.
Diese Lücke wird allerdings durch ein gesondertes Kapitel („Menschen vor der Kamera“) wenigstens teilweise kompensiert, in dem Deeken das berühmte Fotobuch Sanders vorstellt, soll heißen, in dem sie auf einzelne Fotografien des Bandes zu sprechen kommt. Allerdings bettet sie sie ebenso wenig in das Fotokonzept Sanders wie in die Biografie ein, sondern präsentiert ein Potpourri verschiedener Tafeln des Bandes und weiterführender Geschichten. Die Fragen, die sie stellt, gehen darauf hinaus, etwa ob die Fotografien in der Tat an den Orten gemacht worden sind, auf die sie verweisen, ob die Angaben, die den Fotos beigeben sind, korrekt sind und was jeweils auf den Abgebildeten geworden ist. Ohne die Arbeit Deekens schmälern zu wollen, ist dieses Konzept zumindest befremdlich, nicht zuletzt, weil es Auswirkungen in diesem Fall auf die Darstellung der Werkbiografie hat.
Deeken weist darauf hin, dass Sander etwa 20 der 60 Aufnahmen, die in Antlitz der Zeit aufgenommen wurde, im direkten Vorfeld der Publikation fotografiert hatte. Gelegenheit oder nur Vollzug eines größeren Plans? Außerdem hebt sie Sanders Umgang mit dem Material hervor, das nicht immer jenen Grad an Authentizität aufweist, das man ihm zuweist. Dass die Porträtierten sich in vielen Fällen für die Fotos haben herrichten lassen, um präsentabel zu sein, gehört wohl zu den Rahmenbedingungen der Alltagsfotografie der 1920er Jahre. Dass sich etwa die repräsentativ aufgestellten „Kleinstadtbürger, Monschauer“, die auf Tafel 12 von Antlitz der Zeit zu finden sind, im Garten des Kölner Ateliers haben fotografieren lassen, mag eine Petitesse sein, aber Deeken teilt sie mit. Die drei Jungbauern, die Sander 1914 fotografiert hat, sind allerdings keine Jungbauern, sondern zwei Bergleute und ein Büroangestellter. Warum Deeken die Recherche zu dieser Fotografe, die Reinhard Papst 2014 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung publiziert hat, nicht referiert, sondern den Zeitungstext Pabsts mit einer beiläufigen Einleitung vollständig abdruckt, erschließt sich nicht.
Zu den merkwürdigen Entscheidungen Deekens gehört auch, dass sie für die Jahre 1941 bis 1944 die Erinnerungen von Renate Besgen, die in diesen Jahren im Atelier Sander lernte, arbeitete und bei der Familie lebte, nicht auswertete, sondern sie – versehen mit kleinen Übergängen und mit einigen Kürzungen – ungefiltert abdruckt. Das mag eine größere Unmittelbarkeit signalisieren, verstärkt jedoch den Eindruck, dass Deeken eine thesenhaft zugespitzte biografische Skizze verweigert. Dabei gehört die reflektierte Auswertung von Quellen zum Handwerk von Biografen.
Dieses Verfahren passt jedoch zu dem generellen Eindruck der Biografie, die episodisch, fast die Narration verweigernd und im Ganzen recht distanziert vorgeht. Methodisch bewegt sich Deeken damit vielleicht sogar auf der sicheren Seite, weil sie unangemessene, weil spekulative narrative Zuspitzungen, Ableitungen und Übergänge vermeidet. Soviel Understatement ist selten, dennoch bleibt ein Defizit, das allerdings Anlass für eine theoretische oder methodische Reflexion über die Aufgaben, Ziele, aber auch Grenzen von Biografien sein kann.
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