
Anton Holzer
Das Foto als Amulett
Bilder und Texte aus dem Krieg
Katja Petrowskaja: Als wäre es vorbei. Texte aus dem Krieg, Berlin: Suhrkamp Verlag, 2025, 220 S., zahlreiche Abb. in Farbe und S/W, gebunden mit Schutzumschlag, 25 Euro.
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 176, 2025
„Ich wollte dieses Buch nicht schreiben.“ Mit diesem denkwürdigen Satz beginnt Katja Petrowskaja ihr Nachdenken über das Schreiben und das Bildermachen im Krieg. Das Buch kam dennoch zustande. Und die Autorin räumt ein, dass sie, trotz ihrer ursprünglichen Weigerungshaltung, letztlich zweieinhalb Jahre lang über nichts anders geschrieben hat als über den Krieg. Ein Krieg, der ihrem Herkunftsland, der Ukraine, ihrer Heimatstadt, Kiew, und ihr selbst aufgezwungen worden war.
Als wäre es vorbei. Texte aus dem Krieg ist nach dem Vorgängerband Das Foto schaute mich an aus dem Jahr 2022 eine weitere Sammlung von eindrucksvollen Foto-Texten, die die Autorin ursprünglich im Dreiwochenrhythmus in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung veröffentlicht hat und die danach gesammelt im Suhrkamp Verlag erschienen sind. Ihren allerersten Foto-Text hatte Petrowskaja im Juni 2015 unter dem Eindruck des ersten beginnenden Krieges in der Ostukraine begonnen. Damals war noch nicht abzusehen, dass wenige Jahre später, 2022, ein noch viel brutalerer Krieg über das Land hereinbrechen würde.
Das Foto schaute mich an sei, so schrieb die Autorin im Nachwort ihres ersten Buches, kein Buch über den Krieg, aber, „es wird vom Krieg umklammert.“ Das neue Buch Als wäre es vorbei hingegen ist vom Krieg nicht nur „umklammert“, sondern es ist fast ausschließlich vom Grauen des Krieges diktiert. Der erste Text des neuen Buches erschien im März 2022, wenige Tage, bevor der russische Großangriff begann, der – vorläufig – letzte Ende Oktober 2024. Tonfall und Duktus haben sich gegenüber dem Jahr 2022 geändert. Zorn und Empörung, Trauer und Schmerz führen nun die Feder. Der häufig poetische, gelassene, studierende Blick, der sich auf viele Fotografien des ersten Buches gerichtet hatte, ist, wie könnte es anders sein, heftigeren Emotionen gewichen. Der Terror und das Trauma des Krieges, die nicht nur die Ukraine, sondern auch die Nachbar- und Anrainerstaaten und letztlich große Teile der Welt erfasst haben, geht der Autorin nahe. Sie ringt mit den Worten, versucht Bilder zu suchen, die inmitten der Zerstörung noch etwas über den Schmerz des Krieges aussagen können.
In Das Foto schaute mich an hatte Petrowskaja oft große assoziative Bögen geschlagen. Wiederholt war sie anhand eines einzelnen Bildes gedanklich in die Orte ihrer Herkunft zurückgekehrt. Familienerinnerungen blitzen auf, Geschichten von Verwandtschaft, Freundschaft, Abschiede, Neuanfänge, Tod. In manchen Fotografien, die die Autorin beschrieb, hat die Geschichte des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, wenn auch oft erst auf den zweiten Blick wahrnehmbar, Spuren hinterlassen: von Kommunismus und Kriegen, von politischen Zäsuren und Neuanfängen. Auch die Flüchtlingsströme nach 2015 kamen vor, die Pariser Attentate, und zuletzt die Pandemie. Auch wenn Stalin und Putin, Aleppo und Maidan in den Reflexionen namentlich genannt werden, war das Buch keineswegs ein Journal der turbulenten Weltereignisse im Spiegel von Bildern. Im Gegenteil: Katja Petrowskaja hat sich von den Fotografien ergreifen und treiben lassen. Ein aufleuchtendes Detail ließ sie hie und da innehalten, manchmal folgte sie einem Blick, registrierte eine Pose, ein Lächeln, sie sah eine Frisur, die ihr ins Auge stach. In sinnlicher, poetischer Sprache brachte sie die Bilder zum Sprechen.
Ganz anders der neue Band. Die Autorin ist von den Ereignissen, die sich vor ihren Augen überschlagen, sichtlich überwältigt. Atemlos, ungläubig, oft niedergeschlagen und dann wieder verzweifelt-kämpferisch stellt sie sich schreibend den immer neuen Kriegsbotschaften entgegen, den Nachrichten, die die Zeitungen und Fernsehen, vor allem aber sozialen Netzwerke und die Freunde an sie herantragen. Gewissheiten haben sich aufgelöst, auch im Umgang mit den Bildern. Was darf man überhaupt zeigen, was können Fotografien darstellen? Diesen Fragen geht sie immer wieder nach. In den Fotografien aus dem Krieg, die die Autorin im Buch zeigt und beschreibt (und noch öfter nur erwähnt und andeutet), vollzieht sie eine heikle Gratwanderung zwischen der weiteren Entfachung der Gewalt im Echo der Bilder und ihrer Kritik bzw. Eindämmung. Immer wieder betont Petrowskaja, sie könne bestimmte drastische Bilder des Krieges, die ihr die sozialen Medien in die Timeline von Facebook und Instagram gespült haben, nicht zeigen. „Solche Fotos habe ich jeden Tag in den sozialen Medien gesehen, doch ich fühle mich nicht berechtigt, die Leser damit zu konfrontieren. Ich entschied mich gegen die Fotos der Zerstörung und Vernichtung, die in den Medien zirkulieren, um einen privaten Blick zu bewahren und mich dem ‚Kriegskonsum‘ zu widersetzen.“ Das bedeutet: keine toten Soldaten, keine verstümmelten Körper, keine Leichen von Zivilisten. Stattdessen wählt sie oft kleine, auf den ersten Blick unscheinbare Ausschnitte: die Tränen einer alten Frau, die Augen eines Soldaten, das Bild eines geretteten Hundes, eine Umarmung, ein zerschossenes Straßenschild, eine Reihe von Gräbern. Und dazwischen immer wieder eigene Aufnahmen, die sie mit ihrer Handykamera auf ihre Reisen oder vom Fenster ihrer Wohnung in Berlin aus macht.
Petrowskaja stellt der unerbittlichen Härte des Krieges und seiner Zerstörungswut keine Gewissheit in Bildern gegenüber. Ihre Haltung in den Texten ist nicht etwa nicht distanziert, abwägend, analytisch. Es ist ihr keineswegs ein Anliegen, die propagandistische Wirkung der Fotografie zu erkunden, eine umfassende Medienkritik zu üben. Stattdessen macht sie etwas viel Wichtigeres: Sie lässt die Bilder selbst zu Wort kommen. Sie schaut sehr genau hin, sie nimmt das Vorher und Nachher einer Aufnahme in den Blick, sie recherchiert, befragt Bekannte und Freunde, oft kontaktiert sie auch Fotografinnen und Fotografen, um mehr über die Hintergründe einer Szene herauszufinden. Immer aber tritt sie selbst in einen Dialog mit den Bildern ein, sie legt ihre Gedanken und Emotionen offen, sie schafft Raum für persönliche Assoziationen. Auf diese Weise werden die Fotos, die sie umkreist, nicht etwa zu nüchtern-kühlen Beweisstücken für eine vorbestimmte „Wahrheit“. Das Schreiben der Autorin umgarnt die Bilder, es webt sie ein in neue assoziative Zusammenhänge, es ist dies ein Prozess, der den Krieg zwar nicht verständlicher und erträglicher machen kann, der aber imstande ist, die eine oder andere Facette des Grauens zu erhellen.
Die Autorin nähert sich den Fotografien, die sie betrachtet, zögernd, mit einer gewissen Befangenheit. Das betrifft die Frage, was genau bestimmte Bilder zeigen aber auch die noch viel wichtigere Frage, ob denn einzelne Bilder überhaupt imstande, irgendetwas Sinnvolles über das Grauen des Krieges auszusagen. Die Autorin erwähnt (und zeigt nicht) ein Foto, das einen Sechsjährigen vor dem Sarg seiner älteren Schwester darstellt. „Kinder begraben Kinder“ lautete die Schlagzeile. „Die Fotos sind schockierend und reichen doch nicht hin, Schärfe und Ausmaß dieses Albtraums darzustellen. Und was bedeutet hier überhaupt Darstellung?“ Antwort auf diese Frage gibt sie keine.
Katja Petrowskaja ist eine skeptische Zeitgenossin, der Krieg hat diese Skepsis noch weiter verstärkt. Trost bietet die neue Textsammlung nur wenig. Als wäre es vorbei entwickelt einen unheimlichen Sog, man fühlt sich in den Krieg hineingezogen – und dennoch schafft diese Reflexion über Bilder auch ein wenig Distanz, zumindest zeitweise. Zu den spannendsten Passagen des Buches gehören jene Abschnitte, in denen sie sich mit den Möglichkeiten und Begrenzungen des Mediums Fotografie im Umgang mit den Ereignissen des Krieges beschäftigt. „Es fällt mir schwer“, schreibt sie an einer Stelle, „über den Krieg zu reden, denn es schmerzt. Es gibt kein Bild, das die akkumulierten Schmerzen des Krieges darstellen kann, wir sehen immer nur einen Teil der Wunde.“ Offenbar gilt in den Augen der Autorin aber auch das Gegenteil. Es fällt ihr nicht leicht, über der Krieg zu schweigen, die Bilder, auch wenn sie nur einen winzigen Ausschnitt zeigen können, nicht zu zeigen. Fotografien sind, so erfahren wir in diesem Band immer wieder, nicht nur Fenster hinaus in die Schrecklichkeit des Krieges, sondern auch Amulette, Mechanismen des Schutzes und der Abschirmung. „Heute kommt es mir so vor, als hätte ich die Bilder, die ich zeige, ausgewählt, um andere Bilder zu unterdrücken, so wie man das Schluchzen oder Weinen in sich unterdrückt.“
Gibt es Hoffnung in diesem Buch? Nicht viel. Und dennoch weigert sich die Autorin, sich in ihrem Schreiben und Nachdenken vollständig dem Diktat des Krieges zu beugen. Bei einem Besuch in Kiew hat sie drei Bäume an einem Fluss fotografiert, ein idyllisch anmutendes Bild inmitten des Krieges. Daheim in Berlin richtet sie ihre Handykamera immer wieder auf die Wolkenformationen über der Stadt. „Ich ging zum Fenster und fotografierte. Es war fast hell und sehr schön. Ich will das Wort ‚schön‘ nicht auslassen. Ich schaute auf graue und rosafarbene zerrissene Wolken und versuchte, die Explosionen mit ihren in Einklang zu bringen.“ Und auch der Titel der Bild-Text-Sammlung, „Als wäre es vorbei“, wendet sich auf den ersten Blick vom Krieg ab. Kein Kriegsbild eröffnet diesen Text, sondern ein schöner Regenbogen, der sich vor dem Berliner Fenster der Autorin auftut. „Der Krieg, die Trauer, die Müdigkeit traten kurz zur Seite angesichts dieses Gewölbes über unserem Kiez, als wären wir damit akzeptiert, gesegnet und gekrönt, auch ich, die Besitzerin des Fotos, persönlich. Ein kurzer Moment, in dem es scheint, als sei der Sturm vorbei und nun werde alles gut.“
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